Wie Kinder Streit am besten ohne Eltern lösen

Wir alle wollen das Beste für unsere Kinder. Doch wenn wir sie überbehüten und ihnen zu viel abnehmen, schwächen wir ihr Selbstwertgefühl und vermindern ihr Erleben von Selbstwirksamkeit. Höchste Zeit, damit aufzuhören!
Folgende Geschichte ist mir zu Ohren gekommen: Zwei Kinder aus der gleichen Schulklasse lösten über Wochen gemeinsam Rätsel. Die beiden versuchten sich an immer kniffligeren Aufgaben und knobelten, was das Zeug hielt. In ihrer Begeisterung wetteiferten sie so lange, bis es zum Streit kam. Anfänglich war es bloss eine Meinungsverschiedenheit bezüglich der vielversprechendsten Strategie. Weil aber beide auf ihrer Position beharrten und begannen, sich gegenseitig Vorwürfe zu machen, kippte die Stimmung.
Dies rief unweigerlich die Lehrerin auf den Plan. Doch noch bevor sie eingreifen konnte, fiel eine wüste Beleidigung zwischen den beiden Streithähnen, worauf das gekränkte Kind schrie: «Ich berichte alles meinem Mami. Sie wird in den Elternchat schreiben und dann können die Erwachsenen unser Problem lösen.»
Weshalb erzähle ich Ihnen das? Erst kürzlich veröffentlichte Psychologieprofessor Peter Gray vom Boston College in einem renommierten Wissenschaftsjournal einen Artikel, der ein heftiges Medienecho auslöste. Die psychologischen Störungen und Suizide im Kindes- und Jugendalter, die beide seit Jahren markant zunehmen, stünden viel mehr mit der elterlichen Überbehütung im Zusammenhang als mit den Auswirkungen von Corona oder der aktuellen Weltlage.
Das Problem mit den Helikoptereltern
Peter Gray bezieht sich bei seiner Forschung auf den (amerikanischen) Erziehungsstil der «Helikoptereltern», bei dem Mütter und Väter in einer Mischung aus Intensivbetreuung und Kontrolle um ihre Kinder schwirren. Angetrieben von der Angst, dass dem eigenen Nachwuchs der Sprung in die höhere Bildung verwehrt bleibt, sind Eltern aus allen gesellschaftlichen Schichten von der Idee der Frühförderung besessen.
Kinder unbeaufsichtigt zu Hause, im Innenhof oder auf dem Quartierspielplatz spielen zu lassen – undenkbar. Langeweile als Quelle der Kreativität kommt einem Schreckensszenario gleich. Aber die meisten Kinder haben ohnehin keine Zeit zum Spielen. Direkt nach der Schule erwartet sie der Schwimmunterricht, das Kung-Fu, der Geigenunterricht und die Nachhilfestunde.
Wir sollten uns selbstkritisch fragen: Vertrauen wir in die Fähigkeiten unserer Kinder? Muten wir ihnen genug zu?
Unser Verhalten gegenüber unseren Kindern ist seit Jahrzehnten geprägt von Überbehütung und dem Bestreben, dass dem Nachwuchs nur das Beste zuteilwird. Dazu kommt der gesellschaftliche Druck der «perfekten Familie» und ein mancherorts schlechtes Gewissen, weil Beruf und weitere Verpflichtungen die effektive Zeit mit dem Kind zu einem raren und umso kostbareren Gut werden lassen. Und bestimmt trägt auch dazu bei, dass wir es schwer ertragen, wenn das eigene Kind strauchelt, eine Niederlage hinnehmen muss oder sich ängstigt.
So überrascht es nicht, dass Eltern oft unbewusst zu Mitteln der emotionalen Verwöhnung greifen und den Lehrbetrieb für die Schnupperlehre gleich selbst anrufen, statt den 14-jährigen Sohn dazu zu bewegen. Damit erweisen sie ihrem eigenen Nachwuchs allerdings einen Bärendienst, denn für viele Unternehmen ist es ein Killerkriterium, wenn sich die Jugendlichen nicht selber melden, sondern sich durch die Eltern am Telefon vertreten lassen.
Strategien und Fertigkeiten lehren
Wir sollten uns also an der eigenen Nase nehmen und selbstkritisch hinterfragen: Vertrauen wir auf die Fähigkeiten unserer Kinder? Muten wir ihnen genug zu? Machen wir uns die Mühe, ihnen die notwendigen Strategien und Fertigkeiten beizubringen, statt es kurzerhand selbst für sie zu erledigen?
Befähigen wir also unsere Kinder, indem wir mit ihnen üben, ihren Wunsch für die Schnupperlehre zu formulieren. Respektieren wir sie in ihrer Entscheidung, die Benotung zuerst selbst mit der Lehrperson zu besprechen, bevor wir dieser die nächste E-Mail schreiben. Ermutigen wir sie, es nochmals zu versuchen, wenn es nach dem Streit mit dem Gspänli mit dem Friedenschliessen nicht auf Anhieb klappt. Konflikte gehören zum Leben.
Die Schule gibt den Kindern Instrumente in die Hand, mit denen sie Konflikte lösen und Gewalt verhindern können.
Es wäre fatal, wenn wir aus lauter Sorge vor Mobbing beginnen würden, Schutzzonen auf Pausenplätzen zu definieren, auf denen kein Kind Gewalt erfahren darf. Und genauso kontraproduktiv ist es, wenn wir Erwachsenen die Konfliktlösung stellvertretend für die Kinder in den eingerichteten Chats angehen.
Streit selbst zu bewältigen, macht stolz
Einmal mehr heisst das Zauberwort: Selbstwirksamkeit. Und hier kommt die Schule ins Spiel. Sie trägt mit ihrer Kultur und ihren Instrumenten für Konfliktlösestrategien und Gewaltprävention entscheidend dazu bei, dass Kinder Selbstwirksamkeit erleben. Dank engagierten Elternmitwirkungsgremien arbeitet die Schule dabei oftmals eng mit den Eltern zusammen.
Die Lehrerin im zu Beginn beschriebenen Zwist erreichte im ausführlichen Gespräch mit den beiden Kindern, dass sich diese nochmals selbst mit den verbalen Grenzüberschreitungen auseinandersetzten. Mittels Social Stories und Comic-Strip-Gesprächen zeichneten sie auf, was sich zugetragen hatte. Bei diesen vor allem für autistische Kinder entwickelten Methoden laufen Gespräche wie gewöhnliche Unterhaltungen ab, nur dass man nebenher gleichzeitig zeichnet.
Die einfachen Zeichnungen holten die Gefühle der Kinder ab. Sie erfuhren voneinander, wie es dem anderen geht, und realisierten von selbst, dass die Idee mit dem Elternchat nicht zielführend ist. Wie um alles in der Welt hätten die Eltern diesen umfassenden Blick auf die Gesamtsituation erhalten können?
Also entschieden sie, den Konflikt selbst zu beenden. Zu Hause schrieben sie sich gegenseitig einen Brief, welchen sie aus lauter Stolz über ihre Leistung am Folgetag der Lehrerin zeigten. Die Eltern erfuhren nichts. Einzig der jüngere Bruder wurde eingeweiht.