«Wir können nur unser eigenes Verhalten kontrollieren» - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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«Wir können nur unser eigenes Verhalten kontrollieren»

Lesedauer: 5 Minuten

Eine Mutter meldet sich beim Elternnotruf. Sie hat ein schlechtes Gewissen, weil sie ihre vierjährige Tochter in schwierigen Momenten anschreit und ihr droht. Die Elternberaterin versucht im Gespräch mit der Mutter herauszufinden, was ihr helfen könnte, sich gelassener zu verhalten.

Aufgezeichnet von Martina Schmid
Bild: Adobe Stock

Das Wichtigste in Kürze

  • Wir können andere nicht ­kontrollieren, sondern einzig uns selbst und unsere Handlungen.
  • Unterscheiden Sie Ihre ­Bedürfnisse und die Bedürfnisse Ihres Kindes.
  • Formulieren Sie Ziele, die Sie selbst erreichen können.
  • Überlegen Sie sich, was Sie anstelle vom unerwünschten ­Verhalten ausprobieren möchten, anstatt sich vorzunehmen, mit etwas aufzuhören.

Mutter: «Ich weiss gar nicht, ob ich hier am richtigen Ort bin. Eigentlich müsste ich glücklich und zufrieden sein. Mein Mann ist ein liebevoller und engagierter Vater, ich habe zwei gesunde Kinder, wir wohnen in einem Haus mit Garten, aber ich bin so verzweifelt.»

Beraterin: «Bei uns können Eltern zu genau dem Thema anrufen, bei dem sie anstehen und sich einen Austausch wünschen. Ich höre von Ihrer Verzweiflung. Es ist gut, dass Sie anrufen. Möchten Sie mir sagen, wie alt Ihre Kinder sind?»

Martina Schmid ist Paartherapeutin und systemische Beraterin, früher arbeitete sie als Lehrerin. Sie ist Mutter von zwei Teenagern und einem jungen Erwachsenen.

Mutter: «Meine Tochter ist vier ­Jahre alt und mein Sohn wird bald zwei. Als ich die zwei vorhin in ihren Pyjamas so süss im Bett schlafen sah, überkam mich ein schrecklich schlechtes Gewissen. Es ist so schlimm, wie ich mich verhalte. Ich weiss, dass meine Tochter erst vier Jahre alt ist, aber sie ist so stur, die Tage mit ihr sind nur anstrengend und ich bin richtig genervt. Es fängt schon am Morgen beim Aufstehen an, beim Frühstück, beim Kleideranziehen, beim Zähneputzen – jeder Schritt birgt das Potenzial zu einer Eskalation. Sie ist viel schneller frustriert als andere Kinder. Diese ständige Unzufriedenheit macht mich wahnsinnig.»

Beraterin: «Das klingt sehr anstrengend, was Sie da erzählen. Jeden Tag gibt es unzählige Momente, in denen Sie viel Geduld, Flexibilität und Nerven brauchen und Ihre ­Pläne über den Haufen geworfen werden. Für mich sehr nachvollziehbar, dass Sie dies als herausfordernd und zeitweise auch überfordernd erleben. Ausserdem habe ich den Eindruck, dass Ihre Erwartung an Sie selbst, eigentlich glücklich und zufrieden sein zu müssen, Sie zusätzlich belastet. Weiss Ihr Mann, wie Sie sich fühlen?» 

Mutter: «So deutlich, wie ich das gerade erzählt habe, habe ich das noch niemandem gesagt. Wenn ich allein mit den Kindern bin, werde ich jeweils unglaublich wütend. Ich kann das niemandem erzählen, weder Freunden noch der Familie.» 

Beraterin: «Jetzt gerade gelang es Ihnen, dies sehr offen und mutig in Worte zu fassen. Wie fühlt sich das an?»

Mutter: «Irgendwie geht es mir jetzt besser. Es fühlt sich entlastend an, aber nun weiss ich trotzdem noch nicht, was ich anders machen kann. Ich will das nicht mehr.»

Beraterin: «Ich stelle mir ­gerade ein vierjähriges, unzufriedenes Mädchen vor, das sich weigert, sich anzuziehen oder an den Frühstückstisch zu kommen, und ich sehe eine Mutter vor mir, die müde und unter Zeitdruck versucht, ihre möglichst wetterentsprechend gekleideten Kleinkinder zu einem von aussen bestimmten Zeitpunkt aus dem Haus zu bringen. Wie verhält sich diese Mutter in Ihrer Vorstellung idealerweise?»

Mutter: «Es tut gut, das so zu hören. Diese Mutter schafft es irgendwie, ruhig und gelassen zu bleiben und ihre Kinder ohne Drohen und Schreien aus dem Haus zu bekommen.» 

Beraterin: «So wie Sie dies beschreiben, schafft diese Mutter somit mehrere Sachen gleichzeitig, nämlich ihre Kinder zu unterstützen, Dinge zu tun, die sie eigentlich nicht wollen, sowie auch ihren eigenen Stress zu bewältigen. Zu Beginn unseres Gesprächs sagten Sie, Ihnen sei klar, dass Ihre Tochter erst vier Jahre alt ist. Diesem Anteil in Ihnen ist bewusst, dass Ihre Tochter in einem Alter ist, in dem das Autonomiestreben Teil einer gesunden Entwicklung ist, dass sie von heftigen Gefühlen überschwemmt wird und noch keine Strategien zur Verfügung hat, diese zu regulieren, und dass sie Sie braucht, um dies zu lernen. Dabei möchten Sie sie gern unterstützen. Dieses Wissen steht Ihnen jedoch nicht durchgehend zur Verfügung. Ein anderer Anteil in Ihnen fühlt sich provoziert und übergangen und Wut kommt auf. In diesen Stressmomenten scheinen Ihre Emotionen stärker als Ihr Wissen und bestimmen Ihr Handeln.»

Mutter: «Ja genau, so könnte man das sagen.» 

Beraterin: «Ich würde diese zwei Anteile gern einzeln anschauen, denn diese Unterscheidung kann Klarheit bringen, wer was in welchem Moment braucht. Wir könnten in diesem Telefongespräch den Fokus auf Ihre Tochter richten und uns fragen, wie Sie ihr Halt geben und sie unterstützen können, einen Umgang mit ihrer Unzufriedenheit und ihrem Frust zu finden. Genauso wichtig scheinen mir jedoch auch Fragen im Sinne von: Was passiert bei Ihnen, wenn der Druck steigt? Welche Wirkung haben Ihre Erwartungen an Sie selbst? Was kann dazu beitragen, dass Sie sich weniger ausgeliefert fühlen? Wie klingt das für Sie, und was spricht Sie an, in diesem Telefongespräch zu vertiefen?

Mutter: «Diese Unterscheidung hilft und macht es klarer. Bis jetzt weiss ich leider vor allem, was nicht hilft. Anschreien und Drohen macht alles schlimmer. Ich würde gern mit der Frage anfangen, wie ich mich weniger ausgeliefert fühle. Ich ­glaube, das ist das Schlimmste für mich.»

Wenn ich allein mit den Kindern bin, ­werde ich jeweils ­unglaublich wütend. Ich kann das ­niemandem erzählen.

Beraterin: «Ein spannendes Thema. Gab es auch schon anstrengende Momente, in denen Sie sich weniger ausgeliefert fühlten?»

Mutter: «Ja, wenn ich mich innerlich darauf vorbereite, dass es an­strengend wird, gelingt es mir meist besser. Ich bin dann mehr bei mir und habe das Gefühl, selbst entscheiden zu können und nicht nur zu reagieren.»

Beraterin: «Das finde ich eine wichtige Beobachtung! Das Gefühl von ‹Ich habe die Wahl, wie ich mich verhalte› hat einen grossen Einfluss auf unser Wohlbefinden. Indem Sie sich innerlich vorbereiten, kommen Sie dem näher. Mir fällt noch etwas Weiteres auf, das ich wichtig finde. Sie haben dann den Blick nicht in erster Linie auf Ihrer Tochter und erwarten, dass sie aufhört oder kooperiert, sondern Sie fokussieren sich auf sich selbst und wie Sie sich während dieser herausfordernden Situation verhalten möchten. Damit streben Sie ein Ziel an, welches Sie selbst erreichen können. Wenn es uns nämlich gelingt, zu verinner­lichen, dass wir unser Gegenüber nicht kontrollieren können, verschieben sich unsere Erwartungen. Wir können letztendlich einzig uns selbst und unsere Handlungen kontrollieren. Kommt Ihnen etwas in den Sinn, was Sie anstelle des Anschreiens ausprobieren könnten?»

Mutter: «Ich könnte versuchen, mir in dem Moment etwas Schönes vorzustellen.»

Beraterin: «Mir gefällt diese Idee, denn innere Bilder können in solchen Momenten eine starke Wirkung haben.»

Mutter: «Mir kommt gerade eine Blumenwiese im Wind in den Sinn. Ich würde das gern ausprobieren und ein anderes Mal besprechen, wie ich meine Tochter unterstützen kann. Darf ich dazu wieder anrufen?»

Beraterin: «Auf jeden Fall! Ich freue mich, wieder von Ihnen zu hören.»

Der Elternnotruf

Bei Themen rund um den Familien- und Erziehungsalltag ist der Verein Elternnotruf seit fast 40 Jahren für Eltern, Angehörige und Fachpersonen eine wichtige Anlaufstelle – sieben Tage die Woche, rund um die Uhr. Die Beratungen finden telefonisch, per Mail oder vor Ort statt. www.elternnotruf.ch 

An dieser Stelle berichten die Berater aus ihrem Arbeitsalltag.

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