«Ich bin meistens recht hart zu mir selbst»
Eine Mutter ruft beim Elternnotruf an, weil sie gegen ihren Sohn beinahe handgreiflich geworden wäre. Die Beraterin zeigt ihr Wege auf, wie sie in Konfliktsituationen gelassener bleiben kann.
Mutter: (weinend) Ich hätte vorhin beinahe meinen Sohn geschlagen. Stattdessen bin ich ins Zimmer gegangen und habe Sie angerufen.
Beraterin: Ich bin sehr froh, dass Sie uns angerufen haben. Wo ist Ihr Sohn jetzt?
Mutter: Ich habe beiden Kindern, sie sind sechs und acht, gesagt, ich müsse mich beruhigen. Sie dürfen eine Kindersendung schauen, während ich telefoniere.
Beraterin: Ich möchte Ihnen von Herzen ein Kompliment machen. Auch wenn die Situation nicht ideal gelaufen ist, konnten Sie aus der Eskalation aussteigen, bevor es noch schlimmer wurde. Sie haben Verantwortung übernommen und sich Hilfe geholt und dies Ihren Kindern mitgeteilt. Das zeigt Stärke.
Mutter: Es tut so gut, das zu hören. (weint) Ich liebe meine Kinder über alles, und oft bin ich eine gute Mama, aber manchmal wird es mir zu viel, und ich empfinde eine unglaubliche Wut. Ich habe sie noch nie geschlagen, aber oft habe ich das Gefühl, ich könnte dies tun. So will ich nicht sein!
Beraterin: Ich höre, dass Sie Ihre Kinder zutiefst lieben und eine gute Mutter sein wollen, was Ihnen oft gelingt. Und dennoch gibt es Situationen, in denen Sie sich überfordert fühlen. Dann haben Sie Gefühle und Impulse, die Sie erschrecken und auch traurig machen. Habe ich Sie richtig verstanden?
Mutter: Genau so ist es. Die Kinder treiben mich manchmal zur Weissglut! Oft tue ich, als ob ich ruhig wäre, aber innerlich koche ich. Je mehr ich es weghaben will, desto schlimmer wird alles. Ich schreie sie dann an.
Meine Kinder und ich schaukeln uns gegenseitig hoch.
Mutter
Beraterin: Ich verstehe, dass Sie diese heftigen Gefühle nicht haben möchten, und dennoch sind sie manchmal da. Das ist menschlich. Es mag paradox klingen, aber oft brauchen Gefühle – ob bei uns oder bei den Kindern – erst einmal etwas Raum, bevor sie sich lösen können. Wenn wir sie «verbieten», können sie noch stärker werden. Und Gefühle können ansteckend sein.
Mutter: Meine Kinder und ich schaukeln uns gegenseitig hoch.
Beraterin: Wenn Sie dafür offen sind, möchte ich Ihnen gerne zwei Übungen an die Hand geben, die Ihnen in solchen Momenten helfen könnten, mit sich selbst in Kontakt zu kommen und ruhiger zu werden. Denn erst, wenn wir selbst reguliert sind, können wir unseren Kindern helfen, ihre Gefühle zu regulieren.
Mutter: Das würde ich gerne ausprobieren.
Beraterin: Dann lade ich Sie dazu ein, sich hinzusetzen und beide Füsse flach auf den Boden zu stellen. Nehmen Sie drei tiefe Atemzüge, und nehmen Sie wahr, wie Sie einatmen und wieder ausatmen. (Atmung der Mutter wird hörbar langsamer) Nun richten Sie Ihre Aufmerksamkeit auf Ihre Füsse. Spüren Sie, welche Stellen Ihrer Füsse in Kontakt sind mit dem Boden und wie sich der Boden anfühlt und Sie trägt?
Mutter: Ja, das fühlt sich gut an.
Selbstmitgefühl und Selbstfreundlichkeit sind erlernbar.
Beraterin Elternnotruf
Beraterin: Schön. Und nun dürfen Sie, wenn Sie wollen, eine flache Hand auf den Herzbereich oder auf den unteren Bauch legen. Etwa so, wie wenn Sie Ihre Kinder, vielleicht als Babys, gehalten und am Rücken gestreichelt haben. Oder wie Sie eine gute Freundin, die leidet, umarmen würden. Geht das?
Mutter: Ja, das fühlt sich gut an und berührt mich. (weint leicht)
Beraterin: Es ist für viele Menschen aussergewöhnlich und berührend, mit sich selbst so freundlich umzugehen.
Mutter: Ja, ich bin meistens recht hart zu mir selbst.
Beraterin: Sie sind damit nicht allein, und dies kann den Stress noch verstärken. Aber Selbstmitgefühl und Selbstfreundlichkeit sind erlernbar. Es gibt noch eine zweite Übung, die auf der ersten aufbaut. Sie geht etwas vertiefter auf schmerzhafte Gefühle ein. Möchten Sie diese ausprobieren?
Mutter: Sehr gerne.
Beraterin: Dann bitte ich Sie, sich in die Situation, die Sie vorhin mit Ihren Kindern erlebt haben, hineinzuversetzen. Spüren Sie nach, was Sie körperlich und emotional gefühlt haben.
Mutter: Ich spüre einen «Klumpen» in der Brust und eine riesige Wut sowie Überforderung.
Es gehört zum Mamasein und zum Menschsein, sich manchmal überfordert und wütend zu fühlen.
Beraterin
Beraterin: Ihre Gefühle wahrzunehmen und zu benennen, ist der erste Schritt dieser Übung. In einem zweiten Schritt geht es darum, zu merken, dass Sie nicht allein sind. Sie können sich beispielsweise sagen: «Es gehört zum Mamasein und zum Menschsein, sich manchmal überfordert und wütend zu fühlen. Auch dies wird vorbeigehen.»
Mutter: Das tut gut.
Beraterin: Schön. In einem dritten Schritt geht es darum, mit sich selbst möglichst freundlich zu sein. Die sanfte Berührung aus der ersten Übung ist Teil davon. Sie können sich zudem fragen, ob es ein Wesen gibt – lebend oder verstorben –, das weise und liebevoll ist und Ihnen Kraft gibt. Es kann auch eine spirituelle Figur sein oder etwas aus der Natur, wie ein starker Baum … Kommt Ihnen jemand oder etwas in den Sinn?
Mutter: Ja, meine Mutter. Sie ist vor Jahren gestorben, aber sie ist oft bei mir, irgendwie, und gibt mir Kraft.
Beraterin: Sehr schön. Hätte Ihre Mutter in so einem Moment eine Botschaft für Sie, die Ihnen guttäte?
Mutter: Ja, sie sagt mir nun: «Du schaffst es. Du bist nicht allein.»
Bei Themen rund um den Familien- und Erziehungsalltag ist der Verein Elternnotruf seit 40 Jahren für Eltern, Angehörige und Fachpersonen eine wichtige Anlaufstelle – sieben Tage die Woche, rund um die Uhr. Die Beratungen finden telefonisch, per Mail oder vor Ort statt. www.elternnotruf.ch
An dieser Stelle berichten die Berater aus ihrem Arbeitsalltag.
Beraterin: «Du schaffst es. Du bist nicht allein.» Sie können diese Botschaft für sich wiederholen und die sanfte Berührung spüren. Lassen Sie beides wirken. Und wenn Sie bereit sind, beenden wir langsam die Übung.
Mutter: Das tut mir unglaublich gut. Ich bin so viel ruhiger und irgendwie in Kontakt mit mir. Ich hoffe, dass ich nicht alles vergesse, sobald es wieder stressig wird.
Beraterin: Diese Übungen sind sehr wirksam, aber es braucht viel Wiederholung, damit man auch Zugang dazu hat, wenn es brenzlig wird. Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen die Anleitungen per Mail senden.
Mutter: Das wäre super.
Beraterin: Ich empfehle Ihnen, die Berührung jeden Tag in neutralen Momenten zu üben, beispielsweise nachts vor dem Einschlafen und morgens beim Aufwachen. Die zweite Übung können Sie zuerst bei leichtem Stress ausprobieren und immer wiederholen. Sie dürfen uns jederzeit anrufen, falls Sie Unterstützung brauchen. Und wenn Sie sich vertiefter begleiten lassen möchten, bieten wir persönliche Beratung vor Ort an.
Mutter: Das ist super. Ich übe das ein bisschen und überlege mir, ob ich für einige Gespräche zu Ihnen kommen will. Herzlichen Dank! Das hat mir enorm geholfen.
Beraterin: Sehr gerne geschehen.
Die Übungen stammen aus dem Programm «Achtsames Selbstmitgefühl» (Mindful Self-Compassion):
www.msc-selbstmitgefuehl.org
Rita Girzone leitet am 7. September einen kostenlosen Workshop über achtsames Selbstmitgefühl für Eltern, wozu auch diese beiden Übungen gehören. Weitere Infos finden Sie hier.