Wie lebt es sich mit einer Nachzüglerin?  -
Merken
Drucken

Wie lebt es sich mit einer Nachzüglerin? 

Lesedauer: 5 Minuten

Wenn Geschwister mit einem grossen Altersunterschied auf die Welt kommen, haben sie im Alltag wenig Berührungspunkte. Doch es gibt auch Chancen, schreibt unsere Bloggerin Valerie Wendenburg.

Text: Valerie Wendenburg
Bild: Adobe Stock

Als meine Tochter eingeschult wurde, hat mein ältester Sohn seine Matura bestanden. Während meine Freundinnen darauf anstiessen, dass ihre Kinder den Lernmarathon erfolgreich beendet hatten, ging ich mit meinem jüngsten Kind zurück auf Feld eins.

Bei der Einschulung kam mir alles vertraut und gleichzeitig unwirklich vor: Ich kannte die Lehrerinnen und Lehrer zum Grossteil nicht mehr und die Eltern um mich herum erschienen mir irgendwie jugendlich. Auf einen Schlag wurde mir klar, dass ich keine junge Mutter mehr war wie noch bei meinen Söhnen. Ich spielte nun in der Liga der erfahrenen Mamis mit.

Ich habe oft das Gefühl, ich würde zwei Leben als Mutter führen.

Tatsächlich fühle ich mich in meiner zweiten Runde als Mutter gelassener und lehne mich gerne zurück, wenn andere Eltern sich über Themen austauschen, die bei mir nicht viel mehr als ein Déjà-vu auslösen. Trotzdem ist alles anders als beim ersten Mal.

Fast wie ein Einzelkind

Meine Kinder haben einen Altersunterschied von zwölf Jahren und ich habe oft das Gefühl, ich würde zwei Leben als Mutter führen. Mein erstes begann mit Ende zwanzig, als ich Zwillinge bekam und kurz darauf einen dritten Sohn. Mein zweites Mutter-Dasein startete ein Jahrzehnt später, als ich meine Tochter erwartete – die kleine Schwester von drei deutlich älteren Brüdern.

Die Jungs wurden gerade selbstständiger, gingen erstmals alleine in Feriencamps und durchwanderten die Pubertät, als meine Tochter anfing, Bücherregale auszuräumen und erste Worte zu sprechen. Mittlerweile wohnen zwei meiner Söhne nicht mehr zu Hause, den dritten zieht es im Sommer in die Ferne. Meine heute neunjährige Tochter wächst – völlig anders als ihre Brüder – fast wie ein Einzelkind auf, obgleich sie keines ist.

Ihre älteren Geschwister sind im Alltag nur noch wenig präsent. Aufgrund ihres grossen Altersunterschieds leben die kleine Schwester und ihre Brüder in verschiedenen Welten. Auch ihre Kindheit verlief sehr unterschiedlich: Meine Söhne wuchsen eng miteinander auf, schliefen jahrelang in einem Zimmer und spielten täglich gemeinsam Fussball im Garten.

Am Esstisch sprachen wir, da die drei immer in der Mehrzahl waren, fast ausschliesslich über «Kinderthemen». Es ging um nervige Mathetests, Panini-Bilder oder darum, wann die Jungs ihren Vater sehen würden, von dem ich schon früh getrennt lebte. Meine Tochter erlebt ihren Alltag meist gemeinsam mit ihren beiden Eltern und nur gelegentlich zusammen mit ihren Geschwistern. 

Brüder als Beschützer statt Spielkameraden

Dennoch hat sie eine enge Beziehung zu ihren mittlerweile erwachsenen Brüdern, die mehr Beschützer als Spielkameraden sind. Obgleich sie sich jedes Jahr aufs Neue eine kleinere Schwester zum Geburtstag wünscht, ist sie stolz auf die grossen Jungs in der Familie, um die sie von Freundinnen beneidet wird. Neulich wollte sogar ein Junge aus ihrer Klasse ein Autogramm ihres Bruders haben, da dieser Captain der A-Mannschaft des hiesigen Fussballvereins ist.

Zu ihm, dem zehn Jahre älteren Bruder, hat meine Tochter zurzeit das engste Verhältnis, weil der Kontakt am intensivsten ist. Er wohnt noch im selben Elternhaus und war in ihrer Kleinkinderzeit auch derjenige, der am meisten mitgespielt und ihr abends ab und zu vorgelesen hat. Auch mit den zwölf Jahre älteren Zwillingsbrüdern ist sie sehr vertraut, die Intensität der Beziehung hängt aber davon ab, wie oft sie die beiden sieht und wie stark sie sich mit ihr beschäftigen. Einer der Zwillinge ist schon vor Jahren zu seinem Vater gezogen, er war auch eine längere Zeit im Ausland und daher nicht so präsent wie sein Zwilling, der häuslicher und regelmässiger daheim ist.

Neulich sind sie alle zusammen an ein FC-Basel-Spiel gegangen – nicht nur meine Tochter, sondern auch mich als Mutter hat das glücklich gemacht, da ich merke, dass die Schwester mittlerweile nicht nur noch «die Kleine», sondern immer mehr ein gleichwertiges Geschwister ist.

Kaum Streit oder Eifersucht

Aufgrund der Familienkonstellation gab es unter den Geschwistern kaum Eifersuchtsszenen. Die Zwillinge waren ohnehin immer zu zweit, mein dritter Sohn konnte daher nach seiner Geburt niemanden vom Thron stossen. Als die Nachzüglerin unsere Familie bereicherte, waren die Zwillinge die «Grossen» und der mittlere Sohn orientierte sich je nach Laune mal zu ihnen nach oben oder er spielte mit seiner kleinen Schwester wieder wie ein Kind.

Die Brüder sind auch als Babysitter im Einsatz, was natürlich für uns Eltern Vorteile hat.

Konkurrenzkämpfe zwischen den Geschwistern gibt es auch heute nicht, es kommt kaum zu Reibungen, aber auch selten zu gemeinsamen Aktivitäten – es sei denn, sie werden extra organisiert. Ab und zu unternehmen die Brüder gezielt etwas mit ihrer Schwester, gehen mit ihr ins Kino oder wie vor Kurzem ins Stadion.

Bei Bedarf sind sie auch als Babysitter im Einsatz, was natürlich für uns Eltern Vorteile hat. Für meine Tochter heisst es aber auch immer wieder Abschied nehmen, wenn ihre Brüder nach einem Wochenendbesuch die Koffer packen – da geht es ihr ähnlich wie mir. Wir beide haben gelitten, als die Grossen von zu Hause ausgezogen oder gar ins Ausland gegangen sind.

Was mich manchmal nervös macht

Auch wenn einer meiner Söhne noch zu Hause lebt, hat er seinen eigenen Rhythmus. Am Wochenende beispielsweise befindet er sich meist noch im Tiefschlaf, wenn meine Tochter, mein Mann und ich frühstücken. Oft sind wir daher im Alltag zu dritt und die Dreierkonstellation innerhalb der «Kleinfamilie» führt dazu, dass sich schnell zwei Parteien bilden, da das einzige Kind am Tisch genau weiss, wie es seinen Vater oder mich auf seine Seite bringen kann.

Mein Kind allein spielen zu sehen, macht mich manchmal nervös. Immer wieder empfinde ich Druck, meiner Tochter Gesellschaft leisten zu müssen.

Während meine Söhne jahrelang miteinander gespielt und auch gestritten haben, hat meine Tochter kein Pendant, an dem sie sich messen und mit dem sie sich verbünden kann. So lernte sie nicht nur früh, sich alleine durchzusetzen, sondern auch, sich selbst zu beschäftigen. Wenn sie malt, bastelt oder mit Playmobil spielt, ist ihr auch ohne anwesende Geschwister nur selten langweilig.

Mich aber macht der Anblick eines allein spielenden Kindes manchmal etwas nervös. Immer wieder empfinde ich Druck, meiner Tochter Gesellschaft leisten zu müssen. Wir organisieren ihr mehr Freizeitaktivitäten als ihren Brüdern damals und haben auch schon einen Freundin von ihr mit in die Ferien genommen, damit sie jemanden in ihrem Alter zum Spielen hat. Ich möchte vermeiden, dass sie sich alleine fühlt – obwohl sie dieses Gefühl nie äussert. 

Zusammenhalt fördern

Unsere Nachzüglerin steht viel mehr im Mittelpunkt als ihre Brüder es jemals taten. Dafür hatten sie sich immer als Verbündete und Spielkameraden. Wenn meine Kinder alle einmal gross sind, werden sie ganz andere Erinnerungen an ihre Kindheit und Jugend haben.

Die Jungs sind eng miteinander als Geschwister, aber mit einer alleinerziehenden Mutter gross geworden. Dies hatte zur Folge, dass meine Söhne regelmässig am Wochenende bei ihrem Vater waren und auch Konflikte zwischen ihren Eltern aushalten mussten.

Ich musste mich daran gewöhnen, Dinge nicht mehr einfach alleine zu entscheiden, sondern als Eltern gemeinsam zu denken.

Meine Tochter hingegen wächst wie ein Einzelkind, aber zusammen mit ihren beiden Eltern auf. Ihr Vater ist in ihrem Leben sehr präsent und unternimmt viel mit ihr. Ich muss den Alltag nun nicht mehr alleine bestreiten, sondern erfahre grosse Unterstützung innerhalb der Partnerschaft. Aber auch ich musste mich umstellen und mich daran gewöhnen, Dinge nicht mehr einfach alleine zu planen und zu entscheiden, sondern als Eltern gemeinsam zu denken.

Wahrscheinlich erlebt jedes der Kinder in seiner eigenen Familienkonstellation gute wie auch schwierige Momente – und genau so geht es mir als Mutter ja auch. Mir ist es wichtig, den Zusammenhalt zwischen meinen Kindern zu fördern und nach wie vor gelegentlich gemeinsam in die Ferien zu fahren, damit wir uns als Familie länger erleben als nur ein Wochenende.

Ich merke, dass das gegenseitige Verständnis und das Interesse unter den Geschwistern füreinander grösser wird, je älter die kleine Schwester wird. Es gibt immer mehr gemeinsame Themen unter den grossen und kleinen Kindern und ich blicke schon heute mit Spannung auf die Zeit, in der der Altersunterschied der Kinder kaum mehr eine Rolle spielen wird und sie sich auf Augenhöhe begegnen werden. 

Valerie Wendenburg

Valerie Wendenburg
ist Journalistin und lebt in Bottmingen BL. Neben dem alltäglichen Spagat zwischen Familienleben, Arbeit und selbstbestimmter Zeit ist es ihr wichtig, die Beziehung zu jedem ihrer vier Kinder und zu ihrem Mann in den unterschiedlichen Lebensphasen zu pflegen. www.valeriewendenburg.ch

Alle Artikel von Valerie Wendenburg

Mehr zum Thema Geschwister:

Familienleben
«Ich mag es nicht, wenn meine Eltern streiten»
Der 10-jährige Nico wendet sich an unsere Expertin Sarah Zanoni, weil er nicht will, dass seine Eltern miteinander streiten.
Was tun bei Geschwisterstreit?
Erziehung
Was tun bei Geschwisterstreit?
Geschwister streiten sich. Das ist normal. Dass man sich als Eltern darüber aufregt auch. Doch müssen Sie nicht bei jedem Streit sofort eingreifen.
Erziehung
«Die Liebe für die Geschwister wird immer halten»
Die Schülerin Jocelyn Papp, 16, erzählt, welche Zeit mit der Familie die allerschönste war und was sie an ihren Geschwistern schätzt.
Erziehung
Konflikte: Dicke Luft in der Familie
Hausaufgaben, Ausgang, Medienkonsum: In Familien gibt es viele Konfliktfelder. Doch warum streiten wir gerade mit unseren Liebsten so häufig? Wie lassen sich Auseinandersetzungen in etwas Konstruktives verwandeln? Und was sollten wir im Streit auf keinen Fall tun?
Erziehung
Geschwisterstreit: «Eltern sind keine Richter»
Sozialarbeiterin Madleina Brunner Thiam weiss, warum Geschwisterstreit in manchen Familien so häufig vorkommt – und hat einen Rat für Eltern.
Entwicklung
«Es ist normal, wenn Kinder miteinander konkurrieren»
Die Sozialpädagogin und Supervisorin Katalin Nef sagt, Eifersucht zwischen ­Freundinnen oder Freunden komme häufig vor. Reagieren sollte man, wenn ein Kind in die Opferrolle rutscht oder unterdrückt wird.
Entwicklung
«Unsere Jugend war geprägt durch krankhaften Konkurrenzkampf»
Die Zwillinge Eva und Rita Fleer, 30, rivalisierten als Teenager so heftig, dass sie ­räumlich getrennt werden mussten. Eva ist heute als Lehrerin und Trainerin für ­subjektorientierte Kommunikation mit Babys in ­Bremgarten BE tätig. Sie hat zwei Töchter, 3 Jahre und 9 Monate. Rita ist Ökonomin und lebt in Baden AG.
Entwicklung
«Weil Eifersucht bei uns kein Tabu ist, finden wir schnell undramatische Lösungen»
Selina Meyer, 33, und Mirco ­Marti, 40, leben in Solothurn. Die Sonderschullehrerin und der selbständige Gipser haben ­zusammen zwei Töchter und einen Sohn. Zwischen Lilly, 9, Nola, 6 und Diego, 2, kommt es immer wieder zu Revierkämpfen. Auch die Eltern geben zu, manchmal auf die Rolle des anderen eifersüchtig zu sein.
Entwicklung
«Die beiden müssen auch eigenständig Lösungen finden»
Linda, 39, Sachbearbeiterin ­Event-Management, und Patric Thomann, 40, Projektleiter ­Küchenplanung, leben mit ihren beiden Söhnen in Boll BE. Zwischen Liam, 6, und ­Robin, 4, kommt es bei Eifersüchteleien schnell zu ­Handgreiflichkeiten. Die Mutter sagt, dass sich die Eltern dabei Mühe geben, nicht zu schnell ­einzugreifen.
Erziehung
Eifersucht: Rivalen in der Familie
Rivalität oder erbitterter Geschwisterkampf? Wie sollen Eltern mit Konkurrenz unter Kindern umgehen? 23 Antworten auf die wichtigsten Fragen.
Entwicklung
«Ich muss mir Exklusivzeit für ein Kind organisieren»
Brigitte Müller hat zwei kleine Söhne. Im Alltag kann die alleinerziehende Mutter manchmal nicht beiden Kindern gerecht ­werden, was zu Rivalität führt.
Blog
Wie geht das Familienleben nach einem Unfall weiter?
Der Verkehrsunfall von Valerie Wendenburgs Sohn war ein einschneidendes Ereignis. Unsere Bloggerin erinnert sich an zwei Ratschläge eines Kinderpsychiaters, auf die sie bis heute gerne zurückgreift.
Entwicklung
Mein Bruder, der Draufgänger
Ob Geschwister sich gegenseitig beeinflussen, hängt vor allem von ihrer Beziehung ab. Das gilt auch für ihr Risikoverhalten.
Umgang mit Geschwistern: Zwei Kinder stehen nebeneinander
Elternblog
Jedes Kind ein Unikat
Als meine Zwillingssöhne vor knapp 21 Jahren das Licht der Welt erblickten, waren sie eine kleine Attraktion. Die ersten Babies im Freundeskreis traten gleich im Doppelpack auf. Bis heute sprechen viele meiner Freunde noch immer von «den Zwillingen», nur wenige erkundigen sich nach jedem der Brüder einzeln. Ich hingegen vermeide seit ihrer Geburt das Wort […]
Geschwister-Mythen: Unzertrennlich
Elternbildung
Wie sehr gleichen sich Zwillinge wirklich?
Stehen sich Zwillinge näher als andere Geschwister? Wie ähnlich sind sie sich wirklich? Welche Rolle spielen dabei die Gene? Und ihre Umwelt?
Erfolgreiche Erstgeborene
Entwicklung
Erfolgreiche Erstgeborene, kreative Nachzügler?
Es gibt viele populäre Annahmen zum Einfluss der Geschwisterfolge auf die Entwicklung. Einer wissenschaftlichen Prüfung hält nur eine stand.
Geschwister-Mythen: Ein Bund fürs Leben
Erziehung
Geschwister – ein Bund fürs Leben
Von Beginn an sind Geschwister Verbündete, die gemeinsam Schlachten gegen Mama und Papa schlagen. Über eine besondere und besonders stürmische Beziehung.
Erziehungsmythen: Einzelkinder sind verwöhnt und können nicht teilen. Stimmt's?
Entwicklung
Einzelkinder sind verwöhnt und können nicht teilen. Stimmt’s?
Die Mythen der Kindererziehung. Die Stiftung Elternsein, Herausgeberin des Schweizer ElternMagazins Fritz+Fränzi, geht 15 Erziehungsmythen auf den Grund.
Wie Familie gelingt – die Serie. Teil 5
Familienleben
Geschwister – Die längste Beziehung des Lebens
Sie lieben und sie hassen sich: Geschwister können nicht ohne einander, auch wenn sie gern würden: So stärken Eltern die Geschwisterbeziehung.
Wer darf – und wer darf nicht?
Medien
Wer darf – und wer darf nicht?
Kinder unterschiedlichen Alters haben unterschiedliche Bedürfnisse. Jüngere Geschwister fordern dieselben Medien-Rechte wie die grossen Brüder und Schwestern.
Medienregeln bei Geschwistern
Medien
Medienregeln bei Geschwistern
In der Mehrkindfamilie einen guten Umgang mit Medien zu finden, braucht Zeit, Ausdauer – und Konsens. Ein Leitfaden.
«Eltern müssen ihre Kinder nicht gleich behandeln»
Elternbildung
«Herr Frick, gibt es das typische Lieblingskind?»
Jürg Frick sagt, Eltern müssen nicht alle Kinder gleich behandeln. Seine Einstellung zu Lieblingskindern und negative Gefühle..
Giulia und Katja: Wir werden oft gefragt
Blog
Freundschafts-Protokolle: «Sie halten uns für Schwestern!»
Die zwei 14-Jährigen, Giulia und Katja, kennen sich schon ewig. Sie erzählen, weshalb sie oft als Geschwister angesehen werden...
Geschwisterstreit wird oft banalisiert
Elternbildung
Wann geht ein Geschwisterstreit zu weit?
Madleina Brunner Thiam leitet Kurse mit Kindern zum Thema Geschwisterstreit. Sie sagt: Das Thema wird von Eltern unterschätzt.