Geschwister – ein Bund fürs Leben
Geschwister-Mythen: Teil 1
Von Beginn an sind Geschwister Verbündete, die gemeinsam Schlachten gegen Mama und Papa schlagen – und werden zwischenzeitlich auch mal selbst zu Feinden. Über eine besondere und besonders stürmische Beziehung.
Edith Hehlen und ihre Schwester haben sich als Kinder nie gut verstanden. Als Edith an ihrem 35. Geburtstag erfährt, dass sie ab nun auf eine Dialyse angewiesen sein wird, ist für ihre vier Jahre jüngere Schwester trotzdem sofort klar: «Ich spende dir eine Niere.» Edith nimmt das Geschenk an und heute sind die beiden unzertrennlich. In der Schweiz wächst etwa die Hälfte aller Kinder mit einem Bruder oder einer Schwester auf, ein Drittel lebt sogar mit zwei oder mehr Geschwistern zusammen.
Die Beziehung zu unseren Geschwistern, ins gleiche Nest geboren, ist unsere längste überhaupt: Partner und Kinder treten erst relativ spät in unser Leben, die Eltern verlassen uns zu früh. So ist der Bund mit Brüdern und Schwestern mitunter einer vom Spielzimmer bis zum Seniorenheim.
Lange wurde diese einzigartige Bindung von der Wissenschaft übersehen. Psychologen, Soziologen und Anthropologen beschäftigen sich erst seit etwa 25 Jahren intensiv mit dem Thema. Inzwischen weiss man: Geschwister prägen uns mindestens so stark wie die Eltern.
Die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen
Nie lernen wir in so rasantem Tempo dazu wie im Kleinkindalter. Wir machen unsere ersten Schritte, sagen unsere ersten Worte und lernen den Unterschied zwischen Ich und Du. Schon zwischen dem dritten und dem fünften Lebensjahr verbringen wir dabei mehr Zeit mit Bruder und Schwester als mit der Mutter.
Oft helfen Geschwister sich in dieser Zeit gegenseitig auf die Sprünge. Etwa bei der Entwicklung der sogenannten Theory of Mind: der Fähigkeit, sich in das Denken, Fühlen und Planen anderer hineinzuversetzen und zu erkennen, dass diese einen eigenen Blick auf die Welt haben.
Im berühmten Sally-Anne-Test verwenden Forscher ein Puppenspiel, um die Fähigkeit zu prüfen: Eine Puppe namens Sally legt ihren Ball in einen Korb und verlässt die Bühne. Während Sally weg ist, nimmt Anne den Ball aus dem Korb und versteckt ihn in einer Kiste. Sobald Sally die Bühne wieder betritt, sollen die Kinder erraten, in welchem Gefäss Sally nach dem Ball suchen wird.
Mittlerweile weiss die Wissenschaft: Geschwister prägen uns mindestens so stark wie die Eltern.
Dreijährige antworten: «In der Kiste.» Sie verkennen, dass Sally anders als sie selbst nicht wissen kann, was während ihrer Abwesenheit passiert ist. Erst ab etwa vier Jahren kommen die kleinen Probanden dahinter und antworten korrekt.
In einer Untersuchung der University of Queensland waren Kinder mit Geschwistern den anderen dabei ein Stück voraus. Im Geschwisterkind hatten sie offenbar ein einzigartiges Gegenüber gefunden, anhand dessen sie die Perspektivübernahme trainieren konnten.
Trainingspartner in Sachen Konfliktbewältigung
Nicht immer geht es dabei harmonisch zu. Das Kinderzimmer wird zugleich zum Trainingscamp für Konfliktbewältigung, denn als Kleinkinder sind wir so aggressiv wie nie. In keiner Lebensphase zeigen wir unsere Wut unverblümter. Da kommt es schon mal zum Tobsuchtsanfall, wenn die Schwester nach dem Spielzeugbagger greift.
Wenn kleine Kinder streiten, geht es tatsächlich meist um Besitz. Knallt es zwischen Älteren, sind die Gründe öfter empfundene Ungerechtigkeit oder die Rolle in der Familie. Doch wie viel Streit ist normal? Die US-Psychologin Laurie Kramer wollte es genau wissen und besuchte Familien zu Hause.
Sie brachte mit dem Wissen der Eltern Mikrofone in den Kinderzimmern an und zählte, wie oft es zwischen den drei- bis siebenjährigen Geschwistern zum Zoff kam: im Schnitt 3,5 Mal pro Stunde – also alle 17 Minuten.
Dabei liess sie nur mindestens drei aufeinanderfolgende feindselige Interaktionen als Streit gelten. Hätte sie jedes Schimpfwort und jeden Schubser gewertet, wäre die Zahl sicher noch beeindruckender.
Einer Studie zufolge streiten Geschwister alle 17 Minuten. Das sei normal, sagen Experten.
«Streit zwischen Geschwistern ist etwas ganz Natürliches. Oft sind Eltern aber unsicher, wie sie damit umgehen sollen. Es fällt ihnen schwer, nicht Partei zu ergreifen», sagt der Psychologe Jürg Frick, der Geschwisterbeziehungen erforscht und in seiner Praxis in Uerikon ZH Eltern und Lehrer berät.
«Die Sticheleien eines Kindes erinnern uns möglicherweise an frühere Konflikte mit eigenen Geschwistern und reaktivieren so alte Gefühle. Besser wäre es aber, von Vorwürfen und Schuldzuweisungen abzusehen und die Situation stattdessen zu entschärfen.» Häufig reiche es schon, die Streithähne für gewisse Zeit in ihre Zimmer zu schicken, damit sie sich beruhigen können.
Der Streit zwischen Geschwistern schult indes die Fähigkeit, den eigenen Standpunkt zu verteidigen, starke Gefühle im Zaum zu halten und Konflikte beizulegen. Brüder und Schwestern sind dabei hartnäckige Verhandlungspartner.
Die Geschwister-Arena ist allerdings auch ein vergleichsweise sicheres Trainingsgelände: Geschwister beenden, anders als Schulfreunde, nicht so schnell die Beziehung, wenn mal richtig die Fetzen fliegen.
Die Rivalität nimmt zu
Spätestens mit dem Schulbeginn nimmt jedoch die Rivalität zu. Gerade wenn die Kinder etwa im gleichen Alter sind und die Eltern Wert auf gute Noten legen, kann es zu Leistungsvergleichen und Neid kommen. Doch wenn die Chemie stimmt, kommt auch der umgekehrte Fall vor: Geschwister unterstützen sich gegenseitig, machen einander vor Prüfungen Mut und trösten sich, wenn es mal nicht so gut gelaufen ist.
«In meiner Beratung hatte ich mal ein Mädchen, das in der Schule eher unsicher war. Als eine wichtige Prüfung bevorstand, schrieb ihre grosse Schwester mit Kreide ‹Liebe Lisa, du schaffst das!› an die Tür des Klassenzimmers. Das hat ihr sehr viel bedeutet und ihr die nötige Sicherheit gegeben», erzählt Jürg Frick.
Ob Geschwister ewige Rivalen bleiben oder sich nahestehen, kommt auf die Passung der Persönlichkeiten, aber auch auf das Verhalten der Eltern an. «Es lässt sich schwer pauschal sagen, wie die typische Geschwisterbeziehung verläuft. Entscheidend ist die individuelle Beziehung zueinander», findet Sabine Brunner, Psychotherapeutin am Marie-Meierhofer-Institut für das Kind in Zürich.
In der Pubertät kommen sich Geschwister näher
Gewisse Trends lassen sich aber durchaus beobachten: Zu Beginn der Pubertät, wenn schwierige Entwicklungsaufgaben wie die Abgrenzung von den Eltern und die Festigung der eigenen Identität anstehen, kommen sich Geschwister oft näher. Gerade Jüngere schauen zu den Älteren auf und eifern ihrem Vorbild nach – im Guten wie im Schlechten.
Ob Geschwister ewige Rivalen bleiben, kommt auch auf das Verhalten der Eltern an.
So zeigen Studien, dass Jugendliche eher rauchen, trinken oder kiffen und früher Sex haben, wenn grössere Geschwister es ihnen vormachen. Ist der Altersabstand gering, verbünden sie sich mitunter und rebellieren gemeinsam gegen die Eltern.
Auch wenn es familiäre Probleme gibt, halten viele Geschwister zusammen. In einem schwierigen Elternhaus können sie sogar als Puffer fungieren, wie eine Studie 2018 zeigte. Forscher um Patrick T. Davies von der University of Rochester untersuchten Jugendliche über mehrere Jahre hinweg.
Jene, die häufig dem Streit der Eltern ausgesetzt waren, entwickelten später eher eine psychische Erkrankung. Wer allerdings einen Bruder oder eine Schwester hatte, die ihm nahestand, trug kein höheres Risiko.
Eine tragfähige Beziehung aufbauen
«Geschwister können freundschaftliche Bindungen entwickeln, die emotionale Wärme, einen Austausch über Sorgen, gegenseitige Unterstützung und korrigierendes Feedback beinhalten», folgert Davies. «Es sind gerade die nicht planmässigen Lebensereignisse, wie Scheidung, Krankheit oder Unfälle, die Geschwister zusammenschweissen», meint auch Sabine Brunner.
Als junge Erwachsene, wenn wir uns endgültig von der Familie abnabeln und die Freunde zu unseren engsten Vertrauten werden, driften auch Geschwister häufig auseinander – geografisch wie emotional. Nach dem Auszug aus dem Elternhaus schläft die Beziehung typischerweise etwas ein.
Jeder ist mit seinem eigenen Leben beschäftigt, gründet eine Familie, macht Karriere oder verfolgt andere Ziele. Langzeituntersuchungen zeigen, dass mit der Nähe auch Spannungen abnehmen: Die Distanz erlaubt weniger Reibungspunkte.
Das ändert sich, sobald gemeinsame Pflichten anstehen. Oft ist das im mittleren und späten Erwachsenenalter der Fall. Es braucht ein kameradschaftliches Krisenmanagement und emotionale Unterstützung, wenn es darum geht, sich gemeinsam um die alternden Eltern zu kümmern, den elterlichen Haushalt aufzulösen und Beerdigungen und Nachlässe zu organisieren. Hier zeigt sich, ob die Geschwister es geschafft haben, eine tragfähige Bindung aufzubauen.
Manche Geschwister ziehen im Alter sogar wieder zusammen. Ein Bund, der vor Einsamkeit schützt.
Die Entwicklung der Geschwisterbeziehung folgt einer U-Kurve, wie Experten berichten. Im Alter rücken Geschwister typischerweise wieder enger zusammen. Die Eltern leben nicht mehr, die Partner sind möglicherweise schon verstorben oder man hat sich getrennt. «In dieser Lebensphase ist es uns wichtig, uns an die gemeinsame Vergangenheit zurückzuerinnern, am liebsten mit dem Menschen, den wir am längsten kennen», sagt Jürg Frick.
Oft verbindet Brüder und Schwestern dabei eine nostalgische Sehnsucht: Weisst du noch, wie Papa sonntags immer Pfannkuchen für uns gemacht hat? Erinnerst du dich an den knarrenden Dielenboden in unserem Haus damals? Manche entscheiden sogar, im hohen Alter wieder zusammenzuziehen – vorausgesetzt, es gelingt eine reife Rückschau und alte Fehden werden beigelegt.
2020 erschien eine Untersuchung mit 608 über 60-Jährigen, die zeigt, dass positive, warme Beziehungen zu den Geschwistern im Alter überwiegen. Dieses einzigartige Band schützt offenbar vor Einsamkeit und förderte das Wohlbefinden im Lebensherbst.
Die Geschwisterbeziehung wandelt sich aber nicht nur im Laufe des Lebens, sondern auch mit den Jahrhunderten. «Noch vor hundert Jahren gab es viel grössere Familien. Man hatte nicht nur ein oder zwei, sondern fünf, sechs oder mehr Geschwister», erklärt Jürg Frick. «Ausserdem war die Kindersterblichkeit höher, sodass viele den Tod eines Geschwisterkinds erleben mussten.»
In Grossfamilien war zudem die Altersspanne der Kinder grösser. Ältere Geschwister übernahmen viel öfter als heute eine Elternrolle für die Kleineren. Wichtige Bindungspartner waren Geschwister aber damals schon. Edith Hehlen und ihre jüngere Schwester haben erst spät zueinandergefunden.
Am 20. November feiern sie deshalb seither nicht nur gemeinsam das zweite Leben, das für Edith mit der rettenden Operation begann, sondern auch die Wiedergeburt ihrer Geschwisterliebe. Alle anderen könnten den 31. Mai nutzen, um diese besondere Beziehung zu begehen. Er gilt in Europa als offizieller Tag der Geschwister.
- Die Bedeutung der Geschwisterbeziehung wurde in der Wissenschaft lange unterschätzt. Heute weiss man: Geschwister prägen uns mindestens so sehr wie unsere Eltern.
- Theory of Mind: Die Fähigkeit, sich in andere hineinversetzen zu können, eignen sich Kinder, die mit Geschwistern aufwachsen, oftmals schneller an.
- Insbesondere im Kleinkindalter fungieren Geschwister als Trainingspartner in Sachen Konfliktbewältigung. Dabei geht es stürmisch zu. Wissenschaftler sagen: Geschwisterstreit bis zu alle 17 Minuten ist normal und nicht bedenklich.
- Mit dem Eintritt ins Schulalter nimmt die Rivalität unter Geschwistern häufig zu, dafür nähern sie sich mit Beginn der Pubertät und der beginnenden Ablösung von den Eltern nicht selten wieder an.
- Mit dem Eintritt ins Erwachsenenalter wird die räumliche und emotionale Distanz zwischen Geschwistern mitunter grösser, damit nehmen aber auch die Reibungsfläche und das Konfliktpotenzial ab.
- Wenn es darum geht, sich gemeinsam um die älter werdenden Eltern zu kümmern, brauchen Geschwister eine tragfähige Bindung, um kameradschaftlich und im Sinne der Eltern zu handeln.