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Hinschauen hilft

Lesedauer: 4 Minuten

10 bis 20 Prozent der Kinder und Jugendlichen in der Schweiz sind gefährdet, gesundheitliche und soziale Probleme wie Sucht, Gewalt oder psychische Belastungen zu entwickeln, schätzt das Bundesamt für Gesundheit. Was bedeutet diese Entwicklung für Lehrerinnen und Lehrer?

Text: Sandra Locher Benguerel
Bild: Adobe Stock

Die Schule hat vielfältige Aufgaben. Sie soll Kindern und Jugendlichen Wissen, Fertigkeiten und Kompetenzen vermitteln und gleichzeitig ihrem Betreuungsauftrag nachkommen und erkennen, wenn sich ein junger Mensch nicht seinen Möglichkeiten entsprechend entwickelt. Wie kann ich als Lehrperson das Wohlbefinden eines Schülers, einer Schülerin richtig einschätzen? Mir helfen dabei die ­folgenden sechs Punkte:

1. Aufmerksam sein

Wenn ich morgens jede meiner Schülerinnen und jeden meiner Schüler einzeln begrüsse, dann ist es mir besonders wichtig, ihnen in die Augen zu schauen. Natürlich sehen diese frühmorgens gerade in der Pubertät noch etwas verträumt aus. Aber der direkte Kontakt verschafft mir immer wieder einen Blick in die Seele – vor allem, wenn ich das regelmässig mache. Die Frage nach ihrem oder seinem Befinden ist so nicht zwingend nötig.

Im Schulalltag sind gerade bei Jugendlichen oft die nonverbalen Äusserungen wichtig. Aufmunternde oder fragende Blicke meinerseits können vieles bewirken. Merke ich jedoch, dass etwas nicht stimmt, dass es einer Schülerin oder einem Schüler nicht gut geht, frage ich in einem ruhigen Moment: «Wie geht es dir?» Meist höre ich dann ein «gut». Ich gebe dem Kind daraufhin zwar eine Rückmeldung, indem ich ihm sage, was mir an ihm aufgefallen ist, frage aber vorerst nicht weiter nach.

Eine Krise zeigt sich bei einem Kind auf höchst individuelle Weise, jedoch immer als eine Abweichung vom gewohnten Verhalten.

Doch allein mit meiner Frage habe ich signalisiert, dass mir das Wohlbefinden des Kindes wichtig ist. Daran kann ich anknüpfen. Denn aufmerksames Beobachten, Zuhören und Zeigen von Mitgefühl sind die wichtigsten ersten Schritte. Sie vermitteln psychische Sicherheit.

2. Anzeichen erkennen

Die Schule als Lern- und vor allem auch als Lebensgemeinschaft verbindet uns Lehrerinnen und Lehrer auf eine besondere Weise mit unseren Schülerinnen und Schülern. Schlechte-Laune-Tage gehören nicht nur für uns, sondern auch für die Kinder zum Alltag. Wir sollten kein grosses Aufheben darum machen, sondern sie als normalen Lauf des Lebens akzeptieren. Doch darüber hinaus gibt es Verhaltensweisen, welche uns Pädagoginnen und Pädagogen auffallen und die wir als Warnzeichen deuten.

Eine Krise zeigt sich bei einem Kind auf höchst individuelle Weise, jedoch immer als eine Abweichung vom gewohnten Verhalten. Meiner Erfahrung nach ist das am häufigsten auftretende Warnzeichen, wenn Schülerinnen und Schüler sich zurückziehen, sich kaum mehr am Unterricht beteiligen oder gleichgültig werden. Weitere Anzeichen einer psychischen Belastungssituation können Konzentrationsschwäche, ein plötzlicher Leistungsabfall, eine Senkung der Frustrationstoleranz oder aggressives Verhalten sein. Oft wird eine Verhaltensänderung begleitet von körperlichen Be-schwerden wie Kopf- oder Bauchschmerzen.

3. Informieren und zusammenarbeiten

Bei auffälligem Verhalten ist es zentral, den direkten Kontakt zu den Erziehungsberechtigten zu suchen und sie zu informieren. Denn Früherkennung und Frühintervention sind eine wichtige Basis für die Förderung der psychischen Gesundheit. Deckt sich die Wahrnehmung der Lehrpersonen mit derjenigen der Eltern, so ist der Boden für gemeinsames Handeln gelegt. Wichtig ist ausserdem, rasch eine psychosoziale Fachperson, die die Ursachen der Verhaltensänderung beim Kind erkennen kann, beizuziehen. Je präziser die Diagnose ist, desto besser kann das Kind gezielt unterstützt werden.

4. Positive Selbstbilder

Schule und Elternhaus haben eine gemeinsame Aufgabe: Kinder und Jugendliche mental zu stärken, ihre Resilienz zu fördern, damit sie ihre Zukunft selbständig gestalten können. Bildungsinstitutionen haben zudem den Auftrag, Kindern und Jugendlichen eine produktive Teilhabe am Unterricht und sozialen Leben zu ermöglichen. Im Idealfall erfahren sie die Schule als einen sicheren Ort, an dem sie Teil einer Gemeinschaft sind.

Als Pädagogin bin ich verantwortlich für die Unterrichtsgestaltung – so abwechslungsreich wie es nur geht. In kleinen Schritten lernen lassen, Erfolgserlebnisse schaffen, Fortschritte feiern (und nicht mit anderen vergleichen), kurz: positive Selbstbilder entstehen lassen und stärken. Und ganz nach Pestalozzi «mit Kopf, Herz und Hand» arbeiten: Alles, was kreativ, musikalisch und sportlich ist, wirkt sich auf das psychische und körperliche Wohlbefinden der Schülerinnen und Schüler aus.

5. Nachdenken über sich selbst

Der aktuelle Lehrplan nimmt in den überfachlichen Kompetenzen sowie im Bereich «Ethik, Religion, Lebenskunde» Bezug auf das Thema «Wohlbefinden». Dafür müssen Schulen Gefässe schaffen. Deshalb begrüsse ich sehr, dass es im aktuellen Lehrplan heisst: «Die Schülerinnen und Schüler lernen, über sich selbst nachzudenken, können Gefühle beschreiben und kennen Möglichkeiten, ihre Gesundheit zu erhalten und ihr Wohlbefinden zu stärken.»

Wir Erwachsene sind im Umgang mit Krisen ein grosses Vorbild für Kinder und Jugendliche.

Dies geschieht beispielsweise beim gemeinsamen Reflektieren von Geschichten, in Rollenspielen zu Alltagssituationen oder beim Führen eines Lern- und Ressourcentagebuchs. Zudem gibt es zahlreiche gute schulspezifische Programme zur Umsetzung des Lehrplans und Förderung der psychischen Gesundheit sowie ein nationales Netzwerk gesundheitsfördernder Schulen.

6. Zuversicht stärkt

Die aktuellen gesellschaftlichen Belastungen, verursacht durch die Pandemie und den Ukrainekrieg, wirken sich auch auf Kinder und Jugendliche aus. Das will ich keinesfalls negieren. Und trotzdem ist mir etwas ganz wichtig: Wir sollten nebst allen Herausforderungen und Schwierigkeiten, welche das persönliche und gesellschaftliche Leben prägen, den Fokus immer und besonders auf das Positive richten! Es sind die positiven Gedanken, die Erfolgserlebnisse und die glücklichen Momente, die uns darin stärken, uns zuversichtlich den Anforderungen zu stellen und mit Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten in die Zukunft zu blicken. Und positive Momente sollten wir so viele wie möglich schaffen.

Wir Erwachsene sind im Umgang mit Krisen ein grosses Vorbild für Kinder und Jugendliche. Insbesondere, indem wir zeigen, dass Tiefs auch zum Leben gehören, Krisen als Chancen genutzt und bewältigt werden können. Dieser Vorbildfunktion sollten wir uns stets bewusst sein. Wir können sie jedoch auch nur dann wahrnehmen, wenn wir in unserer Berufsausübung gesund sind und bleiben. Deshalb kommt der psychischen Gesundheit von Lehrerinnen und Lehrern ebenfalls eine grosse Bedeutung zu.

Die Kinder und Jugendlichen gestalten die Gesellschaft von morgen. Setzen wir alles daran, dass sie sich gesund entwickeln und zuversichtlich in ihre eigene Zukunft blicken können!

Sandra Locher Benguerel
ist Lehrerin an der Stadtschule Chur, Mitglied der Geschäftsleitung des Dachverbandes Lehrerinnen und Lehrer Schweiz LCH, Vizepräsidentin der Pädagogischen Hochschule Graubünden sowie Nationalrätin.

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