Ein Nothelferkurs für ­psychische Probleme - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Ein Nothelferkurs für ­psychische Probleme

Lesedauer: 7 Minuten

Rund ein Viertel der Kinder und Jugendlichen in der Schweiz haben psychische Probleme. Ein Erste-Hilfe-Kurs für psychische Gesundheit soll Eltern helfen, auf Alarmsignale richtig zu reagieren.

Text: Anja Lang
Bild: Philippe Leroux / Plainpicture

Samuel war immer ein aktiver und fröhlicher Bub, doch seit einiger Zeit verlässt der 14-Jährige nur noch selten sein Zimmer, hört Musik, zockt am Handy. «Geh doch mal raus und triff dich mit Freunden», versucht ihn seine Mutter zu ermuntern. «Kein Bock» oder «Lass mich einfach in Ruhe», kommt dann meist nur schroff zurück.

Samuels Mutter merkt, dass mit ihrem Sohn irgendwas nicht stimmt. Aber sie fühlt sich hilflos und weiss nicht, wie sie das Thema ansprechen soll: Ist es richtig, sich einzumischen? Und, was soll sie dann sagen? 

Vielen Eltern geht es in einer vergleichbaren Situation ähnlich. Während der Pubertät verändert sich das Verhalten und auch das Verhältnis der Jugendlichen zu ihren Eltern oft stark. Die Meinung der Gleichaltrigen rückt in den Vordergrund und die Eltern werden kaum noch als Vorbild oder Ratgeber, sondern zunehmend als «nervig» und «peinlich» empfunden.

«Eine Abgrenzung und ein gewisser Rückzug von den Eltern ist in der Pubertät völlig normal und gehört zum gesunden Abnabelungsprozess in diesem Alter mit dazu», erklärt Kurt Albermann, Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie -psychotherapie und Chefarzt am Sozialpädiatrischen Zentrum SPZ des Kantonsspitals Winterthur.

Auch Mütter und Väter, die spüren, dass etwas mit ­ihrem Kind nicht stimmt, scheuen sich oft, das Thema ­gezielt ­anzusprechen.

Wenn Jugendliche sich allerdings auch von ihren Freunden zurückziehen, oft entmutigt, depressiv oder aggressiv wirken, Suchtverhalten zeigen und kaum noch etwas unternehmen, könne das auf den Beginn einer psychischen Erkrankung hinweisen, so der Fachmann. 

Viele Betroffene behalten ihre Ängste, Selbstzweifel oder gar Selbsttötungsgedanken viel zu lange für sich. (Symbolbild)

Psychische Probleme gelten immer noch als Tabu

Manchmal merken Eltern gar nicht, dass ihr Kind leidet. Doch auch Mütter und Väter, die spüren, dass mit ihrem Kind etwas nicht stimmt, scheuen sich oft, den ersten Schritt zu tun und das Thema gezielt anzusprechen. Meist, weil sie nicht wissen, wie sie vorgehen sollen, und auch, weil sie Angst haben, etwas falsch zu machen.

«Psychische Probleme und psychische Krankheiten sind in unserer Gesellschaft immer noch ein grosses Tabu und mit vielen Vorurteilen behaftet», erklärt Roger Staub dieses zögerliche Verhalten. Staub ist Geschäftsleiter der Stiftung Pro Mente Sana mit Sitz in Zürich, die sich für die psychische Gesundheit in der Schweiz einsetzt.

«Menschen mit psychischen Problemen werden häufig stigmatisiert und gelten als schwach und nicht belastbar.» Aus diesem Grund behalten viele Betroffene Ängste, Selbstzweifel, depressive Gefühle oder gar Selbsttötungsgedanken viel zu lange für sich, statt sich jemandem anzuvertrauen und professionelle Hilfe zu erhalten. 

«Das Projekt Ensa, ‹Erste-Hilfe-­Kurse für die psychische Gesundheit› möchte daran aktiv etwas ändern und dazu beitragen, Berührungsängste abzubauen sowie insgesamt mehr Verständnis für Menschen mit psychischen Problemen zu schaffen», so Staub.

«Ensa» bedeutet in der Sprache der australischen Ureinwohner «Antwort» und ist die Schweizer Version des bereits Anfang 2000 in Australien entwickelten Programms «Mental Health First Aid». 2019 wurde Ensa von Pro Mente Sana mit Unterstützung der Beisheim Stiftung in der Schweiz etabliert.

Der ­Erste-Hilfe-Kurs für die psychische Gesundheit wurde zunächst für die Prävention und Früherkennung von psychischen Belastungen bei Erwachsenen entwickelt und ist in dieser Form als Pendant zum klassischen Nothelferkurs bei medizinischen Notfällen konzipiert. Experte Staub: «Sämtliche Inhalte des Kurses basieren auf wissenschaftlichen Erkenntnissen. Die erzielten Wirkungen werden ausserdem regelmässig in Studien untersucht und das Programm entsprechend weiterent­wickelt.» 

Psychische Probleme ernst nehmen
Deutlicher Anstieg während Corona-Krise:

Psychische Probleme bei Kindern und Jugendlichen sind leider keine Seltenheit. Die deutsche KiGGS-Studie aus dem Jahr 2014 ermittelte in epidemiologischen Studien, dass rund jedes fünfte Kind zwischen 3 und 17 Jahren psychische Auffälligkeiten oder Störungen zeigt. Die aktuelle UNICEF-Studie über die psychische Gesundheit von Jugendlichen in Liechtenstein und der Schweiz aus dem Jahr 2021 spricht sogar von rund 30 Pro­zent. «Insbesondere während der Corona-Epidemie hat es auch in der Schweiz einen deutlichen Anstieg an psychiatrischen ­Notfällen in den Ambulanzen gegeben», sagt Facharzt Kurt Albermann.

«Viele der betroffenen Kinder und Jugendlichen beklagten in dieser Zeit auch, dass ihre Sorgen und Nöte vom direkten Umfeld gar nicht wahrgenommen wurden», sagt der Kinder- und Jugendpsychiater Albermann. Diese Erkenntnis deckt sich mit den Ergebnissen der UNICEF-Studie, wonach rund ein Drittel der befragten Jugendlichen mit ihren Problemen alleine blieb. Die Gründe dafür sind unterschiedlich. «Manche Eltern sind mit ihren eigenen Sorgen und Problemen bereits so stark belastet, dass sie die Nöte ihrer Kinder nicht mehr erkennen – geschweige denn darauf eingehen und helfen können», weiss Albermann. Andere Eltern würden den Kummer oder gar Selbstmorddrohungen ihrer Kinder nicht ernst genug nehmen, sondern sie grob unter Pubertätsproblemen einordnen: «Das ist fatal, weil Selbstmord­gedanken leider immer das Potenzial bergen, in die Tat ­umgesetzt zu werden.»

Seit Herbst 2021 gibt es den Ensa-Kurs in der Schweiz auch mit dem Fokus auf Jugendliche. Dieser Erste-Hilfe-Kurs richtet sich an erwachsene Laien, denen Jugendliche anvertraut sind. Das können Eltern, Grosseltern, Lehrpersonen, Schulsozialarbeitende, Jugendgruppenleitende, Berufsbildnerinnen und -bildner sein.

Ziel dieses speziellen Kurses sei es, den Teilnehmenden Basiswissen über die psychische Gesundheit zu vermitteln und sie ausserdem dazu zu befähigen, Hinweise auf psychische Belastungen bei Jugendlichen rasch zu erkennen und sie von normalen Pubertätszeichen unterscheiden zu können. 

Wissen schafft Verständnis

«Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer werden in den Kursen über die häufigsten psychischen Krankheitsbilder Depression, Angsterkrankungen, Psychosen und Suchterkrankungen sowie über Essstörungen und Verhaltenssüchte aufgeklärt», sagt Staub.

Wie äussert sich depressives Verhalten? Wann muss ich davon ausgehen, dass meine Tochter eine Essstörung entwickelt hat? Und vor allem: Wie konfron­tiere ich sie mit meiner Vermutung? In Rollenspielen wird das Gelernte  praktisch umgesetzt und geübt.

Dazu schlüpfen die Teilnehmenden jeweils in die Rolle des Betroffenen, des Erst­helfers sowie eines Feedback gebenden Beobachters und lernen, anhand von fünf Schritten ein strukturiertes Erste-Hilfe-Gespräch zu führen.

Analog zu GABI, der vielen noch aus den früheren Nothelferkursen bekannten Abkürzung für die wichtigsten Handlungsschritte bei körperlichen Notfällen, heissen die fünf Schritte für die Erste Hilfe in psychischen Notlagen ROGER.

Das «R» steht dabei für «Reagiere», also Symptome richtig erkennen, einschätzen sowie Betroffene ansprechen und ihnen beistehen. Das «O» steht für «Offen und unvoreingenommen zuhören und kommunizieren». «G» ist das Kürzel für «Gib Unterstützung und Informa­tion», «E» für «Ermutige zu professioneller Hilfe» und das «R» bedeutet «Reaktiviere Ressourcen».

Am Ende des Erste-Hilfe-Kurses wird das Gelernte in einer Prüfung abgefragt und die Teilnehmenden erhalten ein Zertifikat. «Wie beim klassischen Erste-Hilfe-Kurs bleiben ausgebil­dete und zertifizierte Ersthelfende der Ensa-Kurse aber weiterhin Laien und stellen keine Diagnosen, sondern bieten Gespräche an und ermutigen Betroffene, bei Bedarf professionelle Unterstützung anzunehmen, um effektive Hilfe und Entlastung zu erhalten», räumt Staub ein.

Hier finden Eltern und Jugendliche Hilfe :

Schnelle fachliche Hilfe und ein 24-Stunden-­Beratungstelefon bieten Elternberatungsstellen wie Pro Juventute.
www.projuventute.ch

Unter der kostenlosen Telefonnummer 147 können sich hier auch Jugendliche in Not völlig anonym und kostenlos von anderen Jugendlichen per Chat oder Telefon beraten lassen.
www.147.ch

Auch der Elternnotruf bietet einen Erstkontakt für Eltern und eine Einschätzung, wann der Gang zum Spezialisten ratsam wäre. www.elternnotruf.ch

Tipps, Informationen und Angebote zum Thema psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen rund um das Coronavirus finden Betroffene und ­Interessierte auf der Plattform «Dureschnufe».
www.dureschnufe.ch

Anonyme und kostenlose E-Beratung sowie ­persönliche Beratung und diverse Infofilme gibt es beim Institut Kinderseele Schweiz, das bei der psychischen Erkrankung eines Elternteils Hilfe anbietet.
www.kinderseele.ch

Mehr Sicherheit zu Hause 

Seit dem Start der Jugendkurse in der Schweiz Ende letzten Jahres haben bereits über 500 Personen teilgenommen. Eine davon ist ­Bianca Indino aus Kreuzlingen TG, Mutter von drei Kindern. «Ich habe den Kurs ‹Fokus Jugendliche› vor allem im Hinblick auf meine dama­lige Funktion als Schulsozialarbeiterin an der Berufsfachschule absolviert», sagt Indino.

«Ich wollte schwierige Situationen mit Teenagern besser einschätzen und sicherer reagieren können.» Dabei habe sie besonders von den Rollenspielen profitiert. «Zum einen konnte ich üben, das Gelernte praktisch anzuwenden, und zum anderen mich in die betroffene Person hineinzuversetzen und etwa zu merken, wie unangenehm es ist, wenn Fragen zu schnell kommen oder Pausen fehlen.» 

Sie fühle sich nun auch in ­herausfordernden Situationen deutlich sicherer und empfehle den Kurs allen Eltern, sagt eine teilnehmende Mutter.

Aber auch persönlich und als Mutter hat die 43-Jährige viel gelernt. «Durch den Kurs bin ich auch im Umgang mit meinen eigenen Kindern viel sensibler geworden. Ich weiss jetzt, wie wichtig es ist, schon früh eine Vertrauensbasis zu schaffen und offen über Emotionen zu sprechen», betont Indino.

Sie ­fühle sich nun auch in herausfordernden Situationen als Mutter deutlich sicherer und könne den Kurs daher nicht nur Eltern mit schwierigen Jugendlichen, sondern grundsätzlich allen Familien mit Kindern empfehlen, um psychische Erkrankungen möglichst gar nicht erst entstehen zu lassen beziehungsweise sie so früh wie möglich erkennen und behandeln lassen zu können. 

Im Ernstfall den Notarzt rufen

Doch nicht jeder hat die Zeit oder das Geld, um in einen Erste-­Hilfe-Kurs für psychische Gesundheit zu investieren. «Ausserdem ist der Ensa-Kurs vor allem präventiv, also vorbeugend gedacht», betont Kinderpsychiater Kurt Albermann.

Bei akuten ­Notfällen wie einer Selbstmorddrohung kann es entscheidend sein, sofort ­fachliche Unterstützung zu ­erhalten.

«Er bildet die Teilnehmenden nicht zu therapeutischen Fachpersonen aus. Deshalb ist es wichtig, seine persönlichen Grenzen gut zu kennen und entsprechend zu beachten.» Denn in manchen Fällen, etwa wenn bereits massive Probleme bestehen oder es zu einem akuten Notfall wie einer Selbstmorddrohung oder gar einem Selbstmordversuch kommt, kann es entscheidend sein, sofort fachliche Unterstützung zu erhalten.

«Eltern oder Erziehungsberechtigte sollten sich dann an den Hausarzt beziehungsweise Kinderarzt wenden und bei Gefahr im Verzug auf keinen Fall zögern, auch eine psychiatrische Notfallambulanz, einen psychiatrischen Notdienst oder die Polizei zu kontaktieren», so Albermann.

Erste Hilfe bei psychischen Problemen

Rund ein Viertel der Kinder und Jugendlichen haben psychische Probleme. Der Erste-Hilfe-Kurs «Fokus Jugendliche» für psychische Gesundheit soll Eltern helfen, auf Alarmsignale richtig zu reagieren.

 

  • Der Erste-Hilfe-Kurs «Fokus Jugendliche» kann als ­Präsenzveranstaltung vor Ort, aber auch ortsunab­hängig als Live-Webinar in deutscher, französischer oder ­englischer Sprache besucht werden.
  • Der Kurs richtet sich an erwachsene Laien, denen Jugendliche anvertraut sind.
  • Die Kursdauer beträgt insgesamt 14 Stunden (plus Pausen) und ist ­thematisch in vier Module à 4,5 Stunden gegliedert, die an unterschiedlichen Tagen stattfinden.
  • Die Buchung erfolgt über die Internetseite der Stiftung Pro Mente Sana bzw. über www.ensa.swiss
  • Die Kosten betragen 450 Franken. Als bisher einzige Krankenkasse vergütet die Swica bei einer Zusatzversicherung einen Anteil der Kurskosten.

Anja Lang
Anja Lang ist langjährige Medizinjournalistin. Sie ist Mutter von drei Kindern und lebt mit ihrer Familie in der Nähe von München.

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