Schulabsentismus: Wenn die Schule zur Qual wird
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Wenn die Schule zur Qual wird

Lesedauer: 12 Minuten

Das chronische Fernbleiben vom Unterricht wird an Schweizer Schulen immer mehr zum Problem. Die Gründe für Schulabsentismus sind vielfältig, immer häufiger ist Angst im Spiel. Wie sollten Lehrpersonen und Schulleitung reagieren? Und wie können Eltern ihre Kinder stärken?

Text: Sandra Markert
Bilder: Ladina Bischof / 13 Photo

Es ist Zeit für das Znüni im Time-out-Angebot in Schaffhausen. Leon*, 16, und Tim*, 10, schmieren sich am gros­sen Holztisch Konfi auf ihr Brot. Der Platz von Simon* (*Namen geändert), 14, ist heute leer – was schon viel von seiner Geschichte erzählt. Simon kommt erst am Nachmittag. Wenn überhaupt. Wochenlang ist er gar nicht mehr zur Schule gegangen, hat sich in seinem Zimmer eingeschlossen. Nach Gesprächen mit Eltern, Lehrern und Schulpsychologen folgte eine Diagnose: Schulangst. Dann ein Klinik­aufenthalt, um mit der Angstthematik umgehen zu lernen. Jetzt der Versuch der Reintegration, zuerst über das Time-out-Angebot.

Früher kamen nur ­Oberstufenschüler zu uns, die keine Lust mehr hatten, in die Schule zu gehen.

Claudia Solenthaler-Flubacher, Leiterin Time-out-Angebot Schaffhausen

Die kleine Schule mit nur acht Tischen ist in einem gemütlichen Mehrfamilienhaus untergebracht. Sie nimmt Schülerinnen und Schüler des Kantons Schaffhausen auf, die sich in der Regelschule in einer schwierigen Situation befinden. Das können Verhaltensauffälligkeiten sein, Probleme mit dem Lernen – oder eben mit dem Schulbesuch ganz grundsätzlich.

Betroffene werden immer jünger

«Früher hatten wir nur Oberstufenschüler, die nicht mehr zur Schule gegangen sind, weil sie keine Lust hatten. Falsche Kollegen, nächte­langes Gamen, solche Dinge», erzählt Claudia Solenthaler-Flubacher, Sozialpädagogin und Leiterin des Time-out-Angebots. Sie nennt diese Gruppe die klassischen Schulschwänzer, die vor allem dann Hilfe brauchen, wenn das Blau­machen zum Dauerzustand wird. Seit einigen Jahren kommen aber auch regelmässig Schüler wie Simon ins Time-out-Angebot, die nicht gegen den Schulbesuch rebellieren, sondern Angst davor haben. Häufig sind diese Schüler noch nicht in der Pubertät. 

Was aber macht Buben und Mädchen im Zusammenhang mit der Schule Angst? Warum schaffen es Schüler wie Simon morgens nicht mehr ins Schulgebäude, klagen zu Hause über Bauch- oder Kopfschmerzen – und das wochen- oder gar monatelang? Warum betrifft das immer mehr Kinder, oft bereits im Primarschulalter? Was können Eltern und Lehrpersonen tun, um diesen Schülern zu helfen? Und wie gelingt es, Kinder so zu stärken, dass sie gut durch die Schulzeit kommen? Diesen Fragen geht das vorliegende Dossier nach.

Der 13-jährige Tom wollte nicht mehr zur Schule – aus Angst, gehänselt zu werden. Ein Time-out-­Angebot hat ihm geholfen. Lesen Sie hier seine Geschichte.

Schwierige Datenerhebung

Egal ob man Lehrpersonen, Eltern, Schulpsychologinnen oder Schul­sozialarbeiter fragt: Mädchen oder Buben, die dem Unterricht fern­bleiben, sind immer wieder Thema an Schweizer Schulen. Rund zehn Prozent der Schülerinnen und Schüler gehören gemäss der Pisa-Studie aus dem Jahr 2015 zur Gruppe der Schulabstinenten. Von Schulabsentismus spricht man, wenn Lernende regelmässig ganz oder stundenweise nicht zur Schule kommen, ohne krank zu sein. Die Ursachen dafür sind vielfältig, zu den häufigsten gehören Schulunlust und Schulangst. 

Neuere Daten oder Zahlen, die gezielt das Phänomen Schulangst für die Gesamtschweiz abfragen, gibt es laut dem Dachverband Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH) nicht. Ähnlich sieht die Lage in Deutschland aus. Hier hat der Kinder- und Jugendreport der Krankenkasse DAK letztmals im Jahr 2018 Zahlen zum Thema veröffentlicht. Damals wurden in Deutschland bei 3,5 Prozent aller Schulkinder Schulangst oder Schulphobie diagnostiziert und behandelt. Schulpsychologische Beratungsstellen berichten auch hier, dass die Zahlen in den letzten Jahren massiv zugenommen haben, und gehen davon aus, dass bis zu 20 Prozent aller Schulkinder betroffen sind.

Vielschichtige Ursachen für Schulangst

Die dürftige Zahlenlage hängt Fachleuten zufolge damit zusammen, dass Schulangst sehr vielschichtige Ursachen hat: die Trennung von den Eltern, soziale Angst vor Zurückweisung durch Mitschüler oder Lehrerinnen sowie Leistungs- und Versagensängste. Hinzu kommt, dass viele Betroffene sich keine Hilfe suchen oder nicht offen zu ihren Ängsten stehen, weshalb die Dunkelziffer hoch sein dürfte.

Neben den täglichen Erfahrungen von Lehrern, Psychologinnen und Eltern liegen aktuelle Befragungen einzelner Schulen oder Kantone vor, die eine Tendenz für die gesamte Schweiz aufzeigen. Zum Beispiel die Ende Dezember 2023 veröffentlichte Gesundheitsbefragung des Zürcher Schulamtes unter 2000 Schülerinnen und Schülern der zweiten Sekun­darklasse. Dort gaben 15 Prozent der befragten Mädchen und 12 Prozent der befragten Jungen an, im Schuljahr 2022/23 ganze Schultage gefehlt zu haben, ohne krank gewesen zu sein.

Angst ist etwas furchtbar Ansteckendes. Sind die Eltern ängstlich, übertragen sie das aufs Kind.

Irene Fontanilles, Schulleiterin

Mehrmals eine Stunde geschwänzt haben 10 Prozent der Mädchen und 6 Prozent der Jungen. Bei der letzten Befragung im Schuljahr 2017/2018 waren es bei beiden Geschlechtern noch 7 Prozent gewesen, die angegeben hatten, wiederholt und häufig absichtlich einzelne Stunden oder ganze Tage der Schule ferngeblieben zu sein. 

Psychische Störungen nehmen zu

Schaut man sich die Gründe an, warum das Fernbleiben vom Unterricht in den vergangenen vier Jahren an Zürcher Schulen zugenommen hat, wird deutlich: Es liegt nicht etwa daran, dass die Schülerinnen und Schüler fauler oder lustloser geworden wären. Vielmehr gibt es innerhalb der Gruppe der Schulabstinenten einen signifikanten Anteil an Kindern, die Anzeichen von psychischen Problemen wie Depressionen oder Angststörungen zeigen oder angeben, wegen Bauch- oder Kopfschmerzen nicht zur Schule gegangen zu sein.

Das deckt sich mit einer traurigen Premiere, die das Bundesamt für Statistik Ende 2022 vermeldete: Erstmals waren psychische Störungen, hauptsächlich Depressionen und Angststörungen, der häufigste Grund für stationäre Spital­aufenthalte bei 10- bis 24-Jährigen – häufiger als Verletzungen, Unfälle oder körperliche Krankheiten. 

Was aus den Zahlen nicht hervorgeht, ist der kausale Zusammenhang zwischen den psychischen Pro­blemen und der Schule. Sind die betroffenen Kinder nicht stabil, stark und selbstbewusst genug, um den Schulalltag zu meistern, und bleiben deshalb zu Hause? Oder sind die Schulen nicht mehr ausreichend in der Lage, die Schülerinnen und Schüler zu unterstützen, etwa aufgrund von Lehrpersonenmangel? Schauen sie mehr auf Leistung denn auf persönliches Befinden und schüren dadurch Ängste?

Übervorsichtige Eltern

Die Antwort liegt irgendwo dazwischen. Hört man sich an Primarschulen um, erzählen Lehrpersonen von Erstklässlern, die jeden Morgen von den Eltern bis ins Klassenzimmer gebracht werden und bei der Trennung weinen. Von Eltern, die die Hausaufgaben für ihr Kind er­ledigen und auf dem Pausenplatz auftauchen, um Konflikte ihrer ­Kinder mit Mitschülerinnen und Mit­schülern zu klären. Es fallen Begriffe wie Helikoptereltern und Überbehütung. 

«Kinder müssen darin bestärkt werden, selbst Steine aus dem Weg zu räumen», sagt Schulleiterin Irene Fontanilles. 

«Wir leben heute in einer Welt, die übervorsichtig geworden ist, die versucht, sehr vieles zu kontrollieren. Das betrifft auch Eltern. Weil es aber trotz Babyfon, Smartwatch, Elterntaxi und unzähligen Versicherungen nicht möglich ist, Kinder rund um die Uhr zu beschützen, nehmen die Ängste zu», sagt Irene Fontanilles. Sie leitet die Klinikschule an der Universitären Psychiatrischen Klinik Basel und beschäftigt sich schon seit vielen Jahren mit dem Thema Schulabsentismus, zuletzt verstärkt mit Schulangst.

«Angst ist etwas furchtbar Ansteckendes. Sind die Eltern ängstlich, übertragen sie das aufs Kind. Hat ein Kind in der Schule Angst, werden auch die Lehrpersonen vorsichtiger. Wir alle müssten den Kindern wieder mehr zutrauen. Kinder müssen darin bestärkt werden, selbst Steine aus dem Weg zu räumen», sagt die Schulleiterin.

Vermehrt Schulangst seit der Corona-Pandemie

Dass es vielen Kindern an Selbständigkeit, Selbstbewusstsein und Selbstwirksamkeit mangelt, beobachtet Irene Fontanilles schon seit etwa zehn Jahren. Die Zahl der Patientinnen und Patienten mit Schulangst hat in ihrer Klinikschule seit der Corona-Pandemie aber noch einmal zugenommen.

«Während der Corona-Lockdowns ist viel Einüben von Sozialverhalten auf der Strecke geblieben. Man muss schliesslich auch lernen, wie man sich von seinen Eltern trennt. Wie man den Anschluss an eine neue Gruppe findet. Wie man damit umgeht, wenn man mal geärgert oder ausgeschlossen wird. Wie man die Aufmerksamkeit von Lehrpersonen erhält, sich zurücknimmt oder sich trotz Lärm konzentriert», sagt Irene Fontanilles.

Ich sehe, dass viele Schüler und Schülerinnen sehr hohe Anforderungen an sich stellen und streng zu sich sind.

Magnus Jung, Leiter Sekundarschule

In geschlossenen Kindergärten und Schulen aber konnte dieses Sozialverhalten nicht trainiert werden. «Und wenn man keine Strategien parat hat, um mit solchen Situationen umzugehen, kann einen der Schulalltag schnell überfordern und auch Angst einjagen», sagt Fontanilles.

Resilienzfähigkeit bei Kindern sinkt

Magnus Jung ist Schulleiter der Sekundarschule Befang in Sulgen TG. Dort gehen rund 190 Jugendliche zur Schule, drei davon kommen aktuell nicht zum Unterricht. «Das Thema Schulabsentismus hat in den vergangenen vier, fünf Jahren auch bei uns an der Schule stark zugenommen und ist seitdem dauerhaft präsent. Und es sind immer jüngere Kinder betroffen», sagt Magnus Jung.

Auch er beobachtet, dass die Resilienzfähigkeit der Jugendlichen stetig sinkt – unter anderem weil Eltern sehr stark auf die Bedürfnisse ihrer Kinder eingehen. «Ich sehe aber auch, dass viele Schülerinnen und Schüler heute streng zu sich selbst sind, an sich selbst sehr hohe Anforderungen stellen. Das kommt sicherlich auch durch die sozialen Medien und kann zu einer Überforderung führen, wenn man das nicht erfüllen kann», sagt Magnus Jung.

Auf Plattformen wie Tiktok, Instagram und Youtube findet sich immer jemand, der hübscher, beliebter, sportlicher oder glücklicher daherkommt, als man sich selbst sieht. ­Forscher des Leibniz-Instituts für Bildungsforschung und Bildungs­information haben dieses sogenannte Aufwärtsvergleichen in sozialen Medien untersucht und festgestellt: Es nagt am Selbstwertgefühl. Dies wiederum kann eine starke Angst vor Ablehnung oder Versagen hervorrufen. Auch gilt ein schwaches Selbstwertgefühl als Risikofaktor für die Entwicklung verschiedener psychischer Störungen, darunter auch für Depressionen.

Das Tückische an einer Angststörung

Simon, der Junge mit Schulangst aus Schaffhausen, war während der Corona-Lockdowns zehn Jahre alt. Auch er hat damals viel Zeit daheim mit seinen Eltern verbracht statt mit Gleichaltrigen. Als die Schulen wieder normal öffneten, fand er nicht mehr richtig in den Schulalltag zurück; kam irgendwann gar nicht mehr aus seinem Zimmer heraus.

Auf Rat der Schulpsychologen überredeten ihn seine Eltern schliesslich zu einem Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik. Dort geht es vor allem auch darum, dass die Kinder schnell wieder eine Schule besuchen. «Je länger man das, was einem Angst macht, meidet, umso schwieriger wird es. Das ist das Tückische an einer Angststörung», sagt Irene Fontanilles.

Über das Time-out-Angebot soll sich Simon langsam wieder an normale Schultage und eine soziale Gemeinschaft mit anderen Kindern gewöhnen. Er hilft auch beim Kochen des gemeinsamen Mittagessens, beim Tischdecken und Abräumen.

«Je länger man das, was einem Angst macht, meidet, umso schwieriger wird es», sagt Schulleiterin Irene Fontanilles.

Selbständig werden, Pflichten übernehmen, Dinge erledigen, auf die man keine Lust hat: Überall dort setzen die Sozialpädagoginnen an, um die Schüler mit genügend Rüstzeug zu wappnen, bevor sie schrittweise wieder in ihre Schulen und zu den vielen Mitschülern zurückkehren. «Wir sind auch einmal in der Woche im Wald unterwegs, gehen jeden Freitag klettern und übernachten regelmässig in der freien Natur, gern in einer Höhle», erzählt Claudia Solenthaler-Flubacher. 

Auf Privatschulen ausweichen

Vor allem die Eltern seien oft erstaunt darüber, was ihre Kinder alles schaffen würden – wenn man sie nur lässt. Und wie sehr sie aufblühen im kleinen Umfeld mit acht Schülern, zwei Lehrpersonen und zwei Sozialpädagoginnen. Nicht wenige Eltern entscheiden sich im Anschluss an das Time-out-Angebot dazu, ihr Kind nicht mehr auf die Regelschule, sondern auf eine Privatschule zu schicken – mit kleineren Klassen, einer persönlicheren Betreuung.

Staatliche Schulen sollten so verändert werden, dass sie das bieten, was viele bei Privatschulen suchen.

David Rapold, Lehrer Time-out-Angebot Schaffhausen

David Rapold, der als Klassenlehrer im Time-out-Angebot arbeitet, kann diese Entscheidung der Eltern gut nachvollziehen. Gutheissen kann er sie jedoch nicht. «Es kann nicht der richtige Weg sein, dass immer mehr Kinder und Eltern den staatlichen Schulen den Rücken kehren, weil sie ihre Bedürfnisse nicht mehr erfüllen. Ich sehe es als Aufgabe unseres Landes an, dass es die staatlichen Schulen so verändert, dass sie das bieten, was viele heute bei Privatschulen suchen», sagt David Rapold.

Die Rolle der Schulen

Sind es also auch die Schulen, die dazu beitragen, dass Schülerinnen und Schüler den Unterricht inzwischen meiden? Spricht man mit Eltern von Kindern mit Schulangst, hört man häufig Dinge wie: «Die grosse Schule, die vollen Klassen, dieser Herausforderung war mein Kind nicht gewachsen.» – «Auf die besonderen Bedürfnisse meines Kindes mit Lese-Rechtschreib-Schwäche wurde nicht gut eingegangen.» – «Die Lehrperson war ständig krank, das hat mein Kind verunsichert.»

Eine Lehrerin aus dem Kanton St. Gallen, die nicht namentlich genannt werden möchte, gibt zu: «Wir haben seit Corona so viele Probleme in den Klassen, sind ohnehin total überlastet. Wenn dann Schüler nicht kommen, die vielleicht ohnehin etwas mühsamer sind, ist man ganz froh.»

Am Personalmangel in den Schulen wird sich so schnell nichts ändern, an der Klassengrösse wohl auch nicht. Der Dachverband Lehrerinnen und Lehrer Schweiz wies kürzlich darauf hin, dass die Schülerzahlen bis zum Jahr 2030 um 8 bis 11 Prozent wachsen dürften. Allein auf der Primarstufe würden dann 13 000 Lehrpersonen fehlen. Der Schullalltag für rund eine Million Schweizer Schulkinder geht trotzdem weiter. Und viele Schulen versuchen, das Beste aus der Situation zu machen – und möglichst allen Schülerinnen und Schülern eine gute Schulzeit zu ermöglichen.

Wir sind eh total überlastet. Wenn dann ein mühsamer Schüler nicht erscheint, sind wir ganz froh.

Lehrerin aus dem Kanton St. Gallen

Dazu gehören auch kluge Strategien, wie man Schulabsentismus möglichst früh erkennen und ihm entgegenwirken kann. Die rechtlichen Grundlagen für den Umgang mit Absenzen sind in den kantonalen Schulgesetzen geregelt. Ausgangspunkt ist überall die generelle Schulpflicht, für deren Einhaltung die Erziehungsberechtigten verantwortlich sind. Wird sie verletzt, treten unterschiedliche Massnahmen in Kraft.

Wie diese aussehen können, haben einige Kantone wie beispielsweise St. Gallen oder Zug in konkreten Handlungsleitfäden niedergeschrieben. Darüber hinaus ist jede Schule selbst verantwortlich. Denn: «Die Situationen der Schüler und Familien sind immer wieder anders und die Massnahmen müssen angepasst werden», sagt Matthias­ Obrist, der Leiter des Schulpsychologischen Dienstes der Stadt Zürich.

Was macht Schule zu einem guten Ort?

Kompetenz, Autonomie und Bindung: Diese drei Grundbedürfnisse sind entscheidend für unser Wohlbefinden. «Sie gelten auch für Schülerinnen und Schüler», sagt Tina Hascher, Professorin an der Universität Bern.

1. Kompetenzerleben: Menschen möchten etwas dazulernen und diese Lernfortschritte sehen. Auf die Schule übertragen bedeutet das: Kinder werden weder unter- noch überfordert und bekommen eine gute, persönliche Rückmeldung über ihre Lernfortschritte – nicht nur über Tests oder Noten. «Da wird Kindern häufig nur vor Augen geführt, was sie noch nicht können», so Tina Hascher.

2. Autonomie und Mitbestimmung: ­Darunter fallen Dinge wie selbstreguliertes Lernen, Gruppenarbeiten oder Mitspracherecht bei Unterrichtsthemen.

3. Soziale Eingebundenheit: Freunde in der Klasse, Lehrpersonen, die einen schätzen, eine Klassengemeinschaft, die niemanden ausschliesst – all das sorgt für eine emotionale Sicherheit, welche die Voraussetzung dafür ist, sich überhaupt auf den Unterrichtsstoff einlassen zu können.

Die deutschen Pädagogen Heinrich Ricking und Viviane Albers nennen in ihrem Buch «Schulabsentismus» verschiedene Präventionsmassnahmen, um Absenzen an Schulen vorzubeugen. Als wichtigstes Ziel taucht auch darin auf, Kindern in der Schule Lern- und Entwicklungsprozesse zu ermöglichen und sie daran zu beteiligen.

Als weiterer kraftvoller Präventionsfaktor wird eine vertrauensvolle Beziehung zwischen Lehrperson und Kind genannt sowie eine kompetente Klassenführung, welche sozialen Phänomenen wie Mobbing vorbeugt. Hinzu kommt eine intensive Elternkooperation mit gegenseitigem Vertrauen und Strukturen, die in schwierigen Situationen aktiviert werden können.

Schulabsentismus früh erkennen

Die Sekundarschule Befang in Sulgen hat ein vierstufiges Monitoring eingeführt, um Schulabsentismus möglichst früh zu erkennen. Darin ist unter anderem klar geregelt, ab welcher Anzahl von Fehlstunden der Kontakt zu den Eltern, zur Schulsozialarbeit oder zum kinder- und jugendpsychiatrischen Dienst gesucht wird. «Gerade die Eltern sind sehr erleichtert, wenn wir das Thema von uns aus ansprechen, uns für die Kinder interessieren und Hilfe anbieten», sagt Magnus Jung. Denn für viele Eltern ist es ein schwerer Schritt, von sich aus zugeben zu müssen, dass sie es nicht schaffen, ihr Kind zum Schulbesuch zu motivieren. Erst recht, wenn es den Eindruck erweckt, sich nicht wohlzufühlen.

«Es tut den Müttern und Vätern gut, von uns zu hören, dass Schulabsentismus kein Einzelfall ist, sondern dass auch andere betroffen sind. Und es beruhigt sie, zu hören, dass die meisten Kinder die Kurve wieder kriegen, vor allem, wenn wir früh aktiv werden», so der Schulleiter. Er hat in den vergangenen Jahren aber auch gelernt, dass das Problem weder von den Eltern noch von der Schule allein gelöst werden kann. «Es funktioniert nur, wenn wir Fachleute wie Schulsozialarbeit oder auch Fachkliniken mit ins Boot holen.»

Vor allem aber tauscht sich Magnus Jung viel mit seinen Kolleginnen darüber aus, wie man die Schule zu einem Ort machen kann, den die Schüler gern besuchen. «Dass wir eine gewisse Leistung fordern müssen, können wir nicht ändern», sagt er. Ihm ist es aber wichtig, immer auch den Menschen hinter dem Schüler zu sehen und dafür zu sorgen, dass er eine Lernumgebung vorfindet, in welcher er sich wohlfühlt und Erfolge erleben darf. Dass das bei 190 Jugendlichen und entsprechend grossen Klassen eine Herausforderung ist, verschweigt er nicht.

Die wichtigsten Begriffe auf einen Blick

Schulabsentismus: Von Schulabsentismus spricht man, wenn Schülerinnen und Schüler der Schule regelmässig ganz oder stundenweise fernbleiben, ohne krank zu sein. Der Schulabsentismus ist nur das oberflächliche Symptom, ein Hilferuf für tiefer liegende persönliche oder soziale Schwierigkeiten, die sehr vielfältig sind: keine Lust, Probleme mit dem frühen ­Aufstehen, Depressionen, Kümmern um kranke Eltern oder jüngere Geschwister oder eben die Angst.

Schulunlust: Fehlt es Jugendlichen ­dauerhaft an Motivation oder Disziplin, zur Schule zu gehen, fällt häufig der Begriff Schulunlust. Vom Fernbleiben vom Unterricht wissen die Eltern meist nichts. Experten beobachten in diesen Fällen von Dauerschwänzen oft aggressive Charakterzüge sowie soziale und psychische Probleme, auch Depressionen. Nicht selten werden Jugendliche auch von der Clique mitgezogen, die das rebellische Aufbegehren gegen Regeln befeuert. Ausgeprägtes Schulschwänzen nimmt mit dem Alter zu und steht in einem engen Zusammenhang mit schulischen Misserfolgen. Viele Schulschwänzer fühlen sich in Bezug auf die Schule frustriert und überfordert, wobei auch negative Kontakterfahrungen mit Lehrpersonen und Mitschülerinnen und -schülern dazu beitragen.

Schulangst: Die Vorstellung, ihre Schule betreten zu müssen, macht betroffenen Schülern so grosse Angst, dass sie es morgens nicht schaffen, das Haus zu verlassen – oder vor der Schule wieder umkehren. Sie können mit Leistungsdruck nicht umgehen, haben Bewertungs- oder Versagensängste bei Prüfungen, fühlen sich den sozialen Situationen in der Schule nicht gewachsen, leiden unter Mobbing, Selbst­unsicherheit oder bleiben nicht gern in der Schule, weil sie ihre Eltern vermissen. Bei Schulangst fehlen die Kinder nicht selten entschuldigt durch die Eltern oder durch ein ärztliches Attest – weil sie oft auch somatische Symptome wie Kopf- und Bauchschmerzen haben.

Sandra Markert
ist freie Journalistin und Mutter von drei Kindern im Kindergarten- und Primarschulalter. Sie lebt mit ihrer Familie am Bodensee.

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