«Es ist okay, Angst zu haben»
Flucht ist nicht immer eine gute Lösung, weiss Psychologin Sonja Hasler. Sie arbeitet mit Kindern, die unter Schulangst leiden, und erklärt, wie Mädchen und Buben lernen können, damit umzugehen.
Frau Hasler, warum entwickeln manche Kinder eine so grosse Angst vor der Schule, dass sie monatelang lieber in ihrem Zimmer bleiben, statt in die Schule zu gehen?
Wohl jedes Schulkind erlebt im Laufe seiner Schulzeit Situationen, die ihm nicht so gut gefallen oder die ihm gar Angst machen. Meist haben die Kinder aber Strategien parat, wie sie damit umgehen können. Wir nennen das Selbstwirksamkeit. Die Kinder haben die innere Überzeugung, schwierige oder herausfordernde Situationen selbständig meistern zu können.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Ein Kind wird auf dem Pausenplatz von anderen Kindern gehänselt. Es kann jetzt sagen, dass es das nicht mag. Oder einfach nicht so genau hinhören und mit anderen Kindern weiterspielen. Oder sich bei einer Lehrperson Hilfe suchen. Wenn es einem aber an Selbstwirksamkeit fehlt, dann hat man das Gefühl, nichts unternehmen zu können – also verlässt man den Pausenplatz. Wählt man diese Flucht, passiert im Gehirn etwas, das eine Angststörung begünstigt.
Nämlich?
Das Kind merkt: Die Angst nimmt ab, sobald ich die Situation meide. Für das Gehirn ist das wie eine Bestätigung. Das gerade Erlebte war wirklich gefährlich und ich habe es gerade noch geschafft, zu überleben.
Und deshalb wird man nächstes Mal wieder auf Vermeidung setzen?
Genau. Normalerweise haben wir ein gutes Gleichgewicht im Gehirn, um Gefahren richtig einzuschätzen. Es gibt einmal das emotionale Zentrum, das leicht reizbar ist. Sobald wir eine unangenehme oder gefährliche Situation erleben, versetzt es den Körper in Alarmbereitschaft. Als eine Art Ausgleich gibt es den präfrontalen Cortex. Er reguliert die Reaktion wieder, fährt die Angst runter. Im Beispiel oben: Die Kinder haben mich zwar geärgert, aber ich komme damit klar, also kann ich mich wieder beruhigen. Erlebt ein Kind nun aber häufig Situationen, die ihm Angst machen und in denen es nicht weiss, wie es sich verhalten soll, dann wird das emotionale Zentrum im Gehirn ständig gereizt und zeigt eine Überreaktion. Die Alarmbereitschaft wird chronisch und schwer regulierbar, dadurch kann sich die Angst dann auch auf andere Situationen ausweiten.
Zu den Eltern sagen die Kinder dann häufig: Ich habe Bauchschmerzen oder Kopfweh. Macht sich die Angst tatsächlich körperlich bemerkbar?
Angst ist eine extreme Stresssituation für den Körper. Wir sind sehr angespannt, Hormone werden ausgeschüttet und das spürt man auch. Hinzu kommt, dass die meisten Eltern ein Kind vermutlich nicht zu Hause lassen würden, wenn es sagt: Ich mag heute nicht gehen, ich hatte gestern Ärger mit einem Mitschüler. Bei Krankheitsanzeichen wie Übelkeit sieht es anders aus.
Ich werde die Angst nur wieder los, indem ich mich ihr stelle und merke: Ich überlebe das!
Experten mahnen, ein Kind möglichst nicht länger zu Hause zu behalten, wenn man das Gefühl hat, es habe Angst vor der Schule. Warum?
Weil ich die Angst nur wieder loswerden kann, indem ich mich der Situation stelle und merke: Ich überlebe das. Man muss dem überreagierenden Hirn wieder beibringen, dass die Schule nicht gefährlich ist. Meistert man einen Schultag, wirkt sich das auf den Selbstwert aus, wie eine Belohnung. Bleiben Kinder dagegen längere Zeit zu Hause, kommen weitere Dinge dazu, die ihnen Angst machen: Sie verpassen Stoff, befürchten danach vielleicht schlechtere Noten. Und was sagt man den Lehrern oder Mitschülern, wenn man plötzlich wieder kommt?
Trotzdem fällt es Eltern schwer, Kinder in die Schule zu schicken, die sich unwohl fühlen oder weinen.
Für Eltern ist Schulangst etwas sehr Gemeines: Sie sehen, dass ihr Kind leidet. Bleibt es zu Hause, geht es ihm sofort besser, das fühlt sich also wie eine gute Hilfe an. Trotzdem sagen Lehrerinnen und Psychologen: Es ist wichtig, dass das Kind geht. Oft haben Eltern dann das Gefühl, nicht verstanden zu werden.
Wie gehen Sie vor, wenn Sie Kinder mit Schulangst behandeln?
Zunächst geht es darum, in Gesprächen mit dem Kind, den Eltern und den Lehrpersonen herauszufinden, welche Situationen für das Kind problematisch sein könnten. Wir erklären auch den Angstmechanismus und wie er etwa mit Bauchschmerzen zusammenhängt. Dann muss sich das Kind schrittweise der angstmachenden Situation stellen und lernen, die Stolpersteine – meist einen Angstanfall – zu bewältigen und wieder in die Schule zu gehen. Damit der Körper dabei nicht komplett in den Angstmechanismus übergeht, zeigen wir dem Kind zum Beispiel, wie es Gelassenheit finden kann, damit es die Angst möglichst schnell wieder selbständig runterregulieren kann.
Wird man Schulangst je wieder los?
Das ist gar nicht das Ziel. Es ist okay, Angst zu haben. Es geht darum, einen gesunden Umgang mit der Angst zu finden. Ich muss wissen, wie ich sie aushalten und die Situationen meistern kann, die mir Angst einflössen. Auch dazu ein Beispiel: Die Dunkelheit kann uns unsicher oder ängstlich machen. Damit müssen wir umgehen. Wir können etwa lernen, mit Nachtlicht zu schlafen oder immer eine Taschenlampe mitzunehmen. Die Angst vor der Dunkelheit bleibt, aber sie ist überwindbar. Mal ist sie schwächer, mal stärker. So kann es auch bei der Schulangst Rückschläge geben.
Das bedeutet, dass das Kind auch wieder zu Hause bleiben möchte?
Ja. Aber früher hat es dann vielleicht eine Woche gebraucht, um überhaupt wieder einen Versuch zu unternehmen, zur Schule zu gehen. Wenn es die Situation kennt und Strategien gegen die Angst parat hat, kann ein Tag zu Hause schon reichen.
Sie haben erwähnt, dass Selbstwirksamkeit ein wichtiger Schutz ist gegen Ängste. Wie können Eltern das fördern?
Ein Teil davon liegt in der Persönlichkeit des Kindes. Aber vieles wird auch eingeübt, und da können Eltern aktiv werden. Indem sie Kinder Herausforderungen erleben und meistern lassen, ihnen etwas zutrauen und Verantwortung übertragen. Dazu gehören auch Pflichten wie den Tisch decken oder den Abfallsack rausbringen. Dinge also, auf die Kinder vielleicht nicht unbedingt Lust haben. Sie lernen dabei aber: Ich muss das trotzdem machen – und ich kann mich auch überwinden, das zu tun. Und statt Leistungen zu loben, heben Eltern vielmehr den Prozess hervor, der dazu geführt hat, denn das motiviert die Kinder. Also: Du hast Mathe geübt, jetzt kannst du das Einmaleins schon besser, das ist prima. Das Kind lernt, dass es durch Üben seinen Kenntnisstand selbständig verbessern kann. Welche Note dabei herauskommt, ist dagegen nicht so wichtig