Selbstverletzungen: Nichts entspannt so rasant wie der Schmerz
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«Nichts entspannt so rasant wie der selbst zugefügte Schmerz»

Lesedauer: 10 Minuten

Ritzen, Verbrennen, Schlagen – Kinder- und Jugendpsychiater Frank Köhnlein therapiert junge Patientinnen und Patienten, die sich selbst schädigen. Er weiss, warum Selbstverletzungen zunehmen und wie Eltern darauf reagieren sollten.

Interview: Evelin Hartmann
Bilder: Kostas Maros / 13 Photo

Herr Köhnlein, Selbstverletzungen bei Jugendlichen nehmen hierzulande zu. Wie viele Buben und Mädchen sind betroffen?

Einer von vier Jugendlichen hat Erfahrungen mit Selbstverletzungen. Das ist eine immens grosse Zahl. Man muss dieses Phänomen aber differenziert betrachten. Viele machen das nur ein-, zweimal. Ein Bub oder Mädchen probiert es aus, schneidet sich mit einer Rasierklinge oder verbrennt sich mit einer Zigarette, vielleicht weil die anderen im Freundeskreis das auch machen – und lässt es bald wieder sein, da es ihm beziehungsweise ihr nichts bringt. Etwa ein Viertel von denen, die es ausprobieren, wiederholt es aber immer wieder. Und diese Fälle, die uns Sorgen machen, nehmen zu. Das ist richtig.

Was sagen Sie einer Mutter, deren zehnjährige Tochter ständig an den Fingernägeln kaut? Ist das schon der Beginn von selbstverletzendem Verhalten?

Ohne das Mädchen zu kennen, würde ich sagen: Nein. Bei einer Zehnjährigen ist das Nägelkauen möglicherweise nichts anderes als eine Autostimulation – vielleicht weil sie mehr Reize erzeugen will oder weil sie zu vielen Reizen ausgesetzt ist und sie das Nägelkauen beruhigt. Die Grenzen sind dabei allerdings fliessend.

Frank Köhnlein, 56, ist Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie. Seit 2018 hat er eine eigene Praxis in Basel. Davor war er 16 Jahre lang Oberarzt an der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Universitätsklinik Basel. Er ist Mitglied der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde des Kantons Basel-Stadt, Dozent, Supervisor und Buchautor von Krimis über Kinder- und Jugendpsychiatrie («Vollopfer», «Kreisverkehr», «Krankmachen»). Er lebt mit seiner Familie in Basel.

Ich habe eine jugendliche Patientin, die kratzt sich immer wieder am ganzen Körper, selbst im Gesicht, und fügt sich so unzählige Wunden zu. Sie sagt, sie könne nicht anders handeln, habe aber nicht den Impuls, sich weh zu tun. In diesem Fall hat die Selbstschädigung einen zwanghaften Charakter. Relevant für die Unterscheidung ist, ob es eine Absicht gibt, sich selbst zu schädigen und Schmerzen zuzufügen.

Ab wann spricht man von selbstverletzendem Verhalten?

Im Prinzip verletzt sich jeder Mensch mehr oder weniger selbst. Auch Tätowieren, das Stechen von Ohrlöchern oder das Enthaaren der Beine sind ja selbstschädigende Handlungen. Doch definitionsgemäss müssen vier Faktoren erfüllt sein, damit man von selbstverletzendem Verhalten sprechen kann.

Welche Faktoren sind das?

Es muss eine Handlung sein, die – anders als Tätowieren oder Ohrlochstechen – kulturell nicht akzeptiert ist, und es muss eine Schädigung des Körpers stattfinden. Ausserdem dürfen diese Handlungen nicht mit der primären Absicht begangen werden, sich zu töten, sonst ist es eine suizidale Handlung.

Selbstverletzungen erfüllen immer einen Zweck, sie sind nie absichtslos.

Korrekterweise müsste man also von nicht-suizidalem selbstverletzendem Verhalten (NSSV) sprechen. Als vierter Aspekt bleibt, dass Selbstverletzungen immer einen Zweck erfüllen, der vermeintlich nicht anders erfüllt werden kann, sie sind also nie absichtslos.

Welchen Zweck kann es haben, sich selbst Schmerzen zuzufügen?

Wir kennen zwei Motivlagen: Die eine ist die intrapsychische, die andere die interpersonelle. Bei der intrapsychischen Motivlage geht es vor allem darum, Emotionen zu regulieren, also beispielsweise Druck oder Stress abzubauen. Der Schmerz tut mir gut, das fliessende Blut zu sehen, erdet mich. Ich habe mein Leben im Griff. Oder ich will mich mit dem Schmerz selbst bestrafen. Nicht ganz zufällig ist Mobbing eines der Hauptmotive für selbstverletzendes Verhalten.

Inwiefern?

Als Mobbingopfer erfahre ich durch mein Umfeld ständig Verletzungen und Kränkungen. Irgendwann mache ich mir das zu eigen und denke: Ich bin eben ein Versager und habe es nicht anders verdient. In dem Fall dient das Ritzen als Selbstbestrafung. Bei solchen intrapsychischen Motiven ist das Verhalten in der Regel sehr schambesetzt und die Wunden oder Hämatome werden versteckt. Diese Jugendlichen kommen auch im Sommer mit langen Hosen oder Sweatshirts in die Schule. Ganz anders bei der interpersonellen Motivlage, bei der ein Jugendlicher durch seine Selbstverletzung seinem Umfeld etwas mitteilen möchte.

Nennen Sie uns bitte ein Beispiel.

Eine meiner Patientinnen wurde über einen langen Zeitraum von ihrem Vater sexuell missbraucht. Sie wollte ihm mit ihren Schnitten zeigen: Das hast du mit mir gemacht! Ausserdem nahm sie so Kontakt zu ihrer Mutter auf. Sie wusste, wenn sie mit ihren Schnitten zu ihrer Mutter, einer Ärztin, in die Küche kommt, wird sie fürsorglich verarztet und liebevoll umsorgt – in einem sonst emotional kühlen Elternhaus. Sie sagte: «In diesen Momenten konnte ich richtig gut mit meiner Mutter sprechen.»

Viele Jugendliche, die in grosser Not sind, sagen, es tue ihnen gut, wenn Blut fliesse.

Eine andere Patientin hat ihre blutverschmierte Bettwäsche in den Wäschekorb gelegt, um auf ihre seelische Not aufmerksam zu machen. Ihre Mutter hat diese wochenlang gewaschen und gebügelt, ohne ihre Tochter darauf anzusprechen. Sie war wohl – so interpretierte das die Jugendliche – schlichtweg überfordert mit der Situation.

Welches sind die häufigsten Formen von Selbstverletzungen?

Es gibt nichts, was es nicht gibt, aber weitaus am häufigsten kommt das Ritzen beziehungsweise Schneiden vor. Viele Jugendliche, die in grosser Not sind, sagen, es tue ihnen gut, wenn Blut fliesse. Sie müssen daher so tief schneiden, bis ausreichend kommt. Aber es gibt auch andere Fälle: Verbrennungen durch Lötkolben, Bügeleisen, Flammen, Zigaretten, Verletzungen bis hin zu Knochenbrüchen durch Schläge oder Prellungen, schwerwiegendste Verletzungen durch Säure.

Das Schneiden mit scharfen Instrumenten – Skalpellen, Japanmessern – kann bis zu Beinahe- Amputationen und anderen Verstümmelungen gehen. Ich hatte mal eine Patientin, die genau wusste, wie viel Schmerzmittel sie nehmen muss, um Kopfschmerzen zu bekommen, aber nicht mit Leberversagen auf der Intensivstation zu landen. Sie wollte keine weiteren Narben auf den Armen und hat daher diese «Lösung» gefunden, sich selbst weh zu tun.

Es geht also eher um den Schmerz als um das bleibende Mal.

Richtig, das Mal ist sogar eher schambesetzt. Aber die aktuelle Schädigung des Körpers, das Erzeugen von Schmerz – am besten in Verbindung mit Blut – ist sehr wichtig. Nichts anderes entspannt offenbar so rasant. Danach setzt aber bei den meisten Jugendlichen schnell ein Gefühl der Scham und der Angst ein, entdeckt zu werden.

Dann werden die Wunden kaschiert.

Genau, weil die Jugendlichen mit ihrer eigenen Handlung überfordert sind. Was habe ich denn da gemacht? Aber es hat bemerkenswerterweise gutgetan. Ein klassisches intrapsychisches Motiv. Doch dann denken die Jugendlichen: Ich will auf keinen Fall, dass es entdeckt wird. Darauf angesprochen, lautet eine typische Erklärung: Ich bin in den Busch gefallen oder die Katze hat mich gekratzt.

Nach der Selbstverletzung setzt bei den meisten Jugendlichen schnell ein Gefühl der Angst ein, entdeckt zu werden.

Aber irgendwann wollen sie in der Regel, dass es entdeckt wird, um auf ihre Not aufmerksam zu machen – das wäre dann das interpersonelle Motiv. Oder es ist ihnen schlichtweg egal, dass die Wunden zu sehen sind.

Ist der Suizid die extremste Form der Selbstverletzung?

Was feststeht, ist, dass Selbstschädigungen ein Hauptrisikofaktor für das Suizidverhalten sind. Jene, die sich in der Vergangenheit wiederholt selbst verletzt haben, haben ein bis zu 40-mal höheres Suizidrisiko. Andererseits dient die Selbstverletzung oftmals als Strategie, um sich eben gerade nicht zu töten. Man spricht hier von partieller, das heisst teilweiser Selbsttötung. Die Selbstverletzung ist eine Art schützender Kompromiss, um sich nicht umzubringen. Wenn dieses Verhalten aber nicht angesprochen und behandelt wird, kann es in letzter Konsequenz bis zum Suizid führen.

Also steigert sich das selbstverletzende Verhalten.

Das geschieht zumindest sehr häufig. Weil man sich an den Schmerz gewöhnt, er einen nicht mehr in dem Mass entlastet, wie man es sich wünscht, werden die Verletzungen mit der Zeit gravierender. Man nennt dieses Phänomen Toleranzentwicklung. Das kennen wir ja auch von suchtartigem Verhalten – ich brauche eine immer höhere Dosis, um eine Wirkung zu spüren.

Steht selbstverletzendes Verhalten immer in Verbindung mit einer psychischen Störung?

Nein, die Ursachen sind keinesfalls immer psychopathologisch. Etwa ein Drittel der Jugendlichen, die sich immer wieder selbst verletzen, sind nicht psychisch krank. Wobei es darauf ankommt, wie man «psychopathologisch» definiert. Da ist ein Spannungszustand, den man nicht aushält, beispielsweise in familiären Stresssituationen.

Wenn Wunden ­offen gezeigt werden, ist das schon eine Botschaft.

Die Eltern streiten ständig, der Sohn sitzt in seinem Zimmer und hält das Geschrei nicht mehr aus. Gamen hilft ihm nicht mehr, also ritzt er sich. Man könnte natürlich sagen, dass die Selbstverletzung eine Reaktion auf eine akute Belastung ist, aber eine wirkliche psychiatrische Erkrankung, wie eine Persönlichkeits- oder Entwicklungsstörung, eine Zwangserkrankung, Depression oder Angststörung, liegt nur in etwa zwei Dritteln der Fälle vor. Die Ursachen sind eben nicht immer krankhaft.

Sondern?

Manche Jugendliche wollen sich beispielsweise einer gewissen Gruppe zugehörig zeigen oder sich von den Eltern abgrenzen: Schaut her, ich bin kein Baby mehr, meine Haut ist nun versehrt. Auch diese Intention entspricht ja keiner psychischen Störung, sondern es ist Teil der Entwicklung, auch wenn die Mittel, die gewählt werden, nicht «normal» sind.

In welchem Alter beginnt selbstverletzendes Verhalten?

Das Alter verschiebt sich ein bisschen, aber nicht sehr schnell nach unten. Statistisch gesehen liegt das typische Einstiegsalter bei 13 bis 14 Jahren, der Gipfel liegt bei etwa 15  bis 16 Jahren, ab 17 Jahren sinkt die Rate wieder.

Welche Rolle spielen die sozialen Medien?

Natürlich spielen Tiktok, Instagram, Youtube und andere eine grosse Rolle. Buben und vor allem Mädchen bewegen sich in diesen Netzwerken und sehen die Bilder oder sogar Videos von sich ritzenden Gleichaltrigen und kommen dadurch vielleicht erst auf die Idee, so etwas auszuprobieren. Und wenn es ihnen Erleichterung bringt, dann werden sie es höchstwahrscheinlich wiederholen.

Frank Köhnlein im Gespräch mit der stellvertretenden Fritz+Fränzi-Chefredaktorin Evelin Hartmann.

Ich habe eine Jugendliche einmal gefragt, wie sie auf das Ritzen gekommen sei, ob sie es irgendwo gesehen habe. Sie verneinte meine Frage. Die Idee sei ihr einfach so gekommen. Ich glaube nicht so ganz, dass das stimmte. Für dieses Verhalten braucht es Vorbilder. Und diese sind heute leichter zugänglich.

Demnach sind mehr Mädchen als Buben betroffen?

Etwa ein Drittel der selbstverletzenden Jugendlichen sind männlich. Wobei man vorsichtig sein muss. Buben verletzen sich häufig auf eine Art und Weise, die besser zu verstecken ist. Sie fügen sich beispielsweise eher Prellungen zu und erklären ihren Eltern glaubhaft, sie seien gestürzt. Ich habe auch einige Jungs gesehen, die sich oberhalb der T-Shirt- Armgrenze geritzt haben. Dort, wo es angezogen auch im Sommer nicht zu sehen ist. Buben nehmen auch weniger Hilfe in Anspruch.

2021 wurden laut Bundesamt für Statistik 3124 Patientinnen und Patienten im Alter von 10 bis 24 Jahren wegen Selbstverletzung oder Suizidversuch hospitalisiert, was gegenüber 2020 einer Zunahme von 26 Prozent entspricht. Worauf führen Sie diese Entwicklung zurück?

Die grössere Verbreitung selbstverletzenden Verhaltens aufgrund von Social Media haben wir bereits besprochen. Viele Fachleute sehen auch eine Zunahme des gesellschaftlichen Drucks und eine damit einhergehende Verunsicherung. Vor dem Hintergrund der aktuellen Krisen wie der Corona-Pandemie, dem Ukraine-Krieg und der Klimaerwärmung mag das richtig sein. Grundsätzlich wäre ich mit dieser Aussage aber vorsichtig.

Ich vertraue in der Regel sehr auf die intuitive Kompetenz von Eltern.

Jede Generation hatte ihre Herausforderungen und Krisen und musste einen Weg finden, damit umzugehen. Ich persönlich glaube nicht, dass die jungen Leute von heute gestresster sind als die vor 20 oder vor 40 Jahren.

Haben Sie noch eine weitere Erklärung?

Selbstverletzendes Verhalten ist eine andere Umgangsform bei Druck, Belastungen, Traumatisierungen oder Ängsten – all diese Faktoren hat es aber auch schon in der Vergangenheit gegeben. Ende des 19. Jahrhunderts war die Ohnmacht die Art und Weise, auszudrücken, dass man in irgendeiner Art psychisch übererregt oder belastet war. Nach den Wirtschaftswunderjahren kamen die Essstörungen auf. Und während die Zahl der Essstörungen – von den Pandemiejahren einmal abgesehen – in den letzten Jahrzehnten nur noch moderat gewachsen ist, hat seit den 1980er- und 1990er-Jahren das selbstverletzende Verhalten stark zugenommen.

Wie reagiere ich als Vater beziehungsweise Mutter richtig, wenn ich Kratzspuren oder gar Schnitte auf den Unterarmen meines Teenagers entdecke?

Ich würde diese Verletzungen nicht gleich ansprechen, aber beobachten. Sind diese Wunden nach vier bis fünf Tagen abgeheilt? Oder sind sie immer noch frisch oder entstehen sogar neue? Wenn solche Wunden offen gezeigt und nicht versteckt werden, ist das schon eine Botschaft und die Aufforderung: Seht her! Ganz prinzipiell: So ein Verhalten muss angesprochen werden. Bevor ich das anspreche, würde ich mir gut überlegen, wie ich das tue, damit ich nicht einfach impulsiv meinen Teenager überrumple.

Frank Köhnlein erzählt im Video, von welchen Störungen Kinder und Jugendliche am meisten betroffen sind und auf welche Warnsignale Eltern achten sollten.

Gesetzt den Fall, die Wunden bleiben: Wie spricht man das richtig an?

Ich würde das physische Symbol, die Wunde oder Narbe, zum Anlass nehmen, meine Sorge auszudrücken: «Du, mir fällt seit ein paar Tagen auf, dass du verletzt bist. Was ist da passiert? Ich mache mir Gedanken über dich, was ist los?» Dann sagt der Teenager in der Regel: «Ach nix, lass mich.» – «Na ja, das ist ein bisschen schwierig für eine Mama oder einen Papa, dich bei so etwas in Ruhe zu lassen, weil ich nicht will, dass dir irgendjemand weh tut, auch du dir selber nicht.»

Die Tiefe der Wunde korreliert mit der Tiefe der Not.

Ich würde auch darauf drängen, dass man die Verletzungen dem Kinderarzt zeigt: «Ich könnte mir vorstellen, dass sich die Stelle entzünden kann, und dann sieht es nachher übel aus. Lass mal den Doktor draufschauen.» Oder auch mit mehr Nachdruck: «Ich will, dass sich das mal ein Arzt anschaut.» Der Kinderarzt wird das Kind beiseitenehmen und sagen: «Wie ist denn das passiert?» Wenn das Kind sein Verhalten einräumt, wird ein feinfühliger Arzt sagen: «Vielleicht hast du manchmal Druck, kannst du mit jemandem darüber reden?» Ansonsten wird der Kinderarzt vielleicht sagen: «Okay, komm nächste Woche noch mal zur Kontrolle, bitte.»

Also sollen Eltern ihre Sorgen äussern.

Unbedingt! Aber ohne das Verhalten des Kindes zu beurteilen oder gar zu verurteilen. Man muss sich immer vergegenwärtigen: Egal, was für ein komisches Verhalten Kinder und Jugendliche an den Tag legen, es ist aus ihrer Sicht immer das bestmögliche Verhalten – und so sollten Eltern selbstverletzendes Verhalten auch betrachten und respektieren: Als einen Lösungsansatz, ein Zwischenschritt für etwas, für das eine bessere Lösung gefunden werden muss.

Ab wann muss selbstverletzendes Verhalten therapiert werden?

Es heisst, dass die Tiefe der Wunde mit der Tiefe der Not korreliert. Wenn ein Kind sich oberflächlich ritzt und das nicht öfter als dreimal im Jahr, muss man sich noch keine grossen Sorgen machen. Neuere Klassifikationen sprechen sogar von fünfmal im Jahr. Wenn es häufiger vorkommt beziehungsweise die Schädigungen gravierender werden und sich dieses Verhalten nicht plausibel erklären lässt, sollte der Kinderarzt aufgesucht werden. Mit ihm können dann weitere Schritte besprochen werden.

Also ist der Kinderarzt auch bei psychischen Auffälligkeiten immer die erste Anlaufstelle.

Richtig. Eltern sind manchmal viel alarmierter, als sie sein müssten. Und die Kinderärzte sehen, anders als die Eltern, nicht nur ein, zwei oder drei Kinder, sondern dreihundert bis fünfhundert und können besser einschätzen, was der Normalität entspricht. So gehört es beispielsweise auch in den Bereich des Normalen, wenn sich ein junger Mensch hin und wieder betrinkt oder kifft.

Auch wenn ich als Psychiater von diesem Verhalten nichts halte, empfiehlt es sich für Eltern ein Stück weit, defensiv und «watchful waiting» zu sein, also aufmerksam abwartend zu beobachten. Ich kann als Vater beziehungsweise Mutter ein solches Verhalten in einem gewissen Rahmen zulassen, aber ich lasse es nicht aus dem Fokus.

Und wann sollte man sich Sorgen machen beziehungsweise eine professionelle Einschätzung der Situation einholen?

Das ist natürlich abhängig vom Alter des Kindes, aber grundsätzlich würde ich sagen: Wenn die Verletzung gravierend ist, sowieso. Ansonsten immer dann, wenn ich mir das Verhalten nicht mehr erklären beziehungsweise mich nicht mehr beruhigen kann – oder wenn das Verhalten so stark abweichend ist, dass ich das für mich nicht mehr in den breiten Bereich von «Normalität» einordnen kann, auch wenn das natürlich recht subjektiv ist. Ich vertraue in der Regel sehr auf die intuitive Kompetenz von Eltern, und wenn diese unsicher sind, sollen sie den Kinderarzt fragen. Und in vielen Fällen kann dieser erst einmal Entwarnung geben.

Evelin Hartmann
ist stellvertretende Chefredaktorin von Fritz+Fränzi. Sie wohnt mit ihrem Mann und den zwei Töchtern in Luzern.

Alle Artikel von Evelin Hartmann

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