Von Narzissten umgeben?
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Von Narzissten umgeben?

Lesedauer: 4 Minuten

Sie sind in aller Munde, dabei handelt es sich beim Narzissmus um eine schwere und seltene Persönlichkeitsstörung. Zeit also für ein Plädoyer, nicht leichtfertig mit diesem Begriff zu hantieren.

Text: Stefanie Rietzler
Illustration: Petra Dufkova / Die Illustratoren

Allerorts wird vor narzisstischen Partnerinnen oder Partnern und Elternteilen gewarnt: Nicht, ohne der Leserschaft oder den Zuschauern und Hörern entsprechende «Diagnoseinstrumente» an die Hand zu geben wie «9 Sätze, an denen man narzisstische Eltern erkennt» oder «Ist dein Partner ein Narzisst? Diese vier Merkmale sprechen dafür!» 

Auch vor Kindern macht diese Zuschreibung nicht Halt: Unzählige Artikel drohen, dass wir unseren Nachwuchs zu kleinen Narzisstinnen und egoistischen, lebensunfähigen Tyrannen erziehen.

Dabei zeigt eine gross angelegte Studie unter der Leitung der ­Psychologin Eunike Wetzel an der Universität Konstanz, die mit über 60 000 jungen Erwachsenen über 30 Jahre hinweg durchgeführt ­wurde, das Gegenteil: Narzissmus hat seit den 1990er-Jahren bei beiden Geschlechtern kontinuierlich abgenommen. 

Narzissten haben keine Wahl

Doch was genau ist Narzissmus? Der Begriff entspringt einer Figur der griechischen Mythologie. Der schöne Narziss, ein umschwärmter Junggeselle, geht auf keinerlei Avancen seiner Verehrer und Verehrerinnen ein und wird von der Rachegöttin Nemesis zur Strafe für seine Überheblichkeit verflucht: Er wird dazu verdammt, sich unsterblich in sein eigenes Spiegelbild zu verlieben. Eines Tages spiegelt er sich in der Wasseroberfläche einer Quelle und ist so gebannt, dass er sich nicht mehr losreissen kann – so lange, bis er schliesslich verkümmert und sich in eine bedeutungslose Narzisse verwandelt. 

Während die Narzissmus-Keule in der Gesellschaft sehr schnell geschwungen wird, ist die narzisstische Persönlichkeitsstörung, wie sie im Diagnostischen und Statistischen Manual Psychischer Störungen (DMS-5) beschrieben wird, sehr selten. Diese beginnt meist im frühen Erwachsenenalter und zeichnet sich durch ein tiefgreifendes Muster aus mehreren Symptomen aus: Betroffene haben ein übertriebenes und unbegründetes Gefühl, ein besonderer und grossartiger Mensch zu sein. Sie erwarten von anderen stete Bewunderung sowie eine Vorzugsbehandlung und möchten oft nur mit besonders angesehenen Menschen verkehren.

Ihr Denken wird von der Vorstellung dominiert, unendlich mächtig, erfolgreich, schön und intelligent zu sein oder zu werden. Ihren Mitmenschen begegnen sie oft ohne Empathie und beuten sie zum eigenen Vorteil aus. Nach aussen hin wirken sie schnell arrogant und überheblich. Neid spielt in ihrem Alltag eine zentrale Rolle, sei es, weil sie anderen Menschen gegenüber missgünstig sind, oder weil sie davon überzeugt sind, dass diese sie beneiden.

Eine narzisstische Persönlichkeitsstörung wird erst dann diagnostiziert, wenn diese Merkmale so stark ausgeprägt und unflexibel sind, dass sie für die Betroffenen zu erheblichen Problemen in verschiedenen Lebensbereichen wie Beruf, Partnerschaft, Freundschaften und Familie führen beziehungsweise sie und/oder andere Menschen darunter leiden. 

Verhätschelt oder missachtet?

Während jeder Mensch in bestimmten Situationen narzisstische An­teile zeigt, indem er beispielsweise angibt, teilweise wenig einfühlsam reagiert oder sich selbst ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt, bleiben Menschen mit einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung in ihren Verhaltensweisen gefangen, auch wenn ihnen dadurch massive Nachteile entstehen. 

Als Ursache für die Entwicklung dieser Störung wird ein Zusammenspiel aus genetischen Faktoren und Umgebungsbedingungen angenommen. Mehrere psychologische Theorien gehen davon aus, dass die Erziehung eine wesentliche Rolle spielt. So sieht die soziale Lerntheorie narzisstische Züge als Folge übermässigen elterlichen Verhätschelns und der permanenten Botschaft an das eigene Kind, dass es etwas ganz Besonderes und Aussergewöhn­liches sei und deshalb auch eine Sonderbehandlung verdient habe.

Immer häufiger wird in ­Konfliktsituationen jemand vorschnell als Narzisst etikettiert. Damit ist auch gleich die Schuldfrage geklärt.

Andere Theorien gehen davon aus, dass sich Narzissmus entwickelt, wenn Kinder von ihren Bezugspersonen zu wenig Zuspruch, Anerkennung und Liebe erfahren oder sich dies durch herausragende Leistungen hart erkämpfen müssen. Das überzogene, grandiose Selbst wird in vielen Erklärungsansätzen auch als Strategie angesehen, um ein sehr niedriges Selbstwertgefühl zu kompensieren. In der Forschung findet man einzelne Belege für verschiedene Erklärungsansätze – ein eindeutiges Ursachenmodell hat sich aber bisher nicht herauskristallisiert.  

Kinder oder Partnerinnen, die mit einem Menschen mit einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung zusammenleben, sind erheblichem Leid ausgesetzt. Denn für ihre eigenen Bedürfnisse, Ziele und Wünsche gibt es oft keinen Platz: Sie fühlen sich unsichtbar. Meist stehen sie unter dem Druck, sich tadellos zu verhalten und den Betroffenen ja nie zu kritisieren oder zu kränken. Oft sind sie auch Abwertungen, Liebesentzug, emotionalen Ausbrüchen und psychischer Gewalt ausgesetzt.

Die Familienmitglieder müssen teilweise als Statussymbol herhalten, dabei aber immer darauf achten, dass sie die Aufmerksamkeit nicht zu stark von der betroffenen Person abziehen. In diesen Familien leidet meist auch das gegenseitige Ver­trauen. Nie weiss man, welche grossartigen Geschichten man dem Betroffenen glauben kann, weil Narzisstinnen beziehungsweise Narzissten häufiger lügen, sich nur schwer in andere einfühlen und den Angehörigen kaum echten emotionalen Halt bieten können. 

Eine Zuschreibung mit Folgen

Die Allgegenwärtigkeit des Narzissmus-Themas sowie der beträchtliche Coaching-Markt, der sich daraus ergeben hat, bereitet mir manchmal Sorgen. Immer häufiger lässt sich nämlich beobachten, dass in Konflikt- oder Trennungssituationen ein Partner, meist der Mann, vorschnell als Narzisst etikettiert wird. Der Elternteil, der den anderen mit dieser selbst gestellten Diagnose belegt, scheint plötzlich entlastet. Augenblicklich ist nicht nur ein «eindeutiger Grund» für das Scheitern der Beziehung gefunden, sondern auch die Schuldfrage geklärt.

Aus einem Konflikt, für den beide Verantwortung übernehmen müssten, wird in diesen Fällen ein klares Täter-Opfer-Schema. Aus dieser Perspektive ist es in der Folge anscheinend nur «logisch», den Kontakt zum anderen Elternteil zu minimieren und die eigenen Kinder in die entsprechende Richtung zu beeinflussen.

Buchtipp

Ich liebe dich, so wie du bist
Wie wir die Gefühle unserer Kinder annehmen, verstehen und liebevoll begleiten.

Stefanie Rietzler und Fabian Grolimund. Herder 2023, ca. 30 Franken.

Wir alle möchten, dass sich unsere Kinder in der Beziehung zu uns sicher, geborgen und geliebt fühlen:

Aber oft scheitern wir als Eltern an der Realität. Unsere Kinder können uns mit ihren emotionalen Ausbrüchen überfordern und uns mit ihrem Verhalten zur Weißglut treiben.

Sie drücken unsere Knöpfe, wühlen in alten Wunden und schon fahren unsere Gefühle Achterbahn: Plötzlich reagiert man unverhältnismäßig stark, wird laut und patzig, droht und schmollt, ist auf einmal so tief verletzt, verzweifelt oder hilflos. Hinterher tut es einem leid, man schämt sich und versteht nicht, wie man wieder einmal so aus der Haut fahren konnte.

Niemandem gelingt es immer, gelassen und einfühlsam zu reagieren. Aber wir können uns mit unseren Kindern auf den Weg machen: Gemeinsam können wir lernen, unsere Gefühle besser zu verstehen, sie anzunehmen und konstruktiv auszudrücken. An manchen Tagen gelingt uns das ­besser, an anderen schlechter. Wichtig ist, dass unsere Kinder merken, dass wir uns immer wieder darum bemühen.

Aufbauend auf den besten Kolumnen aus dem Schweizer Elternmagazin Fritz+Fränzi von Fabian Grolimund und Stefanie Rietzler begleitet Sie dieses Buch auf diesem Weg: Mit vielen konkreten Alltagsbeispielen, Übungen und Impulsen für herausfordernde Situationen.

Für den als Narzissten gelabelten Partner ist es fast unmöglich, das Umfeld vom Gegenteil zu überzeugen. Jeglicher Kontaktversuch, jede Erklärung, Rechtfertigung, aber auch ehrliches Verständnis oder ein Schuldeingeständnis für eigene Fehler, ja sogar ein gutes Wort über die Ex-Partnerin, kann als Manipulationsversuch gedeutet werden. 

So wichtig es für tatsächlich Betroffene und ihre Familien ist, die Unterstützung zu bekommen, die sie brauchen, so wichtig ist es auch, sich vor einer unprofessionellen und vorschnellen Zuschreibung einer solch schwerwiegenden Diagnose zu hüten.

Stefanie Rietzler
ist Psychologin und Autorin. Gemeinsam mit Fabian Grolimund leitet sie die Akademie für Lerncoaching, ein Beratungs- und Weiterbildungsinstitut. Sie lebt mit ihrem Mann und ihrem Sohn in Zürich.

Alle Artikel von Stefanie Rietzler

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