Ist unser Selbstwertgefühl angeboren?
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Ist unser Selbstwertgefühl angeboren?

Lesedauer: 4 Minuten

Der Entwicklungspsychologe Ulrich Orth erforscht das Selbstwertgefühl. Er erklärt, weshalb im Erwachsenenalter der Selbstwert typischerweise am höchsten ist – und wie die Selbstliebe Kindern und Jugendlichen hilft, sich in der Schule und im Freundeskreis wohlzufühlen.

Interview: Claudia Landolt
Bild: Salvatore Vinci / 13 Photo

Herr Orth, viele Menschen glauben, dass der Selbstwert angeboren ist. Stimmt das?

Das Selbstwertgefühl ist tatsächlich zu einem Teil angeboren. Allerdings spielen Umweltfaktoren eine etwas grössere Rolle als die Gene. So haben insbesondere soziale Erfahrungen einen prägenden Einfluss, beispielsweise die Beziehungen eines Kindes zu seinen Eltern und Peers oder später im Erwachsenenalter die Qualität von Partnerschaften, Freundschaften und die allgemeine soziale Einbindung der Person.

Es gibt also kein Selbstwert-Gen?

Nein. Bestimmte menschliche Eigenschaften wie Persönlichkeit, Aussehen und Gesundheit werden von einer Vielzahl genetischer Faktoren beeinflusst. Solche genetisch bedingten Eigenschaften entscheiden dann mit über die vielen Erfahrungen, die eine Person in ihrem Leben macht. Verträgliche, kluge und sozial kompetente Menschen werden von anderen eher wertgeschätzt und entwickeln in der Folge ein besseres Selbstwertgefühl als Menschen, die weniger gemocht werden.

Zur Person: Ulrich Orth ist seit 2014 ausserordentlicher Professor für Entwicklungspsychologie an der Universität Bern. Seine Forschungs­schwerpunkte liegen in den Bereichen Selbstwertgefühl und Persönlichkeits­entwicklung.  (Bild: Oliver Oettli)
Ulrich Orth ist seit 2014 ausserordentlicher Professor für Entwicklungspsychologie
an der Universität Bern. Seine Forschungs­schwerpunkte liegen in den Bereichen Selbstwertgefühl und Persönlichkeits­entwicklung. (Bild: Oliver Oettli)

Sie haben kürzlich eine Studie zum Einfluss der Eltern auf das Selbstwertgefühl veröffentlicht. Wie lauten die wichtigsten Ergebnisse?

Für diese Arbeit habe ich Daten aus einer bevölkerungsrepräsentativen Langzeitstudie aus den USA verwendet, in der mehrere Tausend Kinder von der Geburt bis ins Erwachsenenalter begleitet wurden. Die Ergebnisse zeigten, dass sich anhand der Qualität des Erziehungsverhaltens das spätere Selbstwertgefühl der Kinder am besten vorhersagen liess. Zudem legten die Analysen nahe, dass die frühe familiäre Umwelt einen langfristigen Effekt hat. Der Einfluss wurde zwar im Verlauf der Entwicklung etwas kleiner, aber er verschwand nicht, sondern war auch noch im Erwachsenenalter beobachtbar.

Die Erfahrungen aus der frühen Kindheit können das Selbstwertgefühl eines Menschen also über die gesamte Lebensspanne hinweg prägen?

Richtig. Allerdings ist der Einfluss der frühen Kindheit nicht deterministisch: Eine positive Entwicklung ist auch bei ungünstigen familiären Verhältnissen möglich, wie umgekehrt eine problematische Entwicklung trotz guten familiären Verhältnissen.

Man hat als Eltern oft das Gefühl, jüngere Kinder hätten ein grosses Selbstvertrauen. Stimmt das?

Lange wurde vermutet, dass die Selbstwahrnehmung im Alter von vier, fünf Jahren tendenziell übertrieben positiv ist, dass das Selbstbild ungefähr ab dem Schuleintritt realistischer zu werden beginnt und dass dies bei vielen Kindern zu Verlusten im Selbstwertgefühl führt. Forschungsergebnisse zeigen jedoch, dass dies nicht der Fall ist. Typischerweise steigt das Selbstwertgefühl vom Vorschulalter bis zum Alter von etwa zehn bis zwölf Jahren an und bleibt dann auf diesem Niveau in den Jahren der Pubertät.

Wer mit 16 Jahren zu denjenigen gehört, die viele Selbstzweifel haben, hat häufig auch mit 30 oder 50 Jahren ein etwas schwächeres Selbstwert­gefühl.

Die Pubertät ist also keine Krisenzeit für das Selbstwertgefühl?

Natürlich gibt es Jugendliche, deren Selbstwertgefühl in der Pubertät einen Tiefpunkt erreicht. Gleichzeitig gibt es aber auch Jugendliche, die in diesem Alter mehr Selbstakzeptanz entwickeln. Das Wohlbefinden von Teenagern ist häufig gar nicht so schlecht wie vermutet. Die Vorstellung, dass das Selbstwertgefühl in der Pubertät einen Tiefpunkt erreicht, könnte damit zusammenhängen, dass es in diesem Alter von Tag zu Tag stärker schwankt, als das im Erwachsenenalter der Fall ist. Bei Teenagern ist es nicht ungewöhnlich, dass ein Streit mit Freunden oder eine missglückte Prüfung vorübergehend starke Selbstzweifel hervorruft.

Wie entwickelt sich das Selbstwertgefühl nach der Pubertät? 

Im späteren Jugendalter und im Erwachsenenalter steigt das Selbstwertgefühl in der Regel weiter an bis zum Alter von etwa 60, 70 Jahren, wobei Lebensereignisse wie beispielsweise der Beginn einer Partnerschaft, eine Trennung oder eine schwere Erkrankung den individuellen Verlauf beeinflussen können. Erst im hohen Alter nimmt das Selbstwertgefühl typischerweise wie­der etwas ab.

Warum wird das Selbstwertgefühl im Laufe der Jahre immer stärker?

Die meisten Jugendlichen und Erwachsenen finden im Laufe der Entwicklung immer besser den Platz, der zu ihrer Persönlichkeit, ihren Fähigkeiten, Einstellungen und Interessen passt, beruflich wie privat. Dies ist vermutlich ein wichtiger Grund dafür, dass das Selbstwertgefühl über weite Teile der Lebens­spanne ansteigt. Allerdings sind dies Veränderungen, die sich über viele Jahre erstrecken. Radikale Verände­rungen gibt es beim Selbstwertgefühl in der Regel nicht. Das bedeutet: Wer mit 16 Jahren zu denjenigen gehört, die viele Selbstzweifel haben, hat häufig auch mit 30 oder 50 Jahren ein etwas schwächeres Selbstwert­gefühl, zumindest im Vergleich zur eigenen Altersgruppe.

Ein gutes Selbstwertgefühl zu haben, bedeutet auch, sich mit all seinen Stärken und Schwächen anzuneh­men.

Unsere sozialen Beziehungen haben einen grossen Effekt auf unser Selbstwertgefühl, grösser als Arbeit und Beruf?

Ja. Dies bestätigt eine Metaanalyse zur Rolle von sozialen Beziehungen, die wir in meiner Arbeitsgruppe kürzlich durchgeführt haben. Die Ergebnisse zeigten, dass soziale Beziehungen und soziale Einbin­dung in jedem Lebensalter einen bedeutsamen Einfluss auf das Selbst­wertgefühl haben.

Interessanter­weise ergab sich zudem, dass der Zusammenhang zwischen sozialen Beziehungen und dem Selbstwert­gefühl von Personen wechselseitig ist. Das heisst: Gute soziale Bezie­hungen fördern das Selbstwertgefühl und gleichzeitig führt ein hohes Selbstwertgefühl dazu, dass sich die soziale Einbindung weiter verbes­sert. Leider heisst dies auch, dass Menschen mit geringem Selbstwert­gefühl in einen Teufelskreis aus Selbstzweifeln und negativen sozia­len Erfahrungen kommen können. Umso wichtiger ist es also, die Selbst­achtung von Kindern und Jugendli­chen zu fördern.

Ist das Selbstwertgefühl vom Geschlecht abhängig?

Jungen und Männer haben im Durchschnitt ein etwas höheres Selbstwertgefühl als Mädchen und Frauen. Allerdings ist dieser Unter­schied wirklich klein. Es gibt viele Mädchen, die ein hohes Selbstwert­gefühl haben, und umgekehrt Jun­gen, die einen niedrigen Selbstwert haben. Da überlappen sich die Aus­prägungen beträchtlich. Zudem zeigt die Forschung, dass das Geschlecht den Entwicklungsverlauf des Selbst­wertgefühls nicht bedeutsam beeinflusst, dass sich also Jungen genauso wie Mädchen im Verlauf der Ent­wicklung typischerweise in Richtung von mehr Selbstakzeptanz entwi­ckeln.

Sind Selbstzweifel schlecht?

Selbstzweifel sind nicht per se schäd­lich. Doch ist ein niedriges Selbst­wertgefühl leider ein Risikofaktor für die Entwicklung von Problemen in sozialen Beziehungen, in der Schule, am Arbeitsplatz und für die Entstehung von Depressionen. Ein gutes Selbstwertgefühl zu haben, bedeutet auch, sich mit all seinen Stärken und Schwächen anzuneh­men. Von daher gilt es manchen Kindern und Jugendlichen zu helfen, einen konstruktiven und wohlwol­lenden Umgang mit sich selbst zu entwickeln.

Claudia Landolt
ist Journalistin und Autorin, diplomierte Yogalehrerin und Mutter von vier Söhnen. Sie lebt im Kanton Aargau.

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