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Die Eigenverantwortung beim Kind fördern

Lesedauer: 5 Minuten

Eltern sollten ihren Kindern ermöglichen, persönliche Verantwortung zu übernehmen. Sie dürfen sie damit aber nicht allein lassen.

Text: Jesper Juul
Illustration: Petra Dufkova / Die Illustratoren

Originaltitel «Ondt i familien», aus dem Dänischen übersetzt von Knut Krüger.

Der erste Teil dieses Textes heisst «Aggressionen in der Familie».

Es ist gar nicht so lange her, dass wir die Fähigkeit der Kinder entdeckt haben, persönliche Verantwortung zu übernehmen – auf bestimmten Gebieten für sich selbst Sorge zu tragen. In den letzten Jahren haben wir mehr und mehr darüber erfahren und lernen immer noch täglich dazu. Wir können zwar keine exakte, unveränderliche Liste dieser Gebiete erstellen, doch ein paar wichtige Prinzipien der Eigenverantwortung zeichnen sich immer deutlicher ab.

Freilich haben wir auch gelernt, dass sich viele Eltern von diesem Thema provoziert fühlen – und das aus gutem Grund. Denn es erschüttert die jahrhundertealte Vorstellung davon, was elterliche Verantwortung ausmacht. Ausserdem bedeutet es, dass wir ein wenig von der Macht abgeben müssen, die stets von den Eltern wahrgenommen wurde. Bei manchen Eltern stellt sich dadurch das Gefühl ein, ihrer elterlichen Verantwortung nicht mehr im vollen Umfang gerecht zu werden und ihren Kindern nicht mehr die notwendige Fürsorge zukommen zu lassen. Doch sollten wir uns darüber im Klaren sein, dass sich das Selbstgefühl unserer Kinder am besten entwickelt, wenn wir ihnen helfen, frühzeitig Verantwortung für sich selbst zu übernehmen.

Solange unsere Kinder noch Säuglinge sind, lassen wir ihnen auf selbstverständlichste Weise unsere Fürsorge zukommen. Aber auch Säuglinge machen uns mithilfe ihrer Mimik, ihrer Bewegungen und Geräusche schon auf ihre Bedürfnisse aufmerksam, teilen uns ihre Wünsche, ihren Widerwillen und ihren Schmerz mit und machen ihre Grenzen deutlich.

Sie merken beispielsweise, wenn sie hungrig sind, und übernehmen die Verantwortung, uns dies mitzuteilen. Sie spüren, dass sie frieren, und versuchen ebenfalls, uns dies verständlich zu machen. Wenn wir mehrere Minuten lang intensiven Kontakt zu ihnen hatten, wenden sie erst den Blick ab und drehen dann ihren Kopf weg, um uns zu sagen, dass sie fürs Erste genug haben und eine Pause brauchen. Sie übernehmen die Verantwortung für ihre Bedürfnisse und sind darauf angewiesen, dass wir ihre Signale verstehen und respek­tieren.

In diesem Alter besteht noch kein Konflikt zwischen kindlicher Selbstverantwortung und elterlicher Fürsorge. Wir sind vielmehr verzweifelt, wenn wir nicht verstehen, was unser Kind uns sagen will, ob es Schmerzen oder Hunger hat, ob es friert oder ob ihm zu warm ist. Wenn es doch nur schon sprechen und uns sagen könnte, was los ist, denken wir dann. Wenn unser Kind allmählich zu sprechen beginnt, werden wir uns seiner Bedürfnisse und Grenzen umso mehr bewusst.

Ungefähr zwischen dem sechsten und dreizehnten Lebensjahr wird die Frage der persönlichen Verantwortung immer dringlicher. Ganz gleich, wie die Eltern sich bisher verhalten haben, sehen sie sich nun mit neuen Herausforderungen konfrontiert:

  • Kinder in diesem Alter insistieren zunehmend darauf, selbst zu entscheiden, und wollen von uns wissen, warum wir uns ständig einmischen. 
  • Die Schule stellt hohe Anforderungen an ihre Schüler, und die Eltern müssen für sich klären, wie es in dieser Hinsicht mit der Aufteilung der Verantwortung zwischen ihnen und ihren Kindern bestellt ist. 
  • Die Kinder befinden sich auf halbem Weg in die Pubertät hinein und müssen zunehmend eigene Entscheidungen treffen, die ihre gesamte Jugendzeit beeinflussen werden. 
  • Die Wahl der Freunde spielt eine immer wichtigere Rolle, bis diese etwa um das neunte Lebensjahr herum zu den zentralen Rollenmodellen werden. 
  • Die Kinder verbringen mehr Zeit ausser Haus, wodurch die Kon­trollmöglichkeiten der Eltern abnehmen.

Warum müsst ihr immer alles bestimmen? 

Die meisten Kinder besitzen in existenziellen Dingen einen begrenzten Wortschatz, und nur die wenigsten würden wohl auf den Gedanken kommen, ihre Eltern zu einem Gespräch einzuladen und Folgendes zu sagen: «Hört mal zu, ihr beiden. Bis jetzt habt ihr vollständig über mein Leben bestimmt, doch ich glaube, dass ich in Zukunft mehr Verantwortung für mich selbst übernehmen sollte.» 

Wenn Kinder an die Beziehung zu ihren Eltern denken, tun sie das «politisch» – sie denken an Macht. Und ganz gleich, wie flexibel und demokratisch ihre Eltern sich verhalten, sie haben in den Augen der Kinder doch die fast uneingeschränkte Entscheidungsgewalt. Deshalb wollen die Kinder mehr «selbst entscheiden», womit sie eigentlich eine grössere Selbstverantwortung meinen. Das ist keine Aufforderung zum Machtkampf, sondern zu einer friedlichen Übergabe von mehr Verantwortung. 

Es ist an den Eltern, sich allmählich an die Rolle des aktiven Sparringpartners zu gewöhnen.

Die persönliche Verantwortung ist die Art von Verantwortung, die man üben und trainieren muss, um sie gut zu beherrschen. Was gleichermassen für kleine und grosse Kinder, aber auch für Erwachsene gilt, die als Kinder zu wenig Trainingsmöglichkeiten hatten. Deshalb können Kinder auch nicht sogleich «beweisen» (und ihre Eltern dadurch beruhigen), dass sie dazu in der Lage sind. 

Die Erwachsenen müssen sich trauen, «loszulassen», um ihrem Kind die Ausübung von Eigenverantwortung zu ermöglichen. Verantwortung wird entweder vom Kind oder von den Erwachsenen übernommen. «Persönliche» Verantwortung heisst im buchstäblichen Sinn, dass sie nicht geteilt werden kann. Kommt es in dieser Frage zu einem Gezerre zwischen Eltern und Kind, profitiert niemand davon. 

Es ist an den Eltern, mit ihrem Kind einen guten Kontakt zu etablieren und sich allmählich an die Rolle von aktiven Sparringpartnern zu gewöhnen. Zunächst mögen sie sich ein wenig nachlässig oder «verantwortungslos» fühlen, doch dieses Gefühl weicht in der Regel der Freude darüber, dass sich die Kompetenzen ihres Kindes entfalten und entwickeln.

Die Kinder sind auf das Interesse, die Unterstützung und das Engagement ihrer Eltern angewiesen.

Dass Kinder Eigenverantwortung übernehmen, heisst nämlich nicht, dass sie allein klarkommen. Sie brauchen ein konstruktives Zusammenspiel, müssen aber auch die Möglichkeit haben, zu experimentieren und (mit den Eltern als loyale Zeugen) zu scheitern. 

Die Schule hat sich schon immer schwergetan, die persönliche Verantwortung der Kinder zu akzeptieren. Darum wird die Verantwortung für die Hausaufgaben so oft den Eltern zugeschoben. Ein Vorwurf, gegen den sich die Schulen selbstverständlich verwahren – natürlich sollen die Kinder ihre Hausaufgaben selbständig erledigen, doch wenn das nicht klappt, müssen eben die Eltern ran. Oder wie ist das eigentlich gemeint? 

Langjährige Erfahrung hat mich gelehrt, dass das Vernünftigste auch das Einleuchtendste ist: Die Hausaufgaben liegen in der Verantwortung der Kinder. Mit dem Gang zur Schule gehen die Kinder quasi ihrer Arbeit nach, also übernehmen sie auch die Verantwortung für das, was mit dieser Arbeit einhergeht. Doch noch einmal: Sie tun dies nicht allein! Sie sind auf das Interesse, die Unterstützung und das Engagement ihrer Eltern angewiesen. Ein Übermass an Kontrolle führt hingegen zu destruktiven Konflikten, die nicht nur das Miteinander in der Familie, sondern auch das Verhältnis der Kinder zur Schule belasten.

Kinder und Jugendliche leben in einer Welt, in der alles zur freien Verfügung steht. Unmittelbar vor der Schule werden Drogen angeboten und das Internet bietet einen grenzenlosen Raum, der ebenfalls von Erwachsenen geschaffen wurde. Dann kommen die Partys, Hormone und Imponiergehabe, Mobbing und Gewalt und all die Dinge, die Eltern ihren Kindern am liebsten ersparen möchten.

Dem Kind Vertrauen schenken

Ein gut entwickeltes Bewusstsein für persönliche Verantwortung im Verbund mit elterlicher Loyalität und dem konstruktiven Zusammenspiel in der Familie ist der beste Schutz gegen diese Dinge und bietet die grösste Gewähr, dass unsere Kinder nicht zu viele destruktive Entscheidungen treffen. Deshalb besteht die wichtigste Aufgabe der Eltern darin, langfristig zu denken, anstatt ihre Kräfte durch Kontrolle, Ermahnungen, Verbote und Strafen zu vergeuden und sich in einer Reihe von Machtkämpfen aufzureiben.

Das Vertrauen darauf, dass schon alles einen guten Gang nehmen wird, müssen die Eltern in sich selbst finden. Dafür sind nicht ihre Kinder zuständig. Wenn das Vertrauen erschüttert wird und Panik um sich greift, müssen die Erwachsenen sich die Hand reichen und warten, bis alles vorüber ist. Und sollte doch etwas schiefgehen, ist Vertrauen weiterhin das Wichtigste, was Sie Ihrem Kind geben können. Weil nur Sie es ­können. 

Jesper Juul
Der dänische Familientherapeut Jesper Juul hat wie kein anderer in den vergangenen Jahrzehnten Menschen mit seinen Erziehungs- und Beziehungsprinzipien geprägt. Der Gründer von familylab, einem Beratungsnetzwerk für Familien, und Autor von über 40 Büchern («Dein kompetentes Kind», «Aus Erziehung wird Beziehung») starb am 25. Juli 2019 im Alter von 71 Jahren nach langer Krankheit in Odder, Dänemark. Er war zweimal verheiratet und hinterlässt einen Sohn aus erster Ehe und zwei Enkelkinder.

Alle Artikel von Jesper Juul

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