«Kinder müssen wissen, was sie brauchen»
Karin, 45, und Stephan Graf, 46, leben mit Victor und Lionel, beide 12, und Luis, 9, in Rheinfelden. Die Kinder-Physiotherapeutin und der Marketingberater sind überzeugt, dass Empathie der Schlüssel zur Eigenverantwortung ist.
Verantwortung abgeben ist nicht leicht. Karin und Stephan Graf erzählen wie sie ihre drei Kinder zu Selbständigkeit erziehen.
Stephan: «Lernen, Verantwortung zu übernehmen, bedeutet, sich aufs Leben vorzubereiten: Erfahrungen machen, Handlungen planen und umsetzen. Etwas ausprobieren, mit dem Risiko, dass es nach hinten losgeht, und schrittweise lernen, dafür einzustehen.»
Karin: «Kinder benötigen aber ein Übungsfeld, damit sie solche Fähigkeiten entwickeln können, und sie brauchen Geduld und Begleitung.»
Kindern Aufgaben abzutreten, bringt erstmal keine Entlastung, sondern Mehraufwand.
Stephan: «Verantwortung lässt sich nicht einfach abgeben, und gut ist. Seit Kurzem sind die Jungs dafür zuständig, den Tisch ab- und den Geschirrspüler einzuräumen.Das Geschirr schaffte es aber nur teilweise in die Küche und blockierte die Ablagefläche.»
Karin: «Wir mussten den Auftrag klarer formulieren: ‹Bringt bitte sämtliches schmutzige Geschirr in die Küche.› Da hängt jetzt zur Erinnerung ein Plakat, in welche Eckees soll, bevor es in den Spüler kommt.»
Stephan: «Zunächst habe ich ein Auge darauf geworfen, wie sie einräumen – mittlerweile halte ich mich zurück. Wo Gefahren überschaubar sind, versuche ich, die Jungs gewähren zu lassen. Ich warte aber nicht, bis es verbrannt riecht, wenn Luis Frühstücksflocken kocht. Da war ich zur Stelle, bis er wusste, wie viel Hitze nötig ist. Kindern Aufgaben abzutreten, bringt erstmal keine Entlastung, sondern Mehraufwand. Eingreifen oder nicht, manchmalist das eine Gratwanderung.»
Karin: «Luis verweigerte als Kleinkind oft die Hose. Ich nahm sie jeweils einfach mit, irgendwann forderte er sie auch ein. Mir war die Beziehung zum Kind wichtiger, als mich – ‹weil es sich so gehört› – auf einen Machtkampf einzulassen. Kinder lernen aus Erfahrungen, wenn wir diese zulassen. Sicher, es gibt Grenzen.»
Verantwortlich handeln heisst, Verantwortung für eigene Gefühle zu übernehmen, statt sie aufs Gegenüber abzuschieben.
Stephan: «Letzthin schaute ich aus dem Fenster. Plötzlich war da Lionel, im Baum gegenüber – zuoberst! Ich schrie nur noch: ‹Runter, sofort!› Lionel kam aufgelöst heim. Später erklärte ich ihm, dass ich aus Angst die Fassung verloren hatte.»
Karin: «Mit mir geht manchmal mein Temperament durch. Im besten Fall gelingt es mir, aus dem Raum zu gehen und zu sagen, dass ich wütend bin und einen Moment für mich brauche. Oder ich entschuldige mich hinterher. Verantwortlich handeln heisst, Verantwortung für eigene Gefühle zu übernehmen, statt sie aufs Gegenüber abzuschieben. Wir waren früh bemüht, die Kinder darin zu unterstützen, Worte für ihre Gefühle zu finden und sie die Erfahrung machen zu lassen, dass diese respektiert werden.»
Stephan: «Eigenverantwortung setzt Einfühlungsvermögen voraus, das wir Kindern entgegenbringen müssen, wenn sie es lernen sollen. Für mich gehört dazu, ihnen zu vermitteln, dass es okay ist, wenn sie sich etwas nicht zutrauen. Ob es gelingt, verantwortungsvoll zu handeln, hängt auch davon ab, wie gut wir erkennen, was wir brauchen, ob wir in der Lage sind, um Hilfe zu fragen. Darin will ich meine Kinder stärken, denn ich erlebe oft, wie Erwachsene hier straucheln.»