Wenn das Kindergartenkind schon lesen und schreiben kann
Immer mehr Kinder beherrschen schon im Chindsgi den Schulstoff der ersten Klasse. Woher kommt das? Sind sie besonders begabt? Und sollen Eltern das fördern?
Dienstagnachmittag in einem Schweizer Kindergarten. Die sechsjährige Zoé bestürmt die Kindergartenlehrperson, ihr noch mehr Aufgaben für ihren Wochenplan zu geben – sie hat schon alles erledigt. «Ich will arbeiten!», fordert das Mädchen voller Begeisterung. Zoés Mutter sagt: «Wir haben das zu Hause überhaupt nicht gefördert, aber Zoé eifert ihrer grossen Schwester nach und möchte sogar Hausaufgaben machen – ‹gross sein› nennt sie das.»
Dieselbe Bandbreite zeigt sich auch bei Buben: Die einen vertiefen sich ins Spiel mit Legos, andere wiederum möchten Bild um Bild ausdrucken und Zahlenrätsel lösen. Der fünfjährige Lio zum Beispiel liest seit Neustem alles, was er sieht – selbst die Aufschrift der Müeslipackung wird Buchstabe für Buchstabe entziffert.
Jedes Kind will lesen lernen, wenn es in der Entwicklung so weit ist.
Remo Largo
Kinderarzt und Buchautor Remo Largo («Kinderjahre») hält fest: «Jedes Kind, wenn es in der Entwicklung so weit ist, will lesen lernen.» Das Interesse an Lesen, Sprechen, ja an Kommunikation wird Kindern in die Wiege gelegt. Schon Babys kommunizieren mit Lauten, und Zweijährige sind in der Lage, einer Geschichte zu folgen.
Kinder imitieren das Lesen
Kinder sind fasziniert von Büchern, lieben vorgelesene Geschichten, imitieren das Lesen und halten anderen Kindern das Buch so hin, wie sie es vom Vorlesen kennen – gerne auch verkehrt herum. «Irgendwann merkt das Kind, dass sich etwas Spannendes hinter den schwarzen Zeichen versteckt, und es will diese Buchstaben kennenlernen», sagt Andrea Bertschi, Leseforscherin und emeritierte Professorin für Literaturdidaktik an der Fachhochschule Nordwestschweiz. Sie sieht im Vorlesen und Erzählen von Geschichten den Ursprung für das «Lesenlernenwollen».
Eltern spielen beim frühen Lesen- und Rechnenlernen ihrer Kinder eine eher unbedeutende Rolle.
Margrit Stamm, Erziehungswissenschaftlerin
«Wir haben seit einigen Jahren immer mehr Kinder, die immer mehr können», sagt Andrea Lanfranchi, Forschungsleiter an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik. In einigen Kantonen beherrsche heute jedes dritte Kind bereits am ersten Schultag den Stoff, den es erst am Ende der 1. Klasse können sollte, erklärte er in einem Interview.
Neu ist das nicht: «Kinder, die vor Schuleintritt bereits lesen, schreiben oder rechnen wollten und konnten, hat es schon immer gegeben», schreibt Erziehungswissenschaftlerin Margrit Stamm in ihrem Aufsatz über «Lernentwicklungen von Frühlesern und Frührechnern». Die Frage ist jedoch: Haben Kinder, die schon früh lesen und/oder rechnen können, ein grösseres Potenzial als Altersgenossen, die bei Schuleintritt über keine Vorkenntnisse verfügen?
Gründe für den Leistungsvorsprung
In einer von Margrit Stamm geleiteten Studie zu Frührechnerinnen und Frühlesern konnten von 2667 Kindern sechs Wochen nach Schulbeginn 29 Prozent bereits alle Buchstaben und 21 Prozent alle Wörter vollständig und ohne Fehler lesen.
Ein hoher Teil der Kinder verfügte über Teilkompetenzen – was bedeutet, dass nur sieben Prozent der Kinder noch keinerlei Vorkenntnisse der Lesekultur erworben hatten. Noch ausgeprägter waren die vorschulischen Kenntnisse im Rechnen. Der Leistungsvorsprung dieser Kinder betrug mindestens ein Schuljahr.
Vorschulisches Lesen- und Rechnen lernen erfordert keine überdurchschnittlichen Fähigkeiten.
Margrit Stamm, Erziehungswissenschaftlerin
Was hat diese Kinder zu Frühleserinnen oder Frührechnern gemacht? Ist es der familiäre Hintergrund, die soziale und ökonomische Schicht oder das Eigeninteresse der Kinder? Stamm kommt zu einem für Eltern vielleicht überraschenden Ergebnis: Die elterliche Anleitung zum Lesen- und Rechnenlernen spielte in ihrer Untersuchung eine vergleichsweise unbedeutende Rolle.
Nur ein kleiner Teil der befragten Kinder wurde zu Hause besonders gefördert. 83 Prozent der Kinder haben ihre Lese- oder Rechnungskompetenzen selbstmotiviert erworben, davon haben 27 Prozent ihre Geschwister oder Nachbarskinder imitiert.
Auch ist die Gruppe der Vorschulkinder mit Lese- oder Rechenkompetenz nicht etwa hochbegabt (siehe Box). Margrit Stamm sagt: «Unsere Studie hat deutlich gemacht, dass vorschulisches Lesen- und Rechnen lernen keine überdurchschnittlichen Fähigkeiten erfordert.»
Kinder, die früh lesen und schreiben, lernen diese Fähigkeiten oft eigenmotiviert
Doch kann davon ausgegangen werden, dass solche Fähigkeiten vorhanden sind, wenn Kinder selbst motiviert früh rechnen und lesen lernen wollen. Ob diese Schülerinnen und Schüler auch in der gesamten Schulkarriere weiter vorne liegen werden, ist gemäss Stamm jedoch unklar. «Es gibt keine einheitliche Antwort zur Langzeitwirkung des frühen Lesen- und Rechnenlernens.»
Hingegen kann gesagt werden: Wer sich vor Schuleintritt eigenmotiviert Kenntnisse in Lesen und/oder Rechnen angeeignet hat, die sich bei Schuleintritt als deutliche Kompetenzvorsprünge manifestieren, gehört auch am Ende der obligatorischen Schulzeit noch zu den besonders schulerfolgreichen Schülerinnen und Schülern.
Doch: «Nachhaltigen schulischen Erfolg garantiert der frühe Kompetenzerwerb nur, wenn bei gegebener Intelligenz auch die entsprechende Leistungsmotivation vorhanden ist», fasst Margrit Stamm zusammen.
Zeigt ein Kind Interesse an Buchstaben oder Zahlen, soll dieser Neugierde nachgegangen werden.
Unbegründete Angst vor Langeweile
Kann ein Kind bei Schulanfang in der ersten Klasse schon rechnen und/oder lesen, bedeutet das nicht automatisch Frust oder Langweile im Klassenzimmer. «Das ist die grosse Herausforderung heute für unsere Lehrpersonen: dass sie auf die unterschiedlichen Entwicklungsstände der Kinder eingehen», so Professorin Andrea Bertschi. Klassenübergreifende Basisstufen und andere Unterrichtsformen in Schulen ermöglichen, dass Kinder gezielt gefördert werden.
Was also tun, wenn das eigene Kindergartenkind verlangt, es möchte lesen oder rechnen lernen? Die Experten sind sich einig: Hat ein Kind Interesse an Buchstaben und/oder Zahlen, soll dieser Neugierde nachgegangen werden. Zeigt ein Kind Eigeninitiative am Lernen, ist ein künstliches Verzögern oft kontraproduktiv.
Wenn ein Kind schreiben will, sollten die Eltern es unterstützen
Der Hinweis, das müsse es doch noch nicht können, dafür sei dann die Schule da, endet nicht selten in Enttäuschung und einer möglichen Unterforderung des Kindes. Für Eltern heisst das: Wenn ein Kind möchte, dass man ihm hilft, seinen Namen zu schreiben: helfen. Es möchte wissen, was eigentlich zwei plus drei ergibt? Finger hochhalten und abzählen.
Nicht alle Kinder haben dieses Interesse an Zahlen oder Buchstaben schon im Kindergarten. Auch das ist kein Grund zur Besorgnis: «Das Gras wächst schliesslich nicht schneller, wenn man daran zieht», schreibt Remo Largo.
Lios ältere Schwester übrigens wollte bis zur ersten Klasse partout nichts wissen von Zahlen oder Buchstaben. Ihre Zeichnungen signierte sie mit einem krakeligen L für Leni. Heute ist die Drittklässlerin eine begeisterte Leseratte – versteckt unter der Bettdecke bis tief in die Nacht hinein verschlingt sie Buch um Buch.
Bei Kindern, die früh lesen oder rechnen können, spricht man grundsätzlich von einer schnellen Entwicklung. Es ist aber nicht zwingend ein Hinweis auf Hochbegabung. Bringt sich ein Kind beides in Eigenregie bei, besteht laut Margrit Stamm jedoch ein Hinweis auf überdurchschnittliche Intelligenz.
In der Schweiz sind rund zwei Prozent der Kinder hochbegabt. Eine Abklärung ist sinnvoll, wenn das Kind in seinem Umfeld nicht mehr genügend Anregung findet und/oder Probleme im Kindergarten oder in der Schule auftreten.
Gut zu wissen: Intellektuelle Hochbegabung ist nur eine von vielen Arten von Begabung – es gibt viele Kinder, die kreativ, körperlich oder in einem anderen Bereich überdurchschnittlich begabt sind.
Weitere Informationen: www.hochbegabt.ch