«Überbehütete Kinder sind in ihrer Autonomie blockiert»
Kinder auf dem Weg in ihre Eigenständigkeit zu begleiten, ist keine leichte Aufgabe. Psychotherapeutin Joëlle Gut erklärt, wohin es führen kann, wenn Eltern klammern.
Frau Gut, warum fällt das Loslassen manchen Eltern schwerer als anderen?
Hier spielen mehrere Faktoren eine Rolle: Wie sehr kenne ich als Mutter oder Vater meine eigenen Bedürfnisse? Wie sehr freue ich mich darauf, sie endlich wieder ausleben zu können, nachdem ich lange zurückgesteckt habe? Wie gehe ich mit Veränderungen um? Habe ich mein bisheriges Leben eher selbst- oder fremdbestimmt gelebt? Wenn ich bislang eher selbstbestimmt gelebt habe, traue ich mir auch in dieser Situation weitere Veränderungen zu und fühle mich darin kompetent. Das wirkt sich letztendlich auch positiv auf den Ablösungsprozess des Kindes aus.
Was ist denn ein Zuviel an Fürsorge? Das ist doch sicher sehr individuell.
Das ist es in der Tat. Die Entwicklungspsychologie spricht daher von einem Fit oder Misfit zwischen dem Kind und der Umwelt, die seine Entwicklung fördert oder eben behindert. Die Entwicklung verläuft optimal, wenn das Kind immer wieder dort abgeholt wird, wo es aktuell entwicklungsmässig steht, und seine Bedürfnisse wahrgenommen werden. Hier gefällt mir das Motto «So wenig wie möglich, so viel wie nötig».
Es erfordert immer wieder Offenheit und Neuorientierung, um herauszufinden, wo das richtige Mass liegt.
Ich rate Eltern, sich vorzustellen, sie würden die Situation von weit oben betrachten, wie ein Adler, der über den Dächern kreist. Dies kann dabei helfen‚ das grosse Ganze wahrzunehmen. Fragen wie «Was steht aktuell bei meinem Kind an?», «Was läuft gut?», «Wo kann es sich noch weiterentwickeln?» können sehr hilfreich sein. Und das richtige Mass ist auch ein Stück weit situationsbedingt.
Inwiefern?
Ein zuvor sehr selbständiger Jugendlicher könnte beispielsweise bei einem anstehenden Schulwechsel oder Eintritt ins Berufsleben punktuell eine stärkere Begleitung brauchen als erwartet. Es erfordert immer wieder Offenheit und Neuorientierung, um herauszufinden, wo das richtige Mass liegt.
Welche Folgen hat es für Kinder, wenn Eltern sie zu sehr behüten?
Wenn Kinder und Jugendliche überbehütet sind, können sie sich in ihrer Selbstkompetenz nicht erleben. Sie haben weniger Erfolgserlebnisse, trauen sich weniger zu und sind schneller überfordert mit Verpflichtungen und Alltagsbelastungen. Wenn Kinder von ihren Eltern immer hören, sie seien noch nicht bereit für den nächsten Schritt oder dass überall Gefahren lauern, kann es vorkommen, dass sie sich selbst immer weniger zutrauen und ängstlich werden. Das Nicht-Loslassen blockiert die Kinder und Jugendlichen in ihrer eigenen Autonomie und Selbstwertentwicklung.
Und im Notfall reissen sie sich los, weil es nicht anders geht?
Es kann durchaus sein, dass der Prozess der Ablösung stärker ausfällt, rebellischer, wenn die Eltern ihrerseits nicht loslassen. So kann im Extremfall ein verfrühter Auszug aus dem Elternhaus oder sogar ein kompletter Kontaktabbruch die Folge sein. Das sind dann sozusagen notwendige Schritte, weil die Jugendlichen nur so ihr eigenes Leben in Angriff nehmen können, ohne sich bevormundet oder zu wenig ernst genommen zu fühlen.
In manchen Fällen wollen sich die Jugendlichen dann ihre Reife selbst beweisen und leben ein übertriebenes Mass an Freiheiten aus, das sie selbst überfordert. Sie stürzen sich beispielsweise in Gefahren und sprengen sämtliche Grenzen, um ihren Eltern ihre Unabhängigkeit zu beweisen.
Was soll man denn tun, wenn man extrem klammert und einfach nicht loslassen kann? Wann sollte man sich Hilfe holen?
Zunächst kann es hilfreich sein, sich mit anderen Eltern auszutauschen, um zu sehen, wie diese mit dem Thema umgehen. Dies kann dabei helfen, selbst etwas lockerer zu werden und die Grenzen zu öffnen. Wenn das Kind oder der Jugendliche mit diesen Freiheiten gut umgeht, kann auch bei den Eltern ein Gefühl entstehen, dass es ein richtiger Weg ist, dem Kind mehr Verantwortung zu geben.
Darüber hinaus kann eine psychologische Beratung helfen, eigene Ängste, Verhaltensweisen und Erziehungsstile zu analysieren, um sich darin freier fühlen zu können. Loslassen hat viel mit Kontrollabgabe zu tun und mit dem Vertrauen, dass unsere Kinder das Leben selbst meistern können. Angst ist irrational, verzerrt die Wahrnehmung und ist somit ein idealer Nährboden für Blockaden.
Grund fürs Klammern sind meist Ängste.
Manche Eltern sagen zu ihren Kindern Dinge wie: «Wenn du das machst, sind Mama oder Papa ganz traurig.»
Es ist wichtig, die eigenen Gefühle anzusprechen, da so auch die Kinder lernen, dass es hilft, darüber zu sprechen, wie man sich fühlt. Dem Kind oder dem Jugendlichen jedoch ein schlechtes Gewissen zu machen, wenn es selbständig sein will, ist für die Autonomieentwicklung natürlich nicht förderlich und bringt das Kind in einen Loyalitätskonflikt. Ein solches Verhalten kann dazu führen, dass Jugendliche den Kontakt lieber abbrechen, als jedes Mal mitzuerleben, wie die Eltern ihretwegen leiden.
Aber warum sagen Eltern so etwas?
Ein solches Verhalten ist in gewisser Weise ehrlich, zeugt aber von wenig Selbstreflexion. Wenn mir als Elternteil bewusst ist, was ich mit solchen Aussagen bei meinem Kind anrichte, dann formuliere ich meine Gefühle vielleicht anders. Grund dafür sind meist Ängste. Vor Einsamkeit, davor, weniger vom Leben des Kindes mitzubekommen und keinen Einfluss darauf zu haben. Es ist auch möglich, dass Eltern nach jahrelangem Fokus auf die Kinder nun Angst vor einem neuen, ungewissen Lebensabschnitt haben.
Erleben Sie solche Fälle in Ihrer Praxis?
Ich habe immer wieder Jugendliche in der Therapie, die sich von ihren Eltern lösen möchten, es aber nicht auf die sanfte Art geschafft haben, weil die Eltern zu grosse Mühe damit hatten, die Kinder ihren eigenen Weg gehen zu lassen. Einmal hatte ich eine junge Erwachsene bei mir, die sich stark für ihren kranken Vater verantwortlich fühlte. Er fragte sie jedes Mal während des Besuches, ob sie nicht bei ihm wohnen möchte. Das brachte die Jugendliche in einen belastenden Loyalitätskonflikt.
Einerseits freute sie sich auf die Besuche bei ihm, andererseits war sie beim Abschied immer sehr traurig, weil sie wusste, dass der Vater traurig darüber war, dass sie ihr eigenes Leben in ihrer eigenen Wohnung lebte. Somit wurde sie in ihrer Entwicklung gebremst und musste sich Sorgen um ihn machen. In der Psychotherapie haben wir versucht, zu erreichen, dass sie sich nicht für das Leben und das Wohlbefinden ihres Vaters verantwortlich fühlen musste und sich stärker abgrenzen konnte.