«Kinder müssen das Scheitern lernen»
Die heutige junge Generation werde geschützt wie keine zuvor, sagt der Forscher und Entwicklungspsychologe Peter Gray. Dies hindere Kinder zunehmend am effektivsten Resilienz-Training: dem freien, unbeaufsichtigten Spiel.
Herr Gray, Sie schrieben unlängst, dass die Zunahme psychischer Störungen im Kindesalter mehr mit elterlicher Überbehütung zusammenhänge als mit den Folgen der Corona-Pandemie.
Als Grund für die Verschlechterung kindlichen Wohlbefindens führe ich in erster Linie den Verlust von Freiheit an – der hängt stark, aber nicht nur mit elterlicher Überbehütung zusammen. In den USA haben die Zahl der von Angststörungen und Depressionen betroffenen Kinder und Jugendlichen sowie Suizidraten in dieser Gruppe ein Allzeithoch erreicht. In europäischen Ländern gibt es – das zeigen Studien – ähnliche Tendenzen. Wir glauben, dass dies mit dem Rückgang an Möglichkeiten zusammenhängt, sich als Kind frei bewegen zu können.
Woran denken Sie?
An das freie Spiel mit Gleichaltrigen und andere autonome Aktivitäten wie allein den öffentlichen Verkehr nutzen, selbständig zur Schule laufen, Besorgungen erledigen oder einem Sackgeld-Job nachgehen.
Kinder, die viel Zeit mit unbeaufsichtigtem Spielen verbringen, verfügen als Erwachsene über ein höheres Selbstwertgefühl.
Weshalb sind solche Erfahrungen für Kinder so wichtig?
Weil sie für die Entwicklung einer widerstandsfähigen Psyche zentral sind. Wir wissen, dass Kinder, die im Primarschulalter viel Zeit mit unbeaufsichtigtem Spielen verbrachten, als Erwachsene über eine bessere körperliche und psychische Gesundheit sowie ein höheres Selbstwertgefühl verfügen als Gleichaltrige, die in ihrer Kindheit weniger Gelegenheit dazu hatten. Untersuchungen – darunter auch eine aus der Schweiz – legen ausserdem nahe, dass Spielen unter Aufsicht kein gleichwertiger Ersatz für freies Herumstromern mit anderen Kindern ist.
Inwiefern?
Die Schweizer Studie verglich Fünfjährige, die aufgrund einer verkehrsreichen Wohnlage nicht unbeaufsichtigt draussen spielen konnten, mit Gleichaltrigen, die dazu oft Gelegenheit hatten. Die Kinder aus der zweiten Gruppe verbrachten doppelt so viel Zeit im Freien, sie verfügten über bessere motorische und soziale Fähigkeiten und doppelt so viele Freunde. Man stellte ebenfalls fest: Ausflüge mit den Eltern auf den Spielplatz konnten das fehlende Freispiel und damit verbundene Nachteile nicht kompensieren.
Warum nicht?
Erstens hatten Eltern zu wenig Zeit oder Geduld, um mit ihren Kindern länger an solchen Orten zu verweilen, zweitens waren dort immer wieder andere Gleichaltrige, drittens boten Parks eine geringere Vielfalt an Spielmöglichkeiten als Nachbarschaften, wo Kinder eigene Sachen nach draussen schleppten. Viertens hielt die Anwesenheit der Eltern Kinder davon ab, körperbetontere oder riskantere Spiele zu spielen – die gelten als besonders förderlich für die emotionale Entwicklung.
Ein überbehütender Erziehungsstil erhöht das Risiko für spätere Angststörungen und Depressionen.
Das müssen Sie erklären.
Spielerfahrungen, in denen sich Kinder einer etwas beängstigenden Situation aussetzen, indem sie etwa auf einen hohen Baum klettern, sind sehr wirksam, wenn es darum geht, die Anfälligkeit für Phobien oder Ängste zu senken. Sie stärken das Selbstvertrauen des Kindes und festigen seine Überzeugung, schwierige Situationen bewältigen zu können. Kinder müssen realisieren, dass sie überleben können. Ein überbehütender Erziehungsstil, der solche Möglichkeiten zu sehr einschränkt, erhöht das Risiko für spätere Angststörungen und Depressionen.
Von dieser Einschränkung, sagen Sie, seien immer mehr Kinder betroffen.
So lautet das Resultat einer Vielzahl von Untersuchungen. Die Soziologin Markella Rutherford etwa hat Hunderte von Artikeln und Ratgeberkolumnen aus US-Zeitschriften zum Thema Erziehung ausgewertet. Ihre Medienanalyse umfasst über 50 Jahre und zeigt, wie sich die Sicht auf Kinder verändert hat: Während ältere Beiträge das Bild einer Gesellschaft zeichnen, die Kinder als fähig, belastbar und verantwortungsbereit wahrnimmt, legen neuere Inhalte nahe, dass es Kinder in erster Linie vor Gefahren zu schützen gilt und vieles schiefgehen kann, wenn wir sie nicht fördern.
Woher rührt diese Haltung?
Der Wandel setzte ab den 1960er-Jahren ein, als das Fernsehen die Wohnzimmer eroberte und Sportvereine beliebt wurden. Beides führte zu einem Verlust an freiem Spiel, der ab den 1980er-Jahren einschneidender wurde. Was unterschiedliche Hintergründe hat: Angefangen bei den medialen Kampagnen über Einzelfälle von Kindesentführungen bis hin zu wirtschaftlichen Entwicklungen, die den Graben zwischen Arm und Reich vertieften und eine Haltung maximalen Erfolgsstrebens beförderten. Diese suggeriert, dass es in Kinder zu investieren gilt, wenn aus ihnen etwas werden soll. Kinder sind heute in vielerlei Hinsicht eingeschränkter denn je, aber das Problem wird übersehen.
Kinder sind heute zwar in vielerlei Hinsicht freier, aber da, wo sie wirklich wichtig ist, hat die Freiheit abgenommen.
Warum?
Weil die Veränderungen, die dazu führten, schleichend kamen. Kinder sind heute freier, wenn es darum geht, was sie essen oder anziehen wollen. Da, wo sie wirklich wichtig wäre, hat Freiheit dramatisch abgenommen – in Bezug auf Möglichkeiten, sich an Aktivitäten abseits der Erwachsenen zu beteiligen, die ein gewisses Mass an Risiko und Eigenverantwortung mit sich bringen. Wir haben es mit einer evolutionären Diskrepanz zu tun.
Was meinen Sie damit?
Den Kontrast zwischen den ursprünglichen Bedingungen, unter denen Kinder sich über Jahrhunderte entwickelten, und der Umgebung heute. Da mangelt es ihnen offensichtlich an Lernerfahrungen, um soziale Fertigkeiten oder sogenannte Exekutivfunktionen zu trainieren, die uns helfen, Gefühle zu regulieren, an einer Sache dranzubleiben und Lösungen zu suchen.
Haben Sie ein Beispiel?
Kinder betreuten früher Geschwister, sie hüteten Tiere, halfen beim Kochen und im Handwerk. Auch die aktuelle Forschung zeigt, wie Kinder davon profitieren, wenn sie lernen, auf eigenen Beinen zu stehen: Studien kommen etwa zum Schluss, dass Teenager mit Aushilfsjob zufriedener sind als Gleichaltrige ohne. Die Zufriedenheit rührt ihren eigenen Angaben zufolge nicht nur vom Geld her, sondern auch vom Plus an Autonomie. Diese positiven Effekte aufs Wohlbefinden finden wir auch bei Kindern, die allein zur Schule laufen oder zu Hause mithelfen.
Eltern können ihren Kindern also ein Stück Autonomie zurückgeben.
Ja. Indem wir ihnen nicht alles abnehmen, an sie glauben, sie zur Mitarbeit und zum freien Spiel ermutigen. Und indem wir zuversichtlich sind, dass sie mit verletzten Gefühlen, Frust und kleinen Risiken klarkommen. Kinder müssen das Scheitern lernen. Sonst haben später nicht nur sie, sondern auch die Gesellschaft ein Problem.