Wie stärke ich mein Kind? 11 Resilienz-Faktoren

Die Resilienzforschung identifizierte verschiedene Schutzfaktoren, die der Entwicklung einer robusten Psyche zuträglich sind und Kinder für die Stolpersteine im Leben wappnen. Auf viele davon haben Eltern Einfluss.
1. Sichere Bindung
Die frühe Erfahrung einer sicheren emotionalen Bindung – idealerweise zu mindestens einem Elternteil – begründet, was der deutsch-amerikanische Psychoanalytiker Erik Erikson als «Urvertrauen» bezeichnet hat: das Vertrauen in die Welt und die eigene Person. Die Erfahrung, dass die eigenen Bedürfnisse nach Schutz, Geborgenheit und Liebe ab Geburt zuverlässig erfüllt werden, stärkt weitere Schutzfaktoren, die für eine gesunde psychische Entwicklung ausschlaggebend sind: das Selbstwertgefühl des Kindes, seine Emotionsregulation oder die Sozialkompetenz. Wer gelernt hat, sich auf andere verlassen zu können, ist später auch eher fähig, Beziehungen zu pflegen und in der Lage, sich in schweren Zeiten Unterstützung zu holen.
2. Ein partizipativer Erziehungsstil
Die Resilienz-Forschung zeigt: Weder die autoritäre Erziehung noch das Laissez-faire-Prinzip sind förderlich für die kindliche Entwicklung. Bessere Voraussetzungen, um jene Fertigkeiten zu entwickeln, die im Umgang mit Stolpersteinen wichtig sind, bietet die partizipative oder autoritative Erziehung. Sie setzt weder auf Liebesentzug noch sture Regeln, lässt Kinder aber auch nicht nach Lust und Laune gewähren. «Ein Zusammenspiel von Bindung und Lenkung», sagt Annette Cina vom Institut für Familienforschung und -beratung an der Universität Freiburg.«Dabei bildet die Bindung die Basis: Das Kind fühlt sich von seinen Eltern angenommen und geliebt, es weiss, dass es sich auf sie verlassen kann. Kinder sind aber auch darauf angewiesen, sich an ihren Eltern orientieren zu können. Darum müssen diese die Richtung vorgeben.» Etwa mithilfe von Regeln, die helfen, den Familienalltag strukturieren und den Schutz des Kindes im Blick haben.
Dabei gilt: «Was Eltern wirklich wichtig finden, ist unverhandelbar.» Vieles aber schon: Kindern sollen Mitspracherechte haben und diese im Lauf ihrer Entwicklung ausbauen dürfen. Wichtig ist, dass Eltern die Einhaltung von Vereinbarungen einfordern – und Konsequenzen folgen, wenn es öfter nicht klappt, weiss Cina: «Konsequenzen haben einen Lernprozess zum Ziel: Wir lassen Kinder die Folgen ihres Handelns erfahren, damit sie schrittweise lernen, Verantwortung dafür zu übernehmen. Wenn ein Kind abends ständig trödelt und sich nicht bettfertig macht, ist eine verkürzte Gutenachtgeschichte keine Strafe, sondern eine Folge der Tatsache, dass die Zeit nicht für alles reicht.»
3. Soziale Unterstützung ausserhalb der Familie
Menschen, die an uns glauben, uns den Rücken stärken und da sind, wenn es brenzlig wird: Sie sind Gold wert – und kommen nicht zwingend aus der eigenen Familie. Gerade Erwachsene erfahren diesen Beistand oft von Freunden oder anderen Bezugspersonen. «Was spannend ist: Oft reicht allein das Wissen, dass sie auf diese Unterstützung zurückgreifen könnten, um Menschen in der Krise zu stärken», sagt Isabella Helmreich vom Leibnitz-Institut für Resilienzforschung in Mainz. Wie wichtig so ein Netz gerade für Kinder ist, die zu Hause wenig Fürsorge erfahren, zeigen zahlreiche Studien. Grundsätzlich tun aber alle Eltern gut daran, diesen Resilienz-Faktor zu stärken, weiss Helmreich – bei sich selbst und den Kindern: «Indem wir uns ein soziales Netz aufbauen und es aktiv pflegen, dies als Eltern vorleben und ausserfamiliäre Kontakte auch bei den Kindern fördern; sie etwa ermutigen, auf andere zuzugehen und Freundschaften zu pflegen.»
Wir sollten unserem Kind vermitteln: Was blöd gelaufen ist, kann man verbessern.
Friedrich Lösel, Psychologe
4. Gute Vorbilder für konstruktives Coping
Der Laptop stürzt ab, die Präsentation ging schief, der Stau nimmt kein Ende: «Wir wissen, wie nervenauftreibend der Alltag sein kann», sagt Friedrich Lösel, emeritierter Professor für Psychologie und Kriminologie sowie Pionier der deutschsprachigen Resilienzforschung. «Es ist normal, dann auch mal die Hände über dem Kopf zusammenzuschlagen. Dennoch sollte nicht jedes Ärgernis zum Anlass für Gejammer werden.» Wer ständig lamentiere, welch Mühsal ihm widerfährt, vermittle seinem Kind auf Dauer den Eindruck, das Leben sei schwer zu bewältigen: «Besser wäre, wenn man signalisiert: Das ist jetzt ärgerlich, aber wir schaffen es trotzdem. Oder: Was blöd gelaufen ist, kann man verbessern.» Die Psychologie bezeichnet diesen produktiv-pragmatischen Umgang mit Störfaktoren als konstruktives Coping. «Es gelingt nicht immer», sagt Lösel, «aber je öfter, desto besser.»
5. Aktive Problembewältigung
Genauso wichtig ist es, dass wir Schwierigkeiten nicht aus dem Weg gehen, sondern uns ihnen stellen. «Aktive Problembewältigung ist ein wichtiger Resilienzfaktor», sagt Resilienz-Forscher Lösel, «und steht im Gegensatz zu sogenannt passivem Coping – dessen extremste Form zum Beispiel darin besteht, Kummer in Alkohol zu ertränken.» Auch hier, so Lösel, sollten sich Eltern ihrer Vorbildfunktion bewusst sein, und Missstände über kurz oder lang angehen, ohne unangenehme Gefühle zu scheuen, die dabei aufkommen könnten. Gehe es nun darum, für eine Entscheidung – auch gegenüber dem Kind – einzustehen, oder bei Schwierigkeiten andere um Hilfe zu fragen. «Genauso sollte man ein Auge darauf haben, wenn das Kind öfter auf Vermeidungsstrategien setzt, und mit ihm an Alternativen arbeiten.»
6. Positives Denken
«Ob wir ein Problem als lösbar empfinden oder uns ihm gegenüber machtlos fühlen, hängt zum Beispiel davon ab, wie wir unsere persönlichen Ressourcen oder die Unterstützung durch andere einschätzen», sagt Resilienz-Forscherin Isabella Helmreich. «Eine entscheidende Rolle spielt ebenso die Fähigkeit, in schwierigen Momenten das Positive zu sehen.» Diese optimistische Grundhaltung sei trainierbar, «etwa, indem wir uns mit Kindern regelmässig Zeit dafür nehmen, uns die Erfahrung positiver Gefühle zu vergegenwärtigen».
Wenn ich weiss, was mir wichtig ist, kann ich mein Leben ein Stück weit selbst steuern.
Isabella Helmreich, Resilienz-Forscherin
Dafür böte sich das allabendliche Ritual an, den Tag gemeinsam Revue passieren zu lassen und dabei bewusst zu schauen: Was gab es an guten Momenten? Oder die sogenannte Erbsenübung: «Das Kind steckt sich am Morgen eine kleine Handvoll Erbsen in eine Hosentasche – und immer dann, wenn es etwas Schönes erlebt, verschiebt es eine Erbse in die andere. So wird besonders gut sichtbar, dass selbst schwere Tage gute Momente haben.»
7. Erfahrung von Sinn, Struktur und Bedeutung
Nehmen wir das Leben und unser Dasein grundsätzlich als sinnhaft, plausibel und bewältigbar wahr? Verspüren wir Zugehörigkeit zur Umwelt, die uns umgibt? Diese Art seelischer Grundverfassung bezeichnete der Medizinsoziologe Aaron Antonovsky einst als «Kohärenzgefühl». Es gleicht einem inneren Kompass, der es Menschen erleichtert, durchs Leben und seine Wechselfälle zu navigieren – dies zeigen Antonovskys Studien mit Überlebenden aus Konzentrationslagern.
«Kohärenzgefühl verstärkt andere Resilienz-Faktoren wie Optimismus oder Selbstwirksamkeit», sagt Psychologin Helmreich, «und es hat viel mit Werteorientierung zu tun: Wenn ich weiss, welche Werte mir wichtig sind und diese im Alltag verankere – Kreativität oder Freundschaft, zum Beispiel –, schöpfe ich daraus nicht nur Zufriedenheit, ich mache auch die Erfahrung, mein Leben ein gutes Stück weit steuern zu können. Es empfiehlt sich, auch mit Kindern darüber zu sprechen: Was ist dir als Person und uns als Familie wichtig, wie können wir, kannst du solche Dinge pflegen?»
8. Erfahrungen von Selbstwirksamkeit
Ein sperriger, in der Resilienz-Forschung geläufiger Begriff lautet «Selbstwirksamkeitserwartung». Gemeint ist das Vertrauen, Anforderungen aus eigener Kraft bewältigen zu können. «Erfahrungen von Selbstwirksamkeit festigen die Überzeugung, dem Lauf der Dinge nicht ausgeliefert zu sein, sondern ihn aktiv beeinflussen zu können», sagt Jürg Frick, Dozent an der Pädagogischen Hochschule Zürich und Experte für Resilienzförderung in der Schule. «Dafür braucht ein Kind Gelegenheit, sich Herausforderungen stellen zu können.»
Frick plädiert für «dosierte», dem Entwicklungsstand angepasste Anforderungen, «die Kinder früh einfordern, indem sie sich etwa selbst ankleiden oder mithelfen wollen». Er legt Eltern ans Herz, Kinder darin zu bestätigen, auch wenn der Pulli verkehrtherum sitzt, sie ausprobieren zu lassen, und geht dabei mal ein Teller zu Bruch. Und ihnen – wiederum dosiert – Misserfolge zuzumuten: «Kinder müssen lernen, Probleme in Teilschritte zu zerlegen, und dann Hilfe einzufordern, wenn sie nicht mehr weiterkommen. Das geht nicht, wenn Eltern ihnen alles abnehmen.» Es gelte, die Mithilfe der Kinder aktiv einzufordern und nicht etwa auf «Ämtli» zu verzichten, weil Erwachsene schneller sind. «Einen Beitrag zu leisten, stärkt Kinder», weiss Frick.
9. Geistige Flexibilität
Weil Intelligenz Menschen zum Problemlösen befähigt, gilt sie als bedeutender Resilienz-Faktor. «Wobei hier mehr die praktische Intelligenz im Vordergrund steht als der IQ an sich», betont Lösel, der im Rahmen der ersten Resilienz-Studie im deutschsprachigen Raum die Entwicklung von Heimkindern untersuchte. «Auch die Resilienten aus unserer Erhebung waren keine Hochbegabten, sie zeichneten sich vielmehr durch geistige Anpassungsfähigkeit und eine realistische Sicht auf die Dinge aus.» Geistige Flexibilität lässt sich trainieren.
Wir müssen unserem Kind nicht negative Emotionen ersparen, sondern ihm helfen, mit ihnen umzugehen.
Simone Munsch, Psychotherapeutin
Lösel betont diesbezüglich die förderliche Wirkung «dosierter Anforderungen», wie Psychologe Frick sie in Bezug auf Selbstwirksamkeit anführt. Grundsätzlich gilt: Kinder brauchen Zeit, um geistige Flexibilität zu entwickeln; vertraute Routinen sind gerade für die Jüngsten wichtig. «Nichtsdestotrotz kann man sich als Familie vornehmen, alltägliche Dinge zwischendurch anders anzugehen als sonst», sagt Resilienz-Forscherin Helmreich. «Kinder profitieren auch davon, wenn wir mit ihnen über verschiedene Menschen, Herangehensweisen und Sichtweisen sprechen und sie in eigene Überlegungen zur Problemlösung miteinbeziehen.»
10. Eine gute Emotionsregulation
Damit ein junger Mensch in schwierigen Situationen innere Kräfte mobilisieren kann, muss er aushalten gelernt haben, was sich unangenehm anfühlt: dass die Antwort Nein lautet, die Lehrerin den Vortrag schlecht benotet hat, der Nachbar besser Fussball spielt – ohne dass die Eltern zu beschwichtigen oder ihm solche Momente zu ersparen versuchen. «Affekttoleranz meint die Fähigkeit, unmittelbare, heftige und intensiv-negative Gefühle auszuhalten», sagt Simone Munsch, Leiterin der psychotherapeutischen Praxisstelle an der Universität Freiburg. «Fehlende Affekttoleranz spielt bei psychischen Störungen eine Schlüsselrolle. Es ist wichtig, dass Eltern ihren Kindern ein Übungsfeld für entsprechende Lernerfahrungen bieten, und zwar ab frühester Kindheit.»
Die Fähigkeit, seine Gefühle benennen und einzuordnen, müsse ein Kind im Lauf seiner Entwicklung lernen. «Eltern können ihm dabei helfen, indem sie seine Emotionen spiegeln und versprachlichen, etwa sagen: Du bist wütend, nicht wahr? Oder: Schön, wie du dich freust! Die elterliche Fähigkeit, sensitiv auf die Bedürfnisse der Kinder einzugehen, ist in diesem Lernprozess von grosser Bedeutung.» Sie werde aber oft missverstanden, weiss Munsch: «Es geht nicht darum, dem Kind negative Emotionen zu ersparen, sondern ihm die Unterstützung zu geben, die es braucht, um damit umgehen zu lernen. Eltern sollten sich solchen Momenten darauf beschränken, dem Kind zu signalisieren, dass sie da sind – und zuversichtlich, dass es wieder gut kommt. Tatsächlich fällt dies Müttern und Väter oft schwer, weil sie glauben, sie müssten Kindern Leid ersparen.»
11. Sozialkompetenz
Das Wissen über Emotionen ist auch von Bedeutung, wenn um es um den Erwerb von Sozialkompetenz geht, die ein wichtiger Resilienz-Faktor darstellt. Indem Eltern ihrem Kleinkind Emotionen spiegeln und versprachlichen, helfen sie ihm, mit der Zeit nicht nur ein Gespür für die eigenen Gefühle, sondern auch die der anderen zu entwickeln. Sozialkompetenz setzt auch voraus, dass wir uns in andere hineinversetzen können. «Diese Fähigkeit setzt ab dem dritten Lebensjahr ein und ebnet den Boden für Hilfe und Kooperation», sagt Moritz Daum, Leiter der Entwicklungspsychologie an der Universität Zürich.
Auch hier könnten Eltern soziales Lernen unterstützen, indem sie dem Kind Zusammenhänge verbal greifbar machten: «Schau, das Mädchen weint. Es ist traurig. Weisst du noch, wie traurig du warst, als dir deine Schaufel weggenommen wurde?» Später sei das Vorbild der Eltern zentral, sagt Daum: «Wie gehe ich als Mutter oder Vater mit Mitmenschen um? Habe ich ein Gehör für andere? Biete ich ihnen meine Unterstützung an? Kinder beobachten genau, wie Eltern sich dahingehend verhalten.»