Aus der Bahn geworfen - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Aus der Bahn geworfen

Lesedauer: 10 Minuten

Die Pandemie ist vorbei, die Probleme sind geblieben: Noch nie waren in der Schweiz so viele Kinder und Jugendliche in psychotherapeutischer Behandlung. Eine Entspannung ist nicht in Sicht. Was lässt die junge Generation so leiden? Und wie können Eltern helfen?

Text: Virginia Nolan
Bilder: Fabian Hugo / 13 Photo

Es war eine traurige Premiere, die das Bundesamt für Statistik (BFS) Ende 2022 vermeldete: Zum ersten Mal waren psychische Störungen der häufigste Grund für stationäre Spitalaufenthalte bei den 10- bis 24-Jährigen – häufiger als Verletzungen, Unfälle oder körperliche Krankheiten. Im Vordergrund standen hauptsächlich Depressionen und Angststörungen.

Bei Mädchen und jungen Frauen dieser Altersgruppe nahm die Zahl der psychisch bedingten Spitalaufenthalte von 2020 bis Ende 2021 gegenüber dem Vorjahr um 30 Prozent zu – «ein beispielloser Anstieg», schreibt das BFS. Bei den Buben und männlichen Jugendlichen betrug die Zunahme 6 Prozent. Allein 2021 zählte das BFS rund 20 000 stationäre Aufenthalte. Betroffen waren 13 000 Kinder und Jugendliche, die aufgrund seelischer Probleme durchschnittlich 27 Tage im Spital verbrachten. Daten für 2022 stehen noch aus, dürften aber auf wenig Entspannung hindeuten.

Alle zwei Tage wird ein Leben knapp gerettet

Rund 120 Kinder und Jugendliche wenden sich pro Tag mit ihren Sorgen direkt an Beratung + Hilfe 147 von Pro Juventute. Die Telefonhotline ist dafür der meistgenutzte Kanal, hinzu kommen Chat, E-Mail oder SMS. «Seit 2020 hat sich unser Beratungsaufwand um 40 Prozent erhöht», sagt Lulzana Musliu, Leiterin Politik- und Medienarbeit bei Pro Juventute. «Anrufe dauern länger, weil Kinder und Jugendliche zunehmend komplexe Themen haben. Manche belasten Mehrfachproblematiken, die viel Zeit erfordern.»

Es kommt auch vor, dass Berater die Reissleine ziehen und Sanität oder Polizei verständigen müssen, weil Jugendliche konkrete Suizidabsichten äussern. Die allermeisten solcher Kriseninterventionen erfolgen mit dem Einverständnis der Jugendlichen, die sich freiwillig in die Obhut der Rettungskräfte begeben. Zählte Pro Juventute 2019 noch 57 solcher Kriseninterventionen schweizweit, waren es im vergangenen Jahr 161. Rund alle zwei Tage wird ein Leben im letzten Moment gerettet.

Was läuft da schief, führte zu jenem «beispiellosen Anstieg» von Patientinnen und Patienten in den Kinder- und Jugendpsychiatrien? Warum sind so viele Mädchen und junge Frauen darunter? Und was können Eltern tun, um die Psyche ihrer Kinder zu stärken?

Die Spurensuche startet mit einer Erkenntnis, die als gesichert gilt: Die aktuelle Entwicklung ist nicht allein mit der Corona-Pandemie zu erklären. Vielmehr warf diese ein Schlaglicht auf Probleme, die vorher abseits des öffentlichen Interesses gärten, und wirkte dann als Brandbeschleuniger. «Seit etwa 2010 beobachten wir einen steigenden Bedarf an Diagnostik und Therapie», sagt Oliver Bilke-Hentsch, Chefarzt beim Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienst der Luzerner Psychiatrie, «der ab 2017 nochmals zulegte.»

In der Pandemie entfiel für viele Kinder und Jugendliche der emotionale Halt durch erwachsene Bezugspersonen, weil diese selbst belastet waren.

Alain Di Gallo, Chefarzt Psychiatrie

Ähnliches berichtet Alain Di Gallo, Chefarzt der Klinik für Kinder und Jugendliche der Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel. «In der Pandemie entfiel für viele Kinder und Jugendliche der emotionale Halt durch erwachsene Bezugspersonen, weil diese selbst belastet waren», sagt er. «Dies forderte uns in nie dagewesenem Ausmass und wirkt nach. Tatsache ist aber auch, dass die Inanspruchnahme der Ambulatorien und Kliniken schon vor der Pandemie zunahm.»

Auch Daten des BFS zeigen, dass die Zahl psychisch bedingter Spitalaufenthalte bei den 10- bis 24-Jährigen seit 2012 um rund 3 Prozent jährlich steigt.

Viele Jugendliche finden keine guten Strategien im Umgang mit dem Chaos im Kopf. Lesen Sie hier: 9 Fakten rund um die kindliche Psyche

Ein Indikator, der Aufschluss über das emotionale Wohlergehen von Kindern und Jugendlichen gibt, ist ihr Stressempfinden. Was sorgt denn bei Jugendlichen für Stress? Frage in die Runde einer Jugendaustauschgruppe, die sich wöchentlich in einer Schweizer Grossstadt trifft. Die Gruppe ist ein niederschwelliges Angebot, das die lokale Uniklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie gemeinsam mit einer Familienberatungsstelle lanciert hat. Einige der teilnehmenden Jugendlichen sind ehemalige Patientinnen und Patienten, andere wurden von der Familienberatung zugewiesen.

Einer der grössten Stressfaktoren, darin sind sich die Anwesenden einig, ist die Schule. Carolina, 19, steht vor der Lehrabschlussprüfung. Der Probelauf sei schlecht gegangen. Carolina hat keine guten Erinnerungen an die obligatorische Schulzeit.

Überforderungs- und Versagensgefühle hätten diese geprägt, auch, weil zu Hause die Unterstützung gefehlt habe: «Unsere Mutter war alleinerziehend und krank.» Die junge Frau ist der Überzeugung, dass ihr Leben heute anders verliefe, hätte sie in der Sekundarschule die Kurve gekriegt oder wäre sie gar aufs Gymnasium gekommen. «Ich wäre ein anderer Mensch», glaubt sie, «würde mehr geliebt.»

«Vergiss es», wirft Jan tröstend ein. «Im Gymnasium wärst du draufgegangen.» Der 16-Jährige selbst flog wegen seines Verhaltens vom Gymnasium. Dabei habe er an seinen Ausrastern gearbeitet: «Ich flippte nicht mehr aus, sondern verliess den Raum, wenn ich spürte, dass es schwierig wird. Man sagte mir, dies passe nicht ans Gymnasium.»

Alles an der Schule war nur noch schlecht.

Rahman, 15

Jan gegenüber sitzt Rahman. Er wolle es im Leben zu etwas bringen, sagt der 15-Jährige, der auch darum bemüht ist, dass seine jüngeren Geschwister gut in der Schule sind. «Mein Vater hielt mir ständig den Sohn seines Freundes als Vorzeigebeispiel vor», sagt er.

Zum Gefühl, nicht zu genügen, sei Mobbing gekommen: «Anlass dazu gaben meine Hautfarbe, meine Kleider. Alles an der Schule war nur noch schlecht.» Rahman stürzte in die Krise, hätte die Schule fast geschmissen. Mittlerweile hat er sich erholt – und eine Stufe nach oben erklommen: «Ich habe es in die Fachmittelschule geschafft, konnte meinem Vater zeigen, wozu ich in der Lage bin.»

Fehlende Psychiatrieplätze

Bereits 2016 kam eine vom Bundesamt für Gesundheit lancierte Studie zum Schluss, dass es in den Kinder- und Jugendpsychiatrien zu wenig Plätze gibt, und die zuletzt sprunghaft gestiegene Nachfrage verschlimmerte das Problem. Viele Kantone reagierten mit einem Ausbau von Kapazitäten oder verkündeten entsprechende Pläne. Der Kanton Zürich etwa hat bis Ende 2022 ein ganzes Bündel an Massnahmen für eine bessere kinder- und jugendpsychiatrische Versorgung umgesetzt. Dazu gehören unter anderem die Eröffnung eines neuen Kriseninterventionszentrums in Zürich, ein Bettenausbau bei regionalen Einrichtungen sowie aufgestockte Personalbestände in Ambulatorien. Doch die kantonalen Unterschiede sind erheblich. So mussten die Universitären Psychiatrischen Dienste Bern die Neuaufnahme von Kindern und Jugendlichen im Ambulatorium vor wenigen Monaten stoppen, weil sich die Wartefrist auf bis zu 18 Monate erhöht hatte.

6 von 10 Mädchen über 14 zeigen erhöhte Stresswerte

Auch eine Studie der Pro Juventute von 2019 ortet die Schule als Top-Stressor im Leben von Kindern und Jugendlichen. Dabei erzeugten nicht nur Prüfungen und Hausaufgaben, sondern auch Belastungen durch Streit in der Klasse, Konflikte mit der Lehrperson oder Mobbing Stress.

An der Befragung beteiligten sich 1056 Kinder und Jugendliche im Alter von 9 bis 15 Jahren. Die Untersuchung kommt zum Schluss, dass eines von vier Kindern unter 11 erhöhte Stresswerte zeigt. Bei den über 14-Jährigen sind es sechs von zehn jungen Frauen und drei von zehn jungen Männern. Befragte mit hohen Stressausprägungen, so die Autoren, fühlten sich im Durchschnitt sowohl durch ihre Eltern als auch durch ihre Lehrpersonen überfordert, seien oft erschöpft, emotional belastet und häufiger ängstlich und litten unter Beschwerden wie Kopf- oder Bauchschmerzen.

Es ist nicht das erste Mal, dass Wissenschaftler der Schweizer Jugend eine ernüchternde Stressbilanz ausstellen. In einer Befragung der Jacobs Foundation von 2014 gab fast die Hälfte der 1500 Mitwirkenden zwischen 15 und 21 Jahren an, das Gefühl von Stress und Überforderung gehöre zu ihrem Alltag. Dabei sagten 80 Prozent der von Stress Geplagten, ihnen machten nicht Eltern oder Lehrpersonen, sondern die hohen Anforderungen an sich selbst zu schaffen.

Für Sara, 16, kam die Einsicht, dass sie krank war, auf die harte Tour. Ihre Geschichte lesen Sie hier.

Warum machen sich Jugendliche so viel Druck? Schliesslich ist unser Bildungssystem durchlässiger denn je. «Durchlässigkeit erzeugt mitunter auch Druck. Man kann immer noch eine Stufe höher steigen, sich noch besser qualifizieren. Verbunden mit dieser Möglichkeit ist die Aufforderung, sie zu nutzen», sagt Jugendpsychiater Di Gallo. Wo der Aufstieg locke, drohten als Kehrseite der Fall, Gefühle von Ungenügen und Selbstzweifel. «Früher war eine Lehrstelle mit der Aussicht auf einen festen Platz in der Gesellschaft verbunden, heute gilt es vor allem, nicht stehen zu bleiben. Und die zunehmende Akademisierung vieler Lehrberufe macht es für schulschwache Jugendliche schwieriger, zu genügen.»

«Die Vielfalt an Optionen, wer wir sein wollen, ist immens»

Ist Erwachsenwerden grundsätzlich schwieriger geworden? «Jede Generation wird mit Herausforderungen konfrontiert», sagt Di Gallo. «Allerdings haben in den vergangenen 20 Jahren Häufigkeit und Geschwindigkeit von Veränderungen zugenommen. Die Vielfalt an Optionen, wer wir sein wollen, ist immens.» Im Zeitalter des Individualismus sind subjektive Überzeugungen an die Stelle allgemeingültiger Wertvorstellungen gerückt, Wahlfreiheit geht vor Pflichtprogramm. Selbst das Geschlecht scheint nicht mehr biologische Determinante, sondern Auslegungssache zu sein.

«Dazu kommen die vielen virtuellen Kanäle, die es zu bespielen gibt, wobei jeder Wechsel eine Rollenanpassung erfordert», sagt Di Gallo. «All dies meistert die Mehrheit der Jugendlichen problemlos. Bei den verletzlicheren 15 bis 20 Prozent kann es zu Überforderung führen. Persönlichkeitsstörungen, die auf ernsthafte Probleme mit der Identitätsentwicklung zurückzuführen sind, häufen sich.»

Macht die Weltlage junge Menschen krank?

Manche verorten die seelische Not von Jugendlichen auch in der Weltlage. Die Pandemie, die Klimakrise, dann der Ukrainekrieg: Ist es der permanente Krisenzustand, der junge Menschen krank macht? «Er geht sicher nicht spurlos an ihnen vorbei», sagt Kinder- und Jugendpsychiater Bilke-Hentsch. «Wir nehmen diese Probleme als bedrohlich wahr und sehen Handlungsbedarf, merken aber, dass weder unsere individuellen Fähigkeiten noch gesellschaftliche Kräfte reichen, um die Situation zu verändern.»

Man spreche in diesem Zusammenhang von einer erlernten Hilflosigkeit – der durch negative Erfahrungen gereiften Überzeugung, dem Leben ausgesetzt zu sein und auf seine Geschicke keinen Einfluss zu haben. Solche Ohnmachtsgefühle prägten auch das Krankheitsbild der Depression.

Man könnte nun einwenden, dass auch wir Eltern als Heranwachsende Zeugen von Krisen wurden. Man denke an Tschernobyl, den Kalten Krieg, den Terrorismus nach der Jahrtausendwende. «Es gibt einen Unterschied», findet der 19-jährige Emil. «Man konnte irgendwann den Fernseher abschalten. Heute prasseln Nachrichten ohne Unterbruch auf einen ein.»

Carolina aus der Jugendaustauschgruppe glaubt, soziale Medien seien mit schuld an der psychischen Misere vieler Jugendlicher: «Der Vergleich mit anderen, die Negativnachrichten – das macht unglücklich.»

Mehrere Klinikaufenthalte halfen Emil, 19, aus seinen Depressionen zurück ins Leben. Seine Geschichte lesen Sie hier.

Derweil vermutet Valentina, 15, die Sache sei komplexer. «Ich glaube nicht, dass sich das seelische Wohlbefinden an der Mediennutzung festmachen lässt», sagt die angehende Gymnasiastin. «Man sollte stattdessen die Eltern in den Blick nehmen: Sie prägen das Kind am meisten. Ich wünschte mir, dass Elternbildungsprogramme Pflicht wären.» Sie habe ein schwieriges Verhältnis zu ihren Eltern, sagt Valentina.

Eine belastete Beziehung zu den Eltern scheint für die Mehrheit der Jugendlichen nicht das Problem zu sein. Das legen Untersuchungen wie die deutsche Shell-Jugendstudie nahe. «Seit 2002 nimmt der Anteil Jugendlicher, die ein positives Verhältnis zu den Eltern haben, stetig zu», steht im Fazit der jüngsten Erhebung von 2019, an der sich über 2500 12- bis 25-Jährige beteiligten.

Möglicherweise fehlt es Kindern heute an der Fähigkeit, mit Anforderungen umgehen zu können.

Eliane Perret, Heilpädagogin

An Liebe scheint es Kindern und Jugendlichen nicht zu mangeln. Wie ist es dann möglich, dass es so vielen an Halt fehlt? «Erwachsene haben die Aufgabe, Kindern zu zeigen, was das Leben ist – dass es uns vor Herausforderungen stellt und dass diese durchaus zu meistern sind», sagt Eliane Perret, Psychologin, Heilpädagogin und Mitgründerin einer Sonderschule vom Typus A, wo im Kanton Zürich Kinder und Jugendliche landen, die für die Regelschule aufgrund ihres Verhaltens nicht mehr tragbar sind.

30 Jahre lang, bis zu ihrer Pensionierung 2020, leitete Perret die Schule. Heute unterrichtet sie dort noch Werken. Sind junge Menschen mit immer höheren Anforderungen konfrontiert? «Da bin ich unsicher», sagt Perret. «Möglicherweise fehlt es an der Fähigkeit, mit Anforderungen umgehen zu können.»

Wenn Eltern und Schule dem Kind alle Schwierigkeiten abnehmen

Die seelische Krise der Jugend sieht Perret als Ausdruck mangelnder Resilienz im Alltag. Vielen Kindern fehle es heute an Übungsfeldern, um ihre Widerstandskraft zu stärken. Sie machten zu selten die Erfahrung, Herausforderungen bewältigen zu können. Tauchten Schwierigkeiten auf, würden sie schnell mutlos.

«Oft versuchen sie den Anforderungen zunächst aus dem Weg zu gehen und sind dabei durchaus kreativ», sagt Perret. «Sie hoffen, dass sie ihnen jemand abnimmt.» Das seien viele von zu Hause gewohnt, aber auch aus der Schule, wo ein Kind im Zweifelsfall von den Klassenlernzielen befreit werde. Das sei problematisch: «Es müsste eigentlich darum gehen, das Kind zu ermutigen und ihm zu zeigen, wie es die gestellten Aufgaben bewältigen kann», sagt Perret. «Das würde sein Gefühl der Selbstwirksamkeit langfristig stärken.»

Der Zürcher Psychologe Allan Guggenbühl arbeitet seit 30 Jahren mit Jugendlichen und ihren Eltern. Letztere seien heute viel bemühter im Hinblick darauf, alles richtig zu machen. «Die Gefahr dieser engagierteren Elternschaft ist, dass man Erziehung mit Idealen überfrachtet und sich zu stark auf das Kind ausrichtet», sagt er.

Eine starke Bindung entsteht nicht dadurch, dass Eltern die Bedürfnisse des Kindes stets unmittelbar erfüllen.

Allan Guggenbühl, Psychologe

So bereite man sein Kind im Geist auf eine Gesellschaft vor, in der Gerechtigkeit und Gleichheit herrschten. «Leider ist die Welt, die das Kind erwartet, nicht so. Es kann passieren, dass Lehrer ungerecht sind, der Schmeichler weiterkommt und niemand auf einen wartet», sagt Guggenbühl. «Als Eltern ist es unsere Aufgabe, Kinder auch auf die Paradoxien und Ungerechtigkeiten des Lebens vorzubereiten. Ich habe den Eindruck, dass dies oft vergessen geht.» Vielen Eltern falle es schwer, ihre Kinder unangenehme Erfahrungen machen zu lassen. «Wenn etwas schiefläuft, greifen sie lieber ein», beobachtet Guggenbühl.

Affekttoleranz: Wie Kinder Frust und Konflikte aushalten lernen

«Viele Eltern wollen ihre Kinder nicht mehr so erziehen, wie sie selbst erzogen worden sind, gleichzeitig fehlen ihnen Vorbilder für Alternativen», weiss Perret. Diese in Ratgeberliteratur zu suchen, sei nicht verkehrt, doch passierten Denkfehler. «Die Bindungstheorie etwa wird oft falsch verstanden», so Perret. «Eine starke Bindung entsteht nicht dadurch, dass Eltern die Bedürfnisse des Kindes stets unmittelbar erfüllen. Es ist auch nicht jeder kindliche Wunsch als Bedürfnis einzuordnen.»

Perret beobachtet oft, dass Eltern sich nicht trauen, ihre Kinder zu frustrieren, Mühe damit haben, Konflikte auszuhalten, weil sie befürchten, die Beziehung zum Kind könnte Schaden nehmen. «Es vermittelt dem Kind Sicherheit, wenn Eltern ihm Leitplanken setzen. An denen darf es sich auch mal reiben.»

Damit ein junger Mensch seine inneren Kräfte in schwierigen Situationen mobilisieren kann, muss er aushalten gelernt haben, was sich unangenehm anfühlt: dass die Antwort Nein lautet, die Lehrerin den Vortrag schlecht benotet hat, der Nachbar besser Fussball spielt – ohne dass die Eltern gleich zu beschwichtigen oder ihm solche Emotionen zu ersparen versuchen.

Affekttoleranz nennt sich das in der Psychologie. «Gemeint ist die Fähigkeit, unmittelbar auftretende, heftige und intensiv negative Gefühle auszuhalten», sagt Psychologin Simone Munsch, Leiterin der psychotherapeutischen Praxisstelle an der Universität Freiburg. «Es gibt sogenannt transdiagnostische Faktoren, die bei den meisten psychischen Störungen zu finden sind: Fehlende Affekttoleranz, also Probleme im Umgang mit negativen Emotionen, spielen da eine Schlüsselrolle.»

Lea, 15, musste Strategien gegen das Gefühl der Hilflosigkeit erlernen. Ihre Geschichte lesen Sie hier.

Problematisch findet Psychologe Guggenbühl die Tendenz, die junge Generation immer später in die gesellschaftliche Verantwortung miteinzubeziehen. «Kinder realisieren früh, dass Arbeit ein Zeichen dafür ist, dass man in die Gesellschaft integriert ist und Bedeutung erlangt hat», sagt Guggenbühl. «Davon schliessen wir die Jungen aus, wir verbannen sie mit ewig langer Schul- und Weiterbildung in den Warteraum. Entsprechend befindet sich fast die Hälfte der 20- bis 24-Jährigen in Ausbildung. Viele junge Erwachsene empfinden sich als nutzlos.»

Lehrerin Perret macht die Erfahrung, dass eine Berufslehre nach holprigen Zeiten oft korrigierend wirkt: «In der Lehre müssen Jugendliche Lösungen für reale Probleme entwickeln, man verlässt sich auf sie.» So auch bei Jan. Nach seinem Rauswurf aus dem Gymnasium ist er in der Lehre zum Schreiner. In der Gesprächsrunde zückt er sein Handy und zeigt Bilder von Möbeln, an denen er mitgearbeitet hat. «Die Lehre war die beste Entscheidung», sagt er. «Im Betrieb herrsche eine Holschuld, sagt mein Berufsbildner. Er bringe mir alles bei, aber ich sei es, der die Dinge einfordern müsse. Das gefällt mir.»

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