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«Das Warten war der Horror»

Lesedauer: 2 Minuten

Von seiner Sekundarschulzeit verbrachte Emil, 19, wegen einer Depression acht Monate in der Klinik. Genauso lange hatte er auf einen Therapieplatz gewartet. Der angehende Töffmechaniker blickt auf seine Krankheit zurück.

Aufgezeichnet von Virginia Nolan
Bild: Fabian Hugo / 13Photo

Ich war 13, als ich merkte: Meine Tiefs sind nicht nur Stimmungsschwankungen. Sicher, Freunde kannten auch üble Tage, sie hatten aber auch gute. Ich nicht mehr: Seit Monaten zog sich dieses schlechte Gefühl durch meine Tage. Ich war völlig ausgelaugt, und dies, obwohl ich – wie ich mir immer wieder sagte – nichts geleistet hatte.

Die Tage zogen sich hin. Erst schaffte ich es nicht mehr in die Schule, dann nicht mehr aus dem Bett. Der Körper war wie gelähmt, das Kopfkino lief auf Hochtouren: Ich hatte meine Eltern enttäuscht, würde schulisch den Anschluss verpassen, meine Freunde verlieren. Ich fühlte Angst, Trauer, Scham. Meine Familie gab sich alle Mühe, mir zu helfen. Irgendwann sagten meine Eltern, sie besässen nicht das nötige Wissen, um mit der Situation umzugehen, und regten eine Therapie an. Ich war offen dafür.

Es dauerte über zwei Monate, bis ein ambulanter Platz frei wurde. Dort hiess es, ich hätte aufgrund meiner Depression eine stationäre Therapie nötig. Ich schaffte es kaum noch, zu duschen und zu essen, verletzte mich selbst. In den nächsten acht Monaten wurde aber kein Platz frei – man schickte mich heim, die ambulante Therapie als Krücke zur Überbrückung. Das Warten war Horror.

Erst schaffte ich es nicht mehr in die Schule, dann nicht mehr aus dem Bett. Der Körper war wie gelähmt, das Kopfkino lief auf Hochtouren.

Emil, 19

Dann der erste Klinikaufenthalt – fünf Monate, in denen ich zu einer Tagesstruktur zurückfand. Man begleitete mich einfühlsam, ich schloss Freundschaft mit meiner heutigen besten Kollegin. Meine Rückkehr in den Alltag erfolgte schrittweise, und doch war es ein Sprung ins kalte Wasser. Es folgten turbulente anderthalb Jahre. Im Ringen um Selbstkontrolle entwickelte ich eine Essstörung, die mich zu Beginn der dritten Sek in die Klinik zurückkehren liess.

Der zweite Aufenthalt, drei Monate diesmal, liess mich gestärkter zurückkehren. Ich war immer gut in der Schule gewesen, musste trotz Absenzen nicht wiederholen und konnte meinen Wunschlehrberuf antreten. Der ist schulisch anspruchsvoll, mit viel Physik und Mathe. Aber ich lerne gerne – weil es mich interessiert. Sich mit Inhalten auseinanderzusetzen, die einen begeistern, ist ein Privileg. Mein Fachkundelehrer findet, ich sollte ein Ingenieurstudium anhängen – wer weiss?

Ich hatte eine gute Kindheit, ein sicheres Daheim. Warum es mich dennoch aus der Bahn warf? Ich denke wissenschaftlich, suche stets nach kausalen Zusammenhängen. Beim Rückblick auf meine Krankheit komme ich damit nicht weiter. Sie ist keine Gleichung, die man einfach auflösen kann, da war kein Dominostein X, der alles einstürzen liess.

Am ehesten lässt sich das Ganze mit einem Mosaik vergleichen, dessen Teilchen alle miteinander in Verbindung stehen. Die ältesten stammen aus der frühen Kindheit, und mit jeder Erfahrung kommen weitere dazu. Manchmal springt einem nach Jahren eines ins Auge – man erkennt ein Zusammenspiel, das einem nicht bewusst war. Mit dieser Auseinandersetzung sind wir wohl nie fertig. Immerhin beschert sie uns immer mal wieder neue Einsichten.

Virginia Nolan
ist Redaktorin, Bücherwurm und Wasserratte. Sie liebt gute Gesellschaft, feines Essen, Tiere und das Mittelmeer. Die Mutter einer Tochter im Primarschulalter lebt mit ihrer Familie im Zürcher Oberland.

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