9 Fragen rund um die kindliche Psyche
Beim Thema psychisches Wohlbefinden von Kindern ist vieles mit Ungewissheit behaftet. Fünf Fachleute liefern Antworten auf die häufigsten Fragen.
1. Welche Arten von psychischen Krankheiten gibt es?
Wir unterscheiden zwischen internalisierenden Störungen wie Depressionen oder Angststörungen, unter denen Betroffene mehrheitlich im Stillen leiden, und externalisierenden Störungen wie ADHS, die sich durch Hyperaktivität, Impulsivität, aggressives oder verweigerndes Verhalten äussern. Es gibt auch Fälle, in denen keine der beiden Kategorien eindeutig zutrifft, weil Betroffene ihre Bewältigungsstrategien sowohl nach innen als auch nach aussen richten. Das kann etwa bei Zwangs- oder Suchtstörungen der Fall sein. Mädchen sind überwiegend von nach innen gerichteten Krankheiten betroffen, Buben von externalisierenden Störungen.
Alain Di Gallo, Chefarzt der Klinik für Kinder und Jugendliche der Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel
2. Welche Risikofaktoren gefährden eine gesunde psychische Entwicklung?
Da sind zunächst die Gene. Man vererbt eine Depression oder eine Angststörung nicht eins zu eins, gibt aber unter Umständen die Veranlagung dazu weiter. Verhaltensvorbilder spielen aber auch eine Rolle: Ein Vater mit Angststörungen gibt dem Kind nicht einfach seine genetische Angst weiter, sondern prägt es mit seinem vermutlich eher ängstlichen Verhalten als Vorbild.
Insgesamt haben frühkindliche Erfahrungen grossen Einfluss darauf, wie wir später mit Belastungen umgehen. Das erste Lebensjahr ist dabei von immenser Bedeutung. In dieser Phase ist ein Kind besonders darauf angewiesen, dass seine Bedürfnisse nach Nahrung, Wärme und emotionaler Nähe zuverlässig erfüllt werden. Später sind familiäre Konflikte, eine Trennung der Eltern, Verluste oder Belastungen wie Mobbing Faktoren, die eine psychische Störung begünstigen und auslösen können.
Alain Di Gallo
3. Wie viele Kinder und Jugendliche leiden an psychischen Erkrankungen?
Langzeitstudien zeigen, dass etwa 20 Prozent aller Kinder und Jugendlichen psychische Auffälligkeiten haben, wobei es sich in rund der Hälfte der Fälle um mindestens eine behandlungsbedürftige Störung handelt. Diese Zahlen erwiesen sich über Jahrzehnte als relativ konstant. Während der Corona-Pandemie ist der Anteil allerdings auf 30 Prozent gestiegen. Eine höhere Inanspruchnahme von Diagnostik und Beratung zeichnete sich schon vorher ab, nämlich seit etwa 2010.
Oliver Bilke-Hentsch, Chefarzt beim Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienst der Luzerner Psychiatrie
4. Es gibt immer mehr psychiatrische Diagnosen. Pathologisieren wir Kinder?
Als ich studierte, diagnostizierte man Autismus bei 1 von 1000 Personen. Heute ist 1 von 80 bis 100 Personen betroffen. Wir sprechen von Autismus-Spektrum-Störungen, weil wir wissen, dass die Krankheit eine Bandbreite von Entwicklungsstörungen umfasst, die ähnliche neurobiologische Ursachen haben, sich in ihrer Ausprägung aber stark voneinander unterscheiden. Es gibt Betroffene, die nicht sprechen können, andere haben sehr gute Sprachfertigkeiten.
Eine verfeinerte Diagnostik ermöglicht, auch weniger offensichtliche Symptome medizinisch einzuordnen, Betroffenen zu helfen, die früher als sonderbar abgestempelt worden wären. Dasselbe gilt für Störungsbilder wie ADHS. Es geht nicht darum, Kinder krank zu reden, sie sollen adäquate Unterstützung bekommen. Die Diagnose ADHS setzt jedoch eine sorgfältige Abklärung voraus. Leider ist diese nicht überall gewährleistet. Entsprechend gibt es Kinder mit Diagnose, bei denen gar keine Störung vorliegt, und solche, die Hilfe bräuchten, aber durch die Maschen fallen.
Alain Di Gallo
5. Warum sind so viele junge Frauen in therapeutischer Behandlung?
Die weibliche Pubertät beginnt früher als die männliche. Sie bringt grosse hormonelle Umstellungen und erhebliche Veränderungen des Erscheinungsbildes mit sich: In kurzer Zeit lagert sich bis zu 40 Prozent mehr Körperfett ein, und Fett gilt in unserer Gesellschaft nicht als attraktiv. Bei manchen Mädchen ist die kognitive Entwicklung noch nicht so weit, dass sie diese Veränderungen akzeptieren können: Sie sind überfordert.
Ungesunde Vorbilder und der ständige Vergleich mit anderen können bei Mädchen für eine Abwärtsspirale sorgen.
Dagmar Pauli, Chefärztin
Mädchen haben in der Regel ein kritischeres Selbstbild. Verschärft wird dies durch die sozialen Medien, wo sie sich öfter aufhalten als Buben. Ungesunde Vorbilder und der ständige Vergleich mit anderen können für eine Abwärtsspirale sorgen, zudem kursieren ungünstige Problemlösungsstrategien – etwa durch Selbstverletzung oder Diäten –, die zur Nachahmung inspirieren. Schliesslich macht Leistungsdruck Mädchen öfter zu schaffen, weil sie höhere Ansprüche an sich selbst haben, etwa in der Schule, wo Buben sich schneller zufriedengeben.
Dagmar Pauli, Chefärztin und stellvertretende Direktorin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich
6. Haben junge Männer weniger psychische Probleme?
Davon ist nicht auszugehen – wir sehen sie einfach weniger in den Sprechstunden. Junge Frauen sind zwar häufiger suizidal, aber die Zahl der vollendeten Suizide ist bei jungen Männern höher. Wir wissen, dass junge Frauen sich eher Hilfe suchen. Belastete junge Männer zu erreichen, ist eine Herausforderung. Bei ihnen ist die Gefahr oft hoch, dass sie sich in virtuelle Welten zurückziehen, ins Gamen versinken, nur noch dort Bestätigung erfahren und so langfristig vereinsamen.
Buben werden anders erzogen als Mädchen. Da müssen wir Gegensteuer geben, damit sich etwas ändert. Angefangen damit, dass wir mit Buben früh über Gefühle reden, sie darin unterstützen, diese ausleben und benennen zu lernen. Und dass wir ihnen – Väter ganz besonders – unsere eigenen Emotionen nicht vorenthalten, sondern vorleben, wie man konstruktiv mit schwierigen Gefühlen umgeht, indem man darüber spricht und sich Hilfe sucht.
Dagmar Pauli
7. Wie merken Eltern, ob ihr Kind Stimmungsschwankungen hat, die vorübergehen, oder ob sich eine psychische Störung anbahnt?
Hinschauen sollten Eltern, wenn ihr Kind beginnt, sich auffallend zurückzuziehen, Ängste entwickelt, Dinge, die es früher gerne getan hat, vernachlässigt, oder auch unter Schlafstörungen leidet. Es kommt dabei auf Dauer und Ausmass des Problems an. Hat ein Jugendlicher ab und zu einen schlechten Tag und zeitweilig keine Lust auf soziale Interaktion, ist das noch kein Grund zur Sorge.
Ist der soziale Rückzug so stark, dass Jugendliche Freunde, Hobbys oder gar die Schule längerfristig meiden, sollten Eltern das Thema feinfühlig ansprechen und Hilfe suchen.
Eveline von Arx, Psychologin
Ist der soziale Rückzug jedoch so stark, dass Jugendliche Freunde, Hobbys oder gar die Schule längerfristig meiden, und kommen Ängste dazu, sollten Eltern das Thema feinfühlig ansprechen und Hilfe suchen. Als erster Schritt helfen niederschwellige Beratungsangebote wie ein Termin bei der Jugend- oder Erziehungsberatung.
Eveline von Arx, Psychologin und psychologische Beraterin für Lernende am KV Zürich und am Gymnasium und Institut Unterstrass, Zürich
8. Es gibt berechtigten Grund zur Sorge, aber das Kind verweigert das Gespräch. Was nun?
Dann sollten Eltern nicht psychologisieren, sondern ganz direkt auftreten, also klar in der Rolle derjenigen, die für das Kind und seine Gesundheit verantwortlich sind: «Wir sehen, dass du dich immer mehr zurückziehst, und machen uns Sorgen. In unserer Familie schauen wir zueinander und lassen nicht zu, dass einer nicht mehr am Leben teilnimmt.»
Ich darf nicht davon ausgehen, dass mein Kind mit Verständnis reagiert, aber es ist meine Aufgabe, das Problem anzusprechen und ihm mögliche Wege hinaus aufzuzeigen. Dabei gilt es klarzumachen: «Das ist ein Angebot – nimmst du es nicht wahr oder reicht es nicht aus, werde ich Verantwortung übernehmen und uns bei der Jugendberatungsstelle oder Psychotherapie anmelden.»
Simone Munsch, Professorin für Klinische Psychologie und Psychotherapie, Leiterin der Psychotherapeutischen Praxisstelle an der Universität Freiburg
9. Wie können Eltern eine gesunde psychische Entwicklung fördern?
Das Wissen über Emotionen spielt hier eine Schlüsselrolle. Die Fähigkeit, eigene Gefühle zu verstehen, zu benennen und einzuordnen, muss ein Kind erst lernen. Eltern können ihm dabei helfen, indem sie seine Emotionen spiegeln und versprachlichen. Ihre Fähigkeit, sensitiv auf die Bedürfnisse des Kindes einzugehen, nimmt in diesem Lernprozess eine zentrale Bedeutung ein.
Kinder brauchen Gelegenheit, um negative Gefühle durchleben und aushalten zu lernen.
Simone Munsch, Professorin für Klinische Psychologie und Psychotherapie
Das bedeutet aber nicht, dem Kind negative Emotionen zu ersparen, sondern ihm die Unterstützung zu geben, die es braucht, um damit umgehen zu lernen. Kinder brauchen Gelegenheit, um negative Gefühle durchleben und aushalten zu lernen. Eltern sollten sich in solchen Frustmomenten darauf beschränken, dem Kind zu signalisieren, dass sie da sind – und zuversichtlich, dass es wieder gut kommt. Sind Frustrationstoleranz und der Umgang mit Emotionen gut entwickelt, ist das ein Schutzfaktor für die Psyche.
Simone Munsch