Resilienz – das Immunsystem der Seele
Wir alle straucheln, aber manche von uns stehen schneller wieder auf. Resilienz befähigt Menschen, sich Lebensmut und psychische Gesundheit trotz Schwierigkeiten zu bewahren. Woher kommt diese Widerstandskraft und wie können wir sie Kindern mit auf den Weg geben?
Annas Vater ist gewalttätig, die Mutter tablettensüchtig. Als Anna neun Jahre alt ist, entziehen die Behörden ihren Eltern das Sorgerecht für die Tochter. Anna kommt ins Heim. Drei Jahre später schafft sie es mit der Unterstützung einer Erzieherin aufs Gymnasium. Mit 18 steht sie kurz vor dem Abschluss. Sie schreibt gute Noten und pflegt Freundschaften, hat ein herzliches Verhältnis zu ihren Betreuenden und Pläne für die Zukunft.
Denise ist zehn Jahre alt, als sie ins gleiche Heim kommt wie Anna. Ihre psychisch kranke Mutter kann nicht mehr für sie sorgen. Mit 16 hat sie eine Odyssee durch verschiedene Einrichtungen hinter sich, weil sie sämtliche Hausregeln missachtet. Sie hat die Schule geschmissen und Anzeigen wegen Diebstahls am Hals.
Resilienz – ein vom Sturm gebeutelter Baum, dessen Äste zwar verbogen, aber nicht gebrochen sind.
Anna und Denise, die anders heissen, sind 2 von 146 Heimkindern zwischen 14 und 17 Jahren, deren Entwicklung der Psychologe Friedrich Lösel und sein Team von der Universität Bielefeld in den Neunzigerjahren verfolgten. Lösel gehörte damals zu den ersten Forschern in Europa, die ein Phänomen untersuchten, für das zu der Zeit noch kein deutscher Begriff existierte: eine innere Widerstandskraft, die Biografien gelingen lässt. Oder: «Die Fähigkeit, sich Widrigkeiten anzupassen, schwierige Umstände, Krisen und Leid zu verkraften und dabei seelisch einigermassen gesund zu bleiben, also langfristig keine psychischen Störungen zu entwickeln» – so beschreibt Lösel, was die Wissenschaft heute unter Resilienz versteht.
«Einigermassen gesund», das betont er mit Nachdruck, «denn kein Mensch ist unverwundbar.» Darum würde die Bielefelder Invulnerabilitätsstudie, die Lösel zum Pionier der deutschsprachigen Resilienzforschung machte, heute auch nicht mehr so heissen. Zum modernen Verständnis von Resilienz passe vielmehr die Analogie eines sturmgebeutelten Baumes, dessen Äste zwar verbogen, aber nicht gebrochen seien. «Auch Resiliente straucheln», so Lösel, «doch beeinträchtigen die Wechselfälle des Lebens sie nicht so stark und dauerhaft.»
Schlecht gestartet, gut entwickelt
Wie kommt es, dass gewisse Kinder trotz widriger Umstände zu gesunden und ausgeglichenen Erwachsenen heranwachsen? Warum stürzen manche Menschen Niederlagen und Verluste in tiefe Krisen, während andere bald neuen Mut schöpfen? Woher kommt diese innere Kraft? Können wir Resilienz lernen, sie Kindern gar mit auf den Weg geben?
Diese und weitere Fragen waren in den 1950er-Jahren erstmals Gegenstand einer wissenschaftlichen Untersuchung. Auf der hawaiianischen Insel Kauai startete US-Entwicklungspsychologin Emmy Werner damals ihre Langzeitstudie, die als Beginn der Resilienzforschung gilt. Über drei Jahrzehnte lang dokumentierten Psychologinnen, Ärzte, Krankenschwestern und Sozialarbeiter die Entwicklung von 700 Kindern mit Jahrgang 1955 – von den vorgeburtlichen Untersuchungen bis zum 40. Lebensjahr.
Eine sichere Bindung ist der allergrösste Schutz im Leben.
Friedrich Lösel, Psychologe
Ein Drittel dieser Kinder stufte Forscherin Werner als Risikogruppe ein, weil sie unter besonders belastenden Bedingungen aufwuchsen. Sie kamen aus armen, oft zerrütteten Familien, litten Hunger, manche wurden vernachlässigt oder misshandelt. Als Erwachsene kämpften die meisten von ihnen mit ähnlichen Problemen wie einst ihre Eltern. Sie tranken zu viel, hatten die Schule abgebrochen, waren psychisch krank, arbeitslos oder mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Aber nicht alle: 72 der 200 Risikokinder hatten sich trotz schlechter Startbedingungen zu gesunden und leistungsfähigen Erwachsenen mit einer positiven Lebenseinstellung entwickelt.
Eigenschaften, die schützen
«Verletzlich, aber unbesiegbar» nannte Werner diese Kinder. Warum hatten sie unbeschadet überstanden, was die anderen auf die schiefe Bahn geraten liess? Auf der Suche nach Antworten studierten die Forscherin und ihr Team die Entwicklungsverläufe innerhalb der Risikogruppe – und stellten fest, dass die resilienten Kinder im Vergleich zu den gescheiterten über Ressourcen verfügten, die den Einfluss ihres dysfunktionalen Elternhauses abgemildert hatten.
So hatte es in ihrer Kindheit beispielsweise mindestens einen Menschen gegeben, der zu ihnen gehalten, an sie geglaubt und sie ermutigt hatte: Verwandte, Nachbarinnen, Freunde, Kirchenmitglieder und sehr oft Lehrpersonen, die dem Kind nahestanden, ihm Halt gaben und als positives Vorbild dienten. Darüber hinaus unterschieden sich die resilienten Kinder von den anderen durch Eigenschaften, die bei ihnen besonders ausgeprägt waren: Sie waren hilfsbereit und sozial kompetent, verfügten über gute Problemlöse- und Kommunikationsfähigkeiten und übernahmen in schwierigen Momenten eher Verantwortung.
Ausserdem zeigten sie mehr Ausdauer und eine höhere Leistungsmotivation, hatten ein ausgeglicheneres Temperament – und offenbar das Gefühl, etwas bewirken zu können. So gaben die resilienten Kinder in Befragungen an, dass sie glaubten, Schulschwierigkeiten durch Fleiss positiv beeinflussen zu können.
Die Befunde aus der Kauai-Studie waren wegweisend für die weitere Resilienzforschung. Personale und soziale Ressourcen, die Entwicklungspsychologin Werner als seelische Abwehrkräfte erkannt hatte, erwiesen sich auch in Folgestudien als relevant, und im Lauf der Jahrzehnte identifizierten Forschende weitere sogenannte Schutzfaktoren. Diese erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind für Belastungen gewappnet ist und mit Problemsituationen gut umgehen kann; sie können aber auch zum Risikofaktor werden – nämlich dann, wenn sie nicht vorhanden sind.
Zugewandtheit vermitteln
«Zum Beispiel Bindung», sagt Resilienzforscher Lösel. «Sie ist der allergrösste Schutz im Leben.» Wer von seinen nächsten Bezugspersonen ab Geburt Fürsorge, Schutz, emotionale Wärme sowie Verlässlichkeit und Anerkennung bekomme, mache die Erfahrung einer sicheren Bindung, die das Vertrauen in die eigene Person und die Welt begründe.
Umgekehrt legten zahlreiche Studien nahe, dass unsichere oder traumatische Bindungserfahrungen in der Kindheit das Risiko für psychische Störungen, Straffälligkeit, Sucht und anderweitig problematisches Verhalten erhöhen.
Resilienz ist keine Eigenschaft, die man hat oder nicht, sondern ein Prozess.
Doch selbst für diejenigen, die mit ihrem Elternhaus schlechte Karten haben und deshalb verletzlicher sind, gibt es Hoffnung, weiss Lösel: «Es ist möglich, dass andere Bezugspersonen Kindern ebenjene Zugewandtheit vermitteln, die für eine gesunde Entwicklung so wichtig ist.»
Einmal resilient, immer resilient?
So zeigte sich auch in Lösels Bielefelder Studie mit 146 Jugendlichen, alle aus denselben Heimen, eine Gruppe von 66 Resilienten, die trotz ungünstiger Vorzeichen eine erfreuliche Entwicklung einschlugen – auch sie verfügten in der Regel über eine oder mehrere enge Bezugspersonen ausserhalb ihrer Familie.
«Lehrerinnen oder Heimerzieher, aber auch Sporttrainer, Vereinsleiterinnen und Freunde», sagt Lösel. Soziale Unterstützung ausserhalb der Familie gehört folglich zu den wichtigsten Resilienzfaktoren – auch für Heranwachsende, die im Elternhaus genügend Zuwendung erfahren.
Diese Tatsache entlarvt einen weit verbreiteten Mythos über Resilienz. Er besagt, dass es sich dabei um eine stabile persönliche Eigenschaft handle – was den Schluss nahelegen würde: Man hat sie oder nicht. Dem widerspricht Isabella Helmreich, wissenschaftliche Leiterin des Bereichs Resilienz und Gesellschaft am Leibniz-Institut für Resilienzforschung in Mainz. Vielmehr, weiss Helmreich, ist Resilienz ein Prozess, geprägt von vielen Faktoren, die sich wechselseitig beeinflussen, also verstärken oder auch abschwächen.
«Resilienz ist ein Zusammenspiel aus angeborenen Kräften und solchen, die der Mensch im Lauf seiner Entwicklung im Austausch mit der Umwelt erwirbt», sagt sie, «sowie den Bedingungen, die er dort vorfindet – gibt es ein soziales Netz, das ihn auffängt, eine Gesundheitsversorgung, auf die er zählen kann?»
Darum lasse sich auch nicht behaupten: einmal resilient, immer resilient. «Es kann sein, dass ich mit einem Krisenereignis gut klarkomme und das nächste mich aus der Bahn wirft», sagt Helmreich. «Etwa, weil es mich emotional so mitnimmt, dass ich nicht in der Lage bin, personale Resilienzfaktoren zu nutzen. Oder weil Bezugspersonen gerade nicht verfügbar sind, mit deren Unterstützung sich die Dinge zum Besseren gewendet hätten.» Wer eine Trennung unbeschadet überstehe, müsse zum Beispiel nicht zwingend auch mit Krankheit gut fertigwerden.
Die Rolle der Gene
Unbestritten ist aber, dass Menschen unterschiedlich gut ausgestattet sind, wenn es darum geht, Belastungen zu verkraften. Welche Rolle spielt dabei unser Erbgut? «Es existiert kein Resilienz-Gen», schickt Verhaltensforscher Klaus-Peter Lesch vom Uniklinikum Würzburg vorweg. «Genauso wenig gibt es ein spezifisches Gen für Resilienzfaktoren wie Intelligenz, die uns hilft, Probleme zu lösen, oder Optimismus, der Menschen hoffnungsvoll stimmt.» Vielmehr präge eine Vielzahl von Genen Persönlichkeitsmerkmale mit, die einer robusten Psyche eher zu- oder abträglich sind.
Lesch konnte etwa zeigen, dass der Hang zu ängstlichem Verhalten, der das Risiko für Depressionen und Angststörungen erhöht, mit Genen zusammenhängt, die Botenstoffsysteme im Gehirn beeinflussen. Etwa den Serotonin-Haushalt: Serotonin leitet im Nervensystem Informationen weiter und fungiert gleichzeitig als Hormon, das unseren Gemütszustand positiv beeinflussen kann.
Die Sache ist komplex: Mehrere Hundert Gene haben Einfluss auf unsere Resilienz.
Im Rahmen eines Experiments, das Mitte der 1990er-Jahre für Aufsehen sorgte, manipulierte Lesch bei Mäusen das Gen für den Serotonin-Transporter. Dieser regelt, wie viel vom «Glückshormon» verfügbar ist. Das Resultat: Die genmanipulierten Tiere mit einer verkürzten Variante des Transporter-Gens waren ängstlicher als andere Artgenossen, zogen sich von diesen zurück und verkrochen sich.
Eine ähnliche Entdeckung machten gut zehn Jahre später US-Forscher. Nach dem Hurrikan «Katrina» untersuchten sie, wie Betroffene die Katastrophe verarbeiteten. Wiederum zeigte sich: Die besonders Verzweifelten waren – wie Leschs Labormäuse – meist mit einer verkürzten Variante des Serotonin-Transporter-Gens ausgestattet.
Von Löwenzahn und Orchideen
Aus heutiger Sicht seien die Befunde aus seinem Experiment mit Vorsicht zu geniessen, sagt Lesch: «Im Tiermodell hätten sie vermutlich nach wie vor Gültigkeit, aber ihre Bedeutung für den Menschen wurde überschätzt. Das Gen für den Serotonin-Transporter beeinflusst zwar den Hang zur Ängstlichkeit – aber nur als eines von vielen Genen, wie wir heute wissen. Sein Effekt ist nicht so stark wie zunächst gedacht.» Das zeige, wie komplex die Sache sei.
Man gehe inzwischen von mehreren Hundert Genen aus, die Einfluss auf unsere Resilienz haben. Dabei gingen erbliche Faktoren und Umweltbedingungen Hand in Hand, etwa je zur Hälfte. «Dies entspricht dem Durchschnitt bei grossen Populationen, kann beim Individuum aber unterschiedlich ausgeprägt sein, also der erbliche Einfluss stärker oder schwächer», sagt Lesch. «Denn Gene interagieren nicht nur mit der Umwelt, sondern auch untereinander. Von dieser Wechselwirkung verstehen wir noch wenig.»
Manche Kinder sind wie Orchideen, fragil und unbeständig – im Treibhaus blühen sie dafür umso schöner auf.
Klaus-Peter Lesch, Verhaltensforscher
Gene haben eine durchaus gewichtige Wirkung auf die Entwicklung der Psyche. Die Umwelt aber auch, weiss Lesch: «Die Genetik ist keine Bestimmung, sondern vielmehr ein Bauplan, dessen Rahmen unterschiedliche Entwicklungsmöglichkeiten zulässt.»
Galten Kinder mit einer genetischen Veranlagung zu Ängstlichkeit, Depressivität, ADHS oder Autismus-Spektrum-Störungen früher gemeinhin als belastet, zeigten Studien mittlerweile, dass ein emotional unterstützendes, förderndes Umfeld nicht nur dazu beiträgt, dass sich diese Kinder weitgehend unauffällig entwickeln – sondern in ihnen oft auch ein aussergewöhnliches Potenzial weckt.
«Es scheint, dass diese Kinder auf negative, aber auch positive Umweltreize stärker reagieren als andere», sagt Lesch und bedient sich einer Metapher aus der Botanik: «Die meisten Kinder gleichen dem Löwenzahn: Sie sind robust, schlagen sich fast überall durch. Manche jedoch sind wie Orchideen, fragil und unbeständig – im Treibhaus blühen sie dafür umso schöner auf.»
Jugend in der Krise
Auf die Frage, wie es um die Resilienz der jungen Generation steht, hat zumindest das Bundesamt für Statistik keine ermutigende Antwort: Bei den 10- bis 24-Jährigen waren psychische Störungen 2022 der häufigste Grund für eine Spitaleinweisung. Über die Ursachen dieser Entwicklung wird gerätselt, im Verdacht stehen die Leistungsgesellschaft, ein permanenter Krisenzustand – Pandemie, Klima, Ukraine-Krieg – oder auch die sozialen Medien.
Der US-Psychologe Peter Gray wiederum sieht die seelische Krise der jungen Generation in einem Verlust von Autonomie begründet. Wie dem auch sei: An dysfunktionalen Familienbeziehungen scheint das Problem nicht zu liegen. Dies legen Umfragen wie die 18. Shell-Studie nahe, der zufolge Jugendliche das Verhältnis zu ihren Eltern noch nie so gut einschätzten wie heute.
Übersteigerte Vorstellungen davon, was ein erfolgreiches Leben ausmacht, führen zu Frust, Druck und Ängsten.
Jürg Frick, Psychologe
«Seit 2002 nimmt der Anteil Jugendlicher, die ein positives Verhältnis zu den Eltern haben, stetig zu», steht im Fazit der jüngsten Erhebung, an der sich über 2500 12- bis 25-Jährige beteiligten. Familiäre Risikofaktoren wie Gewalt und Missbrauch, fehlende Bindung oder ein chronisch strittiges und gefühlskaltes Elternhaus – die eine gesunde psychische Entwicklung gefährden – würde man da zumindest nicht vermuten.
Unerreichbare Ziele
An Liebe scheint es den meisten Jugendlichen also nicht zu mangeln. Wie ist es dann möglich, dass es vielen dennoch an Halt fehlt, an Zuversicht, mit Herausforderungen umgehen zu können? Auf diese Frage gebe es keine einfache Antwort, schickt der Zürcher Psychologe Jürg Frick voraus.
«Wir wissen heute mehr über psychische Störungen, reden offener darüber und erkennen sie früher. Wo Kinder einst als sonderbar oder wehleidig abgetan wurden, schaut man genauer hin. Das ist eine gute Entwicklung, die zumindest teilweise die Zunahme an Diagnosen erklärt», sagt Frick, der Familien, Lehrpersonen und Schulen berät und lange an der Pädagogischen Hochschule Zürich doziert hat, unter anderem zu Resilienzförderung.
«Die gehäufte Anfälligkeit junger Leute für psychische Störungen liegt vermutlich aber auch an übersteigerten Vorstellungen davon, was ein erfolgreiches Leben ausmacht – befeuert durch gesellschaftlichen Optimierungsdruck und zur Schau gestellt in den sozialen Medien. Dazu gehören idealerweise ein Topverdienst, ein entsprechender Lebensstandard und ein Körper in Bestform. Da tut sich gezwungenermassen eine Kluft auf zwischen dem, was man ist, und den Zielen, die man sich setzt. Dies führt zu Frust, Druck und Ängsten.»
Verwöhnung schwächt die Psyche
Auch Eltern können die seelischen Abwehrkräfte ihres Kindes schwächen, weiss Frick. Selbst da, wo es ihrer Erziehung nicht an Liebe mangelt – diese aber auf das hinausläuft, was Frick unter dem Sammelbegriff Verwöhnung zusammenfasst. «Ein Kind zu verwöhnen», so Frick, «bedeutet vereinfacht gesagt, es zu wenig oder zu viel gewähren zu lassen.»
Widerstandskraft entwickelt nur, wer Widerstände zu überwinden lernt.
Im ersten Fall seien es etwa Überbehütung, wenig Zutrauen ins Kind und seine Fähigkeiten oder die vorschnelle Bereitschaft, ihm Dinge abzunehmen, die Heranwachsenden wichtige Lernerfahrungen in Sachen Problemlösefähigkeiten, Emotionsregulation und Sozialkompetenz verwehrten. Im zweiten Fall übernähmen Eltern zu wenig Führung, setzten kaum Grenzen, verwechselten Wünsche mit Bedürfnissen und hinderten ihr Kind so daran, sich in ebendiesen Fertigkeiten zu üben, die für eine resiliente Psyche so bedeutsam sind.
Widerstände selbst überwinden lernen
«Frustrationstoleranz und die Bereitschaft zur Anstrengung», weiss Frick aus seiner Zusammenarbeit mit Schulen und Lehrpersonen, «haben deutlich abgenommen.» Von einer «erlernten Hilflosigkeit» spricht Resilienzforscher Lösel: «Wir wissen, dass solche Heranwachsenden ein erhöhtes Risiko für Depressionen oder Angststörungen haben. Erziehung sollte ein Kind vor allem zur Selbständigkeit befähigen.»
Dass dies heute weniger gut gelingt, ist laut Lösel auch gesellschaftlichen Entwicklungen geschuldet, die Erwartungsdruck und Verunsicherung schüren: «Dieser ständige Vergleich, wer mehr hat oder weiter kommt, verhilft einem nicht gerade zur Besonnenheit. So geht Eltern zuweilen selbst verloren, was sie ihren Kindern vermitteln sollten: die Zuversicht, dass es gut kommt.»
- «Resilienz» entstammt dem lateinischen «resiliere», was so viel bedeutet wie «abprallen» oder «zurückspringen».
- Ursprünglich kommt der Begriff aus der Physik und bezeichnet die Spannkraft und Strapazierfähigkeit von Werkstoffen. Die Resilienz eines Materials bemisst sich demnach daran, ob und wie gut dieses nach Druckeinwirkung wieder in seine Ausgangsform zurückgeht.
- Mittlerweile ist der Resilienz-Begriff in verschiedenen Disziplinen gängig und meint allgemein die Wiederherstellung der Funktionsfähigkeit trotz Störung.
Die Erfahrung macht auch Berater Frick: Eltern wollten ihrem Kind schliesslich zu dem verhelfen, was als erstrebenswert gilt, gerade im Hinblick auf Schule und Ausbildung. «Sie kämpfen für seinen Erfolg, tun vieles dafür, dass es diese Ziele erreicht – manchmal selbst dann, wenn die nicht seinen Neigungen oder Fähigkeiten entsprechen», sagt Frick.
«Auf der anderen Seite möchten sie ihr Kind glücklich sehen und versuchen unermüdlich, es ihm recht zu machen. Das ist ein Fehler, denn Glücksgefühle und Zufriedenheit sind Empfindungen, die ein junger Mensch selbst erzeugen muss. Die Eltern können ihn lediglich dabei unterstützen.» Folgerichtig gilt wohl auch: Widerstandskraft entwickelt nur, wer Widerstände zu überwinden lernt.