Hat die Gesellschaft Einfluss auf das Internet oder umgekehrt? - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Hat die Gesellschaft Einfluss auf das Internet oder umgekehrt?

Lesedauer: 4 Minuten

Das Web bringt leider oft die schlechten Seiten der Menschen zum Vorschein. Eltern sollten hier Vorbilder sein – denn Kinder und Jugendliche brauchen einen moralischen Kompass.

Das Wichtigste in Kürze:

  • Reden wir über Höflichkeit: Im Netz freundlich miteinander umgehen. Die Aggressionen von anderen nicht erwidern.
  • Reden wir über Kontrolle: Auf Gefühle hören ist okay. Aber das Internet ist nicht dazu da, um Dampf abzulassen.
  • Ruhe bewahren: Es muss nicht immer auf alles sofort reagiert oder geantwortet werden.
  • Widerspruch erlaubt: Eine Schweizer Studie hat gezeigt, dass empathische Argumente sich noch als wirkungsvollstes Mittel gegen Hass, Rassismus und Frauenfeindlichkeit erwiesen haben. 

Eine Geschichte aus dem realen Leben: Meine Tochter ist stinksauer auf mich. «Das kannst du echt nicht bringen», herrscht sie mich an. Ausnahmsweise habe ich nichts Falsches gesagt. Aber geschrieben. Auf meinem Schreibtisch hat sie das Blatt mit zehn Interviewfragen entdeckt, die ich einer Literaturexpertin stellen möchte. Doch darauf sticht meiner Tochter nur ein einziges Wort ins Auge: Neger.

Wieder einmal fühlt sie sich darin bestätigt, dass ihr Vater ein herz- und gewissenloser Rassist ist, der sich ehrverletzend über Ethnien äussert. Ich könnte ihren Einwand ignorieren. Aber weil ich es unerträglich finde, vom eigenen Kind für xenophob gehalten zu werden, kläre ich sie über den Zusammenhang auf.

Geduldig erzähle ich von der gegenwärtig im Kinderliteraturbetrieb schwelenden Diskussion: Sollen Begriffe wie Negerkönig aus «Pippi Langstrumpf» in eine politisch korrekte Formulierung geändert werden oder nicht? Darauf könnte sie jetzt mühelos einsteigen. Ja, es könnte sogar ein richtig gutes Gespräch werden. Stattdessen hört sie mir überhaupt nicht mehr zu. Ihr Schuldspruch steht ohnehin schon längst fest. 

Jugendliche äussern sich oft wuchtig und unerbittlich 

Irgendwie erinnert mich diese ‹Unterhaltung› an die Gesprächskultur im Internet. Aber so einfach lässt sich das nicht vergleichen. Parallelen gibt es trotzdem: Wenn Kinder und Jugendliche in der Familie ihre politischen Ansichten oder moralischen Vorstellungen äussern, dann häufig mit einer orkanartigen Wucht und Unerbittlichkeit, die keinen Widerspruch duldet.

Echten Argumenten schenken sie kaum Gehör. Das hat unter anderem mit der Abgrenzung von uns Eltern zu tun. Gestern durften wir ihnen noch die unterschiedlichsten Geschehnisse der Welt einordnen und erklären – in der Pubertät empfinden sie das dann oft als reine Bevormundung. 

Das Internet wiederum kann bekanntlich gar nicht in der Pubertät stecken, obwohl uns das wegen des häufig besserwisserischen, anmassenden und gnadenlosen Tonfalls so vorkommen mag.

Wer in sozialen Medien oder in den Kommentarspalten der Onlinenachrichten auf blosse Behauptungen mit echten Argumenten reagiert oder sogar Falschbehauptungen widerlegen kann, erlebt sogar noch sein blaues Wunder: Völlig fremde Menschen werden gegenüber anderen Unbekannten sehr schnell persönlich und extrem ausfällig. Mit einer gesunden Streitkultur hat das nichts mehr zu tun.

Es hilft, wenn wir unsere Vorbildrolle wahrnehmen und uns selbst in Impulskontrolle üben. Vor allem im Netz. Kinder brauchen einen moralischen Kompass.

Doch wer beeinflusst hier eigentlich wen: das Internet die Gesellschaft oder die Gesellschaft das Internet? Und welche Wirkung hat das eigentlich auf Kinder und Jugendliche? Aber der Reihe nach. 

Lange Zeit war ich davon überzeugt, dass das Internet ein Spiegel der Gesellschaft sei: Was immer wir darin an guten, schlechten oder abstossenden Dingen fanden, existierte eben auch in der echten Welt. Nichts fliesst ins Internet hinein – dachte ich –, was es nicht auch in der Realität geben würde: Egal, ob es um positive Dinge wie Katzenbabys und verführerische Südseestrände ging oder ob die negative Seite mit Betrügern und Triebtätern sichtbar ­wurde.

Niemand würde in der Migros laut herumpöbeln, nur weil im Regal der Raviolidosen eine Lücke klafft.

Da bin ich mir jetzt nicht mehr so sicher. Im klassischen Sinn bildet ein Spiegel haargenau ab, was sich direkt vor ihm befindet. Wenn Menschen sich im Netz inszenieren, dann meist, um ein bestimmtes Bild von sich zu vermitteln, das nicht zwingend mit der Realität übereinstimmen muss.

Das mag noch harmlos sein – ein deutlich grösseres Problem stellen jene Internetnutzer dar, die hier ihre dunklen Seiten wesentlich enthemmter zeigen, als sie es bei persönlichen Begegnungen jemals wagen würden. 

Wenn freie Meinungsäusserung zur Hasstirade pervertiert 

Ein Vater und Inhaber eines Onlineshops erzählte mir bei einem Vortrag, dass unzufriedene Kunden sehr unflätig reagierten. Sei ein Produkt zum Beispiel gerade nicht vorrätig, fielen schnell Äusserungen wie «Was ist das für ein Sch…laden!».

Zum Vergleich: Niemand würde in der Migros laut herumpöbeln, nur weil im Regal der Raviolidosen eine Lücke klafft. Selbst Eltern, die im Alltag friedliebend und beseelt den Kinderwagen schieben, können im Netz zu bösartigen Furien werden.

Beim Streitthema, ob Kinder ein Handy bekommen sollten oder nicht, heisst es in den Kommentaren auf Facebook: «Du solltest besser keine Kinder haben», oder: «Ich ­hoffe, Ihre Gene sterben mit Ihnen aus». So pervertiert die freie Meinungsäusserung immer mehr zu unerträglichen und menschenverachtenden Tiraden.

Derlei Kommentare verbleiben auch nicht im Netz, sondern schwappen wieder ins echte Leben zurück und beeinflussen so die Gesellschaft, was wiederum ins Netz eindringt und so weiter. Das ist wie ein Perpetuum mobile. Nur beeinträchtigt es den sozialen Umgang miteinander und sickert schliesslich auch in die Familien.

Aufklären, Vorbild sein, nicht belehren: Was Eltern tun können

Diese Mechanismen betreffen auch Kinder und Jugendliche, denn es geht um die Welt, in der sie aufwachsen: on- und offline. Sicher, auch sie vergreifen sich auf Whats­app und in sozialen Medien schnell im Ton. Manchmal nur aus Jux und oft, weil sie es nicht besser wissen und ihnen niemand einen kritischen Umgang damit gezeigt hat.

Doch welchen Einfluss hat es auf junge Menschen, wenn sie beispielsweise beim Thema Corona-Massnahmen erkennen müssen, dass Aggressionen und Gewalt aus dem Netz längst auch auf Demonstrationen im echten Leben angekommen sind? Wie können wir sie zu resilienten und reflektierenden Menschen erziehen, die mit den unzähligen Widersprüchen der Welt zurechtkommen und nicht daran zerbrechen?

Ganz einfach ist das nicht, aber es hilft, wenn wir unsere Vorbildfunktion bewusster wahrnehmen und uns selbst in Impulskontrolle üben. Vor allem im Netz. Kinder und Jugendliche brauchen einen moralischen Kompass, um sicher durch die hohen Wellen einer echauffierten Gesellschaft zu steuern.

Dazu dienen uns Werte wie Respekt, Ehrlichkeit und Gelassenheit. Reden wir in einer ruhigen Minute mit unseren Kindern darüber. Wenn sie erkennen, dass wir sie nicht belehren wollen, gelingt das sogar mir mit meiner Tochter – falls mir nicht wieder was Blödes rausrutscht.

Thomas Feibel
ist einer der führenden ­Journalisten zum Thema «Kinder und neue Medien» im deutschsprachigen Raum. Der Medienexperte leitet das Büro für Kindermedien in Berlin, hält Lesungen und Vorträge, veranstaltet Workshops und Seminare. Zuletzt erschien sein Elternratgeber «Jetzt pack doch mal das Handy weg» im Ullstein-Verlag. Feibel ist verheiratet und Vater von vier Kindern.

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