Wie können wir uns im Familienalltag besser Sorge tragen?
Wenn Eltern ständig ihre Bedürfnisse ignorieren, riskieren sie nicht nur ihre eigene Gesundheit, sondern auch diejenige ihrer Liebsten. Doch Selbstfürsorge ist im oft hektischen Familien- und Berufsalltag nicht einfach. Wie also gelingt ein achtsamer Umgang mit sich?
Schnauf mal durch! Tu dir etwas Gutes! Komm runter, nimm dir Zeit für dich! Solche Sätze fallen in meinem Alltag in schöner Regelmässigkeit. Meine Freundinnen und Freunde, meine Geschwister und auch Arbeitskolleginnen und -kollegen sagen sie zu mir. Und umgekehrt bitte auch ich sie, auf sich zu achten. Ich frage sie, ob sie neben dem täglichen To-do-Wahnsinn aus Kinderterminen, Hausarbeit, Beruf und Ehrenamt ihre eigenen Bedürfnisse im Blick haben.
Unsere gegenseitigen Aufmunterungen, ja Aufforderungen sind begleitet von freundlichen, vielleicht auch etwas besorgten Blicken. Wir sehen uns schliesslich an, dass wir diesen Selbstfürsorge-Mantras nicht wirklich nachkommen. «Jaja», sagen wir. «Hast ja recht. Ich muss etwas ändern. Sobald ich Punkt XYZ erledigt habe. Sobald ich etwas Luft habe.» Und dann verschieben wir unsere Bedürfnisse auf unbestimmte Zeit nach hinten – weil Selbstfürsorge auf unserer Prioritätenliste nun mal nicht in den Top Ten liegt.
Wir alle wissen eigentlich, dass das der falsche Ansatz ist. Zumindest ahnen wir es beim Blick auf unser angespanntes Gegenüber oder beim Anblick unseres eigenen müden Spiegelbildes. Wir sollten keine Pflichterfüllungsmaschinen sein, rennen aber trotzdem brav weiter im Hamsterrad.
Die Fälle von Eltern-Burnout nehmen stetig zu
Mit unserer Beiss-die-Zähne-zu-sammen-Haltung sind wir in guter Gesellschaft; die Zahlen belegen es. Im letzten «Familien in der Schweiz»-Bericht des Bundesamtes für Statistik (BFS) gaben ein Sechstel der befragten Frauen und ein Zehntel der Männer mit Kindern unter 15 Jahren an, sie würden sich meistens oder sogar immer überlastet fühlen. Bei den Frauen mit Kindern unter vier Jahren waren es 23 Prozent. Im Jahr 2022 stuften 22 Prozent der befragten Schweizer Erwerbstätigen ihren Grad der emotionalen Erschöpfung als «ziemlich erschöpft» ein.
Wir verschieben unsere Bedürfnisse ständig nach hinten – weil Selbstfürsorge keine Priorität geniesst.
Die Zahl der Eltern mit Schlafstörungen, Angstzuständen und psychischen Erkrankungen steigt konstant. Laut einer Untersuchung von Pro Familia Schweiz gehört die Schweiz zu den Top Ten der Länder, die am stärksten von elterlichem Burnout betroffen sind. Pro Familia beschreibt elterliches Burnout als ein körperliches und psychisches Erschöpfungssyndrom, das mit der Elternrolle zusammenhängt. Es tritt auf, wenn Eltern chronischem elterlichem Stress ausgesetzt sind und nicht über die als ausreichend empfundenen Ressourcen verfügen, um diesen zu kompensieren.
Selbstfürsorge bedeutet wortwörtlich nichts weiter, als gut für sich selbst zu sorgen. Diese Fähigkeit müsste uns eigentlich in den Genen stecken. Natürlich ist es ganz normal, dass mit der Geburt eines Kindes die Möglichkeit eingeschränkt wird, auf sich selbst zu achten. Es gibt Zeiten, in denen Eltern wenig Ruhe finden. Aber auch in diesen Phasen gibt es Elternpaare, die sich ab und an einen Babysitter nehmen oder Freundinnen und Grosseltern um Hilfe bitten. Und es gibt Eltern, die sich schuldig fühlen, wenn sie Zeit für sich beanspruchen.
Unser Selbstbild beeinflusst unsere Selbstfürsorge
Warum also haushalten viele von uns so schlecht mit ihren Kräften? Warum sorgen wir nicht ganz selbstverständlich gut für uns? Stellt man dem Psychologen und Universitätsprofessor Guy Bodenmann diese Frage, wirkt er beinahe erfreut, «weil sie am Kern der Sache ansetzt». Bodenmann ist bekannt für seine Arbeit auf dem Gebiet der Paar- und Familienforschung, vor allem für seine Studien zur Beziehungszufriedenheit und zur Stärkung von Familien in schwierigen Situationen.
Uns wird schon als Kind vermittelt, ob wir liebenswert sind und gut auf uns achten sollen.
Guy Bodenmann, Familienforscher
«Eine gute Selbstfürsorge hängt mit unserem Selbstbild und Selbstwert zusammen», sagt er. «Uns wird schon in früher Kindheit durch unsere Bezugspersonen vermittelt, ob wir wichtig und liebenswert sind und gut auf uns achten sollen.» Der Blick, mit dem wir als Erwachsene uns selbst und die Welt wahrnehmen, wird erheblich durch unsere Kindheitsprägungen beeinflusst. An viele dieser Erfahrungen erinnern wir uns nicht bewusst. Sie sind jedoch tief im Unbewussten eingegraben.
«Wenn ich als Kind erfahren habe, dass ich irgendwie nicht genüge und mich anstrengen muss, um Anerkennung zu bekommen, dann habe ich später nicht das Gefühl, meine Bedürfnisse priorisieren zu dürfen», so der Psychologe. Wir alle kennen Sprüche wie «Nun reiss dich mal zusammen», «So wird das nichts, streng dich an» oder auch «Mach hier mal kein Drama!». Wer das als Kind ständig zu hören bekommen hat, verinnerlicht diese Haltung und spürt die eigenen Bedürfnisse als Erwachsener oft nicht richtig. «Man hat sozusagen abtrainiert bekommen, sich selbst im Blick zu haben. Unser Selbstbild wird dann stark von äusseren Erwartungen geprägt, etwa von elterlichen Wünschen, den Vorstellungen im Freundeskreis oder dem gesellschaftlichen Druck.»
«Unsere Leistungsgesellschaft hält an einer unklugen Überzeugung fest», stellt Linda Rasumowsky, Psychologin und Psychotherapeutin aus Zürich, fest. «Wer ständig beschäftigt und gestresst ist, wird scheinbar gebraucht und ist demzufolge wichtig.» Manche fühlten sich regelrecht schuldig, wenn sie mal nicht arbeiteten, weil sie sich dann als weniger wertvoll und unsozial empfänden. Rasumowsky hat sich auf den Bereich Elternschaft und psychische Gesundheit spezialisiert und betreibt neben ihrer Praxis auch die Online-Plattform Mentalwellmom.com.
Sie will Eltern helfen, ein gesundes Gleichgewicht zwischen den Bedürfnissen der Familie und ihrem eigenen Wohlbefinden zu finden. Ihre Klientel ist vorrangig weiblich. Rasumowsky sagt, dass viele zu wenig Selbstmitgefühl hätten. «Es fällt ihnen schwer, nachsichtig und fürsorglich mit sich zu sein. Sie werfen sich selbst vor, dass sie nicht besser zurechtkommen.»
Gut sein als Mutter, als Partnerin, im Haushalt und im Job
Viele dieser Mütter sind sogenannte «Hochleisterinnen»: Sie gehen regelmässig über ihre Belastungsgrenze hinaus. Der Gedanke an ihre diversen Verpflichtungen ist omnipräsent. Sie hasten von einer Anforderung zur nächsten, schlafen zu wenig und oft schlecht. Auch bei den wenigen Freizeitaktivitäten geht es häufig um Selbstoptimierung. Egal, wie müde Kopf und Körper sind, die Vorgabe lautet: Die freien Stunden müssen mit etwas gefüllt werden, was wirklich sinnvoll ist. Wenn sie sich auferlegt haben, dass sie joggen oder ins Fitnessstudio gehen müssen, ist diese Regel wichtiger als der Impuls, sich auch mal Ruhe zu gönnen.
Statt ihre Überlastung zu akzeptieren, wollen Mütter sich nur noch besser organisieren.
Linda Rasumowsky, Psychologin
Rasumowsky beobachtet, dass es einen grossen Druck bei ihren Klientinnen gibt, in allen Lebensbereichen gleich gut zu sein. Gleichzeitig ist das kaum möglich. Die Überforderung ist eigentlich evident: In der Schweiz sind laut dem Bundesamt für Statistik etwa 82 Prozent der Mütter berufstätig. Diese Mütter arbeiten im Haushalt aber nach wie vor über 50 Stunden, arbeiten also pro Woche oft über 80 oder 90 Stunden.
«Viele Frauen, die in meine Praxis kommen, haben schon alles Mögliche versucht, um damit besser zurechtzukommen», sagt Rasumowsky. «Aber ihr Fokus liegt oft darauf, strenger mit sich zu sein und sich noch besser zu organisieren.» Die Psychotherapeutin beginnt eine Beratung oft damit, zunächst das Verständnis dafür zu fördern, was tatsächlich fehlt. «Es geht nicht um ein Mehr an Disziplin, sondern um ein Verständnis für die eigene Belastung.» Es geht um ein Mehr an Selbstfürsorge.
Eine Kollegin, Mutter von vier Kindern, erzählte mir kürzlich, dass sie ein schlechtes Gewissen habe, weil sie ihre Stundenzahl reduziert und nun einen Tag pro Woche freihabe. Sie hatte diese Entscheidung eigentlich getroffen, um sich etwas Gutes tun zu können. Sie wollte in Ruhe lesen. Schön für sich und die Familie kochen. Spaziergänge machen. Stattdessen nutze sie diesen Tag nun, um entweder zu Hause zu arbeiten, weil sie sich sonst ihren Kolleginnen gegenüber schlecht fühle. Oder sie sei den ganzen Tag damit beschäftigt, zu putzen und aufzuräumen. Rein rational sei ihr bewusst, dass sie entgegen ihrem Vorsatz handle. Aber sie fühle sich dennoch selbstsüchtig.
Selbstfürsorge ist kein Schaumbad zum Feierabend, sondern eine innere Haltung, eine Überzeugung.
Rita Girzone, Entwicklungspsychologin
Sorgsame Eltern sind geduldiger und liebevoller
Ihren Umgang mit sich selbst zu verändern, fällt auch deshalb vielen so schwer, weil Selbstfürsorge kein gutes Image hat. «Viele Eltern haben das Gefühl, dass Selbstfürsorge ein Luxus ist, oder sie haben ein schlechtes Gewissen, sich um sich selbst zu kümmern, wenn die Arbeit ruft», sagt Rita Girzone, Beraterin beim Elternnotruf. «Es geht dabei aber nicht um etwas, das man sich gönnt wie ein Schaumbad zum Feierabend, sondern um eine innere Haltung und Überzeugung.»
Ziel ist auch nicht die Selbstoptimierung; dass man also wieder genauso sportlich oder belesen wird, wie man es vielleicht vor der Geburt der Kinder war. Es geht darum, ein Verständnis für die eigene Persönlichkeit und die individuellen Bedürfnisse zu entwickeln, diese zu respektieren und auch zu berücksichtigen.
Rita Girzone ist gebürtige US-Amerikanerin, hat in Boston Pädagogik und Entwicklungspsychologie studiert. Neben ihrer Arbeit für den Elternnotruf arbeitet sie auch als integrative Beraterin in eigener Praxis. Einige Eltern, die beim Elternnotruf ihre Unterstützung suchen, muss sie erst davon überzeugen, dass Selbstfürsorge nichts ist, was sie sich verdienen müssen. «Die eigenen Bedürfnisse zu kennen und zu berücksichtigen, ist etwas, was Körper und Geist dringend brauchen, um langfristig gesund zu bleiben und gut zu funktionieren», erklärt Girzone dann ihren Klienten und Klientinnen.
Eltern seien oft der Meinung, dass sie neben ihrem Gelderwerb ihre ganze Zeit und Energie in die Betreuung ihrer Kinder investieren müssten. Sie haben das Gefühl, ihren Kindern das schuldig zu sein. Dabei vergessen sie oft, dass elterliche Selbstfürsorge positive Auswirkungen auf die Kinder hat – und fehlende Selbstfürsorge die Familiendynamik stört. «Wenn Eltern sich um ihre eigenen Bedürfnisse kümmern, sind sie in der Regel ausgeglichener, geduldiger und liebevoller. Sie können besser auf die Bedürfnisse ihrer Kinder eingehen», sagt Rita Girzone.
Geht es uns als Eltern hingegen nicht gut, vielleicht sogar dauerhaft schlecht, fehlt die Energie auch im Umgang mit den Kindern. Diese Tatsache soll uns aber nicht dazu verleiten, eine Art Heiterkeitsdruck aufzubauen. Es geht nicht darum, dass Kinder keinerlei Stress erleben dürfen, sondern dass sie einen gesunden Umgang mit Herausforderungen erfahren, dass die Balance zwischen Entspannung und Anstrengung stimmt.
Geht es mir nicht gut, strahlt das immer auf diejenigen Menschen ab, die mir am nächsten sind.
Guy Bodenmann, Familienforscher
Fehlt die Selbstfürsorge, leidet das Familienklima
«Mangelnde Selbstfürsorge führt zu Stresszuständen beziehungsweise zu chronischem Stress. Das ist schwer erträglich, auch für unser Umfeld», sagt Psychologe Guy Bodenmann. Der Familienforscher rät davon ab, dauerhafte Erschöpfung als einen ganz normalen Zustand im Elternalltag abzutun. «Punkt eins ist, dass dieser Zustand immer auf die Menschen abstrahlt, die mir am nächsten sind, also auf den Partner oder die Partnerin und die Kinder. Wir sind ihnen gegenüber dann schneller gereizt, dominant, intolerant und rigide.»
Punkt zwei sei, dass die Sensitivität für die Bedürfnisse der Kinder leide. «Die ist stark eingeschränkt, wenn ich mit mir nicht im Lot bin. Einfühlungsvermögen ist aber die Kernkompetenz in der Familiendynamik.» Dazu komme, dass auch die Erziehungskompetenz leide: Wer ohnehin am Limit ist und sich fragil fühlt, hat nicht die Kapazität, sich gegebenenfalls durchzusetzen. Als Vater oder Mutter ist man womöglich weniger konsequent, vielleicht auch verwöhnend, weil man das eigene Verhalten kompensieren möchte.
«Punkt drei ist, dass mangelnde Selbstfürsorge zu psychischen Störungen wie Depressionen, Burnout oder Angstzuständen führen kann.» Spätestens dann könnten wir unsere elterliche Verantwortung nicht mehr voll wahrnehmen. «Das ist ein Risiko für eine gesunde, kindliche Entwicklung», so Bodenmann.
Psychologische Grundbedürfnisse kennen und berücksichtigen
Wie fängt man also an, wenn man merkt, dass es so nicht weitergeht? «Der erste Schritt ist, sich seine Bedürfnisse überhaupt bewusst zu machen», sagt Psychologin Linda Rasumowsky. Wir alle wissen, dass wir körperliche Grundbedürfnisse wie Schlaf, Nahrungsaufnahme oder Wärme haben. Wenige wissen aber, dass wir auch über psychologische Grundbedürfnisse verfügen, um die sich von morgens bis abends unser Fühlen und Handeln dreht.
Unser Bedürfnis nach Bindung und Zugehörigkeit ist eines der psychologischen Grundbedürfnisse. «Wir haben ausserdem ein Bedürfnis nach Autonomie und Selbstbestimmung», sagt Linda Rasumowsky. Wir wollen das Gefühl haben, eine gewisse Kontrolle über unser Leben zu haben. «Wenn diese Möglichkeit mit dem Elternsein schlagartig stark eingeschränkt wird, ist das kein Luxusproblem, sondern eine wirkliche Herausforderung für die Psyche», so Rasumowsky.
Es schafft psychische Entlastung, sich nicht zu verurteilen, sondern zu reflektieren, wer man ist und was man braucht.
Linda Rasumowsky, Psychologin
Es hängt von unserer Persönlichkeit ab, wie stark uns das tangiert. Wer mehr Pausen für sich braucht als andere, ist deswegen kein schlechter Elternteil. Die eine Mutter ist vielleicht glücklich damit, ihr Kind rund um die Uhr bei sich zu haben. Die andere fühlt sich dadurch manchmal wie angekettet. «Es schafft psychische Entlastung, sich nicht zu verurteilen, sondern zu reflektieren, wer man ist und was man braucht.»
Gesunde Strategien im Alltag etablieren
Beim Elternnotruf rufen oft Mütter und Väter an, die verzweifelt sind. Manchmal geht es um ein Baby, das sich nicht beruhigen lässt. Manchmal aber auch um einen Teenager, zu dem man im schnellen Alltag den Kontakt verliert. Rita Girzone und ihr Team beraten dann auf zwei Ebenen: Als Erstes geht es darum, in der Stresssituation zu helfen. Oft wird danach aber ein Prozess in Gang gesetzt, um sich auf eine grundlegende Veränderung einzulassen.
Rita Girzone arbeitet mit dem Ansatz von Mindful Self-Compassion (achtsames Selbstmitgefühl), bei dem man lernt, sich selbst mit Freundlichkeit und Mitgefühl zu behandeln. Sie unterscheidet zwischen drei Formen von Selbstfürsorge.
Die situative Selbstfürsorge hilft, wenn wir uns im Alarmmodus befinden und uns regulieren oder beruhigen müssen. Da kommen oft physiologische Strategien wie Atemübungen oder Bewegung zur Anwendung.
Die proaktive Selbstfürsorge sorgt dafür, dass wir weniger oft an unser Limit kommen. Dabei geht es darum, Strategien im Alltag zu etablieren, um gesund und ausgeglichen zu bleiben. Es geht um unser Zeitmanagement, darum, Prioritäten zu setzen und Pausen einzuplanen. «Wenn die Kinder klein sind, kann man nicht morgens eine Stunde meditieren. Aber wir finden fünf Minuten, in denen wir ganz in Ruhe einen Kaffee trinken. Oder wir gehen abends kurz spazieren, wenn Ruhe eingekehrt ist», so Rita Girzone.
Wir können feste Zeiten etablieren, die wir für Genuss und Selbstfürsorge reservieren. Was man unter Genuss versteht, hat selbstverständlich auch etwas mit den persönlichen Vorlieben zu tun. Die eine mag gutes Essen. Der andere möchte in Ruhe einen Podcast hören. Oder einen Film gucken. Naturerleben hebt bei fast allen Menschen die Stimmung – und kostet nichts.
Wenn wir uns konstant unseren Bedürfnissen verweigern, verlieren wir den Kontakt zu dem, was uns ausmacht.
Die proaktive Selbstfürsorge beinhaltet, Unterstützung in Anspruch zu nehmen, Netzwerke zu nutzen und sich mit dem Partner oder der Partnerin abzusprechen. Dazu gehört auch, die individuellen Lebensumstände zu berücksichtigen: Familien sind divers. Eine alleinerziehende Mutter organisiert sich anders als ein Elternpaar, bei dem beide Teilzeit arbeiten. «Oft lassen sich auch in herausfordernden Situationen Lösungen finden, beispielsweise mithilfe der Familie, im Freundeskreis oder in der Nachbarschaft», so Girzone.
Selbstfürsorge stärkt unser Ich-Gefühl
Bei der proaktiven Selbstfürsorge geht es ausserdem darum, Grenzen zu setzen. «Das kann bedeuten, öfter mal Nein zu sagen», erklärt die Beraterin. Sie rät Eltern, nicht dann grosszügig zu sein, wenn es die eigenen Grenzen übersteigt. Wer sich ständig aufopfere und seine Bedürfnisse verweigere, habe nämlich konstant – und zu Recht! – das Gefühl, dass die eigene Lebensfreude zu kurz komme. Natürlich stresst dieser Zustand und macht übellaunig. Schlimmstenfalls missgönnt man den anderen ihre Lebensfreude.
Warum hat die Kollegin X schon wieder Zeit für einen Kurzurlaub? Wie oft geht Frau Y eigentlich zur Massage? Muss der Partner eigentlich dauernd ins Fitnessstudio? «Man läuft viel schneller Gefahr, neidisch zu sein. Wenn man sich hingegen traut, die eigenen Bedürfnisse und Grenzen ernst zu nehmen, kann man auch authentisch grosszügig sein und aus vollem Herzen Ja sagen.»
Die dritte Form der Selbstfürsorge bezeichnet Girzone als Bonus-Selbstfürsorge. Dabei geht es um Ergänzungen wie einen Wellnessabend, einen Konzertbesuch oder einen Familienurlaub. «Langfristig bringen diese Boni aber nur etwas, wenn sie in eine Haltung eingebettet sind, in der wir unser Wohlbefinden als wichtig erachten», sagt Rita Girzone. Natürlich ist es schön und auch wichtig, sich mit der Familie speziell Zeit zu nehmen. Aber das ändert nachhaltig nichts, wenn man danach wieder so weitermacht wie gehabt.
Selbstfürsorge ist eine Form der Selbstregulation. Sie stärkt unser Ich-Gefühl. Wenn wir nicht gut für uns selbst sorgen, wenn wir uns konstant unseren Bedürfnissen verweigern, dann verlieren wir den Kontakt zu dem, was uns ausmacht. Wir verpassen die Momente, in denen wir uns stark, leicht und richtig fühlen. Wir verlieren ein Stück Lebenssinn. Als Eltern sollten wir uns ausserdem klarmachen, was wir unseren Kindern vermitteln. Sie lernen viel durch Beobachtung und Nachahmung. Wenn sie sehen, dass ihre Eltern sich Zeit für sich nehmen, lernen sie, dass es in Ordnung ist, sich um sich selbst zu kümmern. Das macht sie stark. Und das ist doch unser Anliegen, oder nicht?