«Eltern müssen ein Bewusstsein für ihre Grenzen entwickeln»
Kümmern sich Mutter und Vater nicht um ihr eigenes Wohlergehen, schadet das ihrem Kind. Die Psychologin und Familienforscherin Annette Cina erklärt, wie aus elterlichem Stress kindliches Problemverhalten entstehen kann.
Frau Cina, Studien zeigen, dass Kinder den akuten Stress ihrer Mütter emotional und physiologisch mitfühlen. Müssen wir uns als Eltern also ständig zusammenreissen?
Kinder können durchaus Stress ertragen. Wenn Eltern immer mal wieder unter Druck stehen, das aber bewältigen können, dann lernen Kinder, dass solche Phasen der Anstrengung einfach ein Teil des Lebens sind, mit denen wir umgehen können.
Ab wann wirkt sich der elterliche Stress negativ auf die Entwicklung der Kinder aus?
Wenn wir gestresst sind, sind wir stark mit uns selbst beschäftigt, nehmen weniger von unserem Umfeld wahr. Die Themen und Probleme von anderen können wir uns nicht auch noch zusätzlich aufhalsen. Im familiären Kontext hat das zur Folge, dass Eltern nur noch eingeschränkt oder gar nicht mehr offen sind für die Bedürfnisse ihrer Kinder. Wenn das zum Normalzustand wird, fehlt dauerhaft die Interaktion und die Zuwendung, die für die kindliche Entwicklung wichtig sind.
Was hat das für Konsequenzen?
Kinder nehmen wahr, wenn es ihren Eltern nicht gut geht. Viele Kinder von überforderten Eltern ziehen sich dann sehr stark zurück, damit sie nicht noch mehr Stress auslösen oder diesem nicht mehr ausgesetzt sind. Diese Kinder äussern oft nicht mehr, dass sie Hilfe bräuchten. Sie verinnerlichen, dass es dafür keinen Raum gibt. Bei dieser Überangepasstheit können Kinder sogar verlernen, ihre eigenen Bedürfnisse zu spüren. Sie fallen in ihrer Angepasstheit zunächst nicht auf, entwickeln aber manchmal Verhaltensauffälligkeiten oder auch psychische Probleme.
Ist diese Art des Rückzugs die einzige Verhaltensauffälligkeit?
Es gibt auch Kinder, die durch gegenteiliges Verhalten auffallen. Wenn die Eltern aufgrund ihrer Anspannung oft ausrasten, schreien oder sogar gewalttätig werden, kann das zur Folge haben, dass Kinder diese Muster übernehmen. Sie lernen dann, dass man sich lautstark behaupten muss, werden schnell aggressiv und körperlich. Auf dieses Verhalten reagieren dann wiederum die Eltern mit entsprechenden Massnahmen. Es entwickeln sich Familiendynamiken, wo alle ständig sehr laut und gereizt sind.
Ständiger Stress zwischen den Eltern ist ein grosser Risikofaktor für kindliches Problemverhalten.
Gibt es Unterschiede in der Auswirkung von mütterlichem und väterlichem Stress auf das Verhalten der Kinder?
Es geht weniger um das Geschlecht als um die Funktion. Wenn die primäre Bezugsperson wegen Stress und Erschöpfung wegfällt und niemand anders das auffängt, dann ist das für ein Kind ein massiver Verlust. Innerhalb der alten Rollenmuster ist es vielleicht so, dass der Vater mehr arbeitet und sein Stress sich nicht direkt auf die Kinder auswirkt. Aber es wird indirekt einen Effekt auf die Stimmung haben: Man muss still sein. Man muss kuschen, weil der Papa sonst ausrastet. Die Belastung für die Partnerin ist oft hoch, das führt häufig zu Partnerschaftskonflikten. Das wiederum ist für Kinder sehr belastend. Ständiger Stress zwischen den Eltern ist ein grosser Risikofaktor für kindliches Problemverhalten.
In welchen Phasen der Entwicklung leiden Kinder besonders unter dem Stress der Eltern?
Säuglinge und Kleinkinder ertragen Stress extrem schlecht, weil sie ihn nicht einordnen können. Sie versuchen sich in dieser Ungewissheit zurechtzufinden, das ist wahnsinnig anstrengend. Primarschulkinder können Stress vielleicht schon besser verstehen, aber sie beziehen das Verhalten der Eltern oft auf sich. Sie fühlen dann etwas wie «Wenn Mama oder Papa ausrasten, bin ich schuld». Das ist sehr destruktiv.
Jugendliche können durchaus erkennen, dass der elterliche Stress wenig mit ihnen zu tun hat, aber er strengt sie dennoch an. Das kann zu extremer Distanzierung führen. Einige versuchen auch, die Eltern zu beschützen, und übernehmen eine Verantwortung, der sie nicht gerecht werden können. Man kann also nicht sagen, dass Stress in irgendeiner Lebensphase weniger dramatisch ist. Chronischer, also lang andauernder und intensiver Stress wirkt sich immer negativ auf die Erziehung und die Kinder aus.
Aus Elternperspektive klingt das ziemlich beängstigend. Wir wollen unsere Kinder gut begleiten, gleichzeitig wird der Stress aber nicht weniger. In den letzten Jahren mehren sich die Studien über elterliche Erschöpfung und Burnout.
Erziehungsarbeit war immer schon stressig, da sollten wir uns nichts vormachen. Tatsächlich zeigen aber Studien wie die des Bundesamtes für Statistik, dass das Stressniveau in der Schweiz gestiegen ist und besonders Eltern sich überlastet fühlen. Das liegt nicht daran, dass Eltern nicht mehr belastbar sind oder sich zu viele Gedanken um ihre Kinder machen, sondern dass es im elterlichen Alltag heute wenig Ruhephasen gibt. Das liegt unter anderem an der höheren Berufstätigkeit, aber auch am Onlinezeitalter und unserer ständigen Erreich- und Verfügbarkeit.
Teilen Eltern sich ihren Kindern mit, beziehen diese den Stress nicht mehr auf sich. Das entlastet sie.
Was empfehlen Sie, um das Familiensystem zu entlasten?
Es hilft, an der Haltung gegenüber den Kindern zu arbeiten und offen mit ihnen zu kommunizieren. Eltern sind nicht unfehlbar und sollten sich nicht so inszenieren. Man kann schon jüngeren Kindern erklären, dass man gerade extrem angespannt ist. Dann beziehen Kinder die Gereiztheit und die Wutausbrüche nicht auf sich selbst. Das kann viel Druck rausnehmen.
Darüber hinaus ist es wichtig, regelmässig positive Momente als Familie zu erleben. Dies kann in Form von geplanten Aktivitäten oder einfach nur als bewusste Unterbrechung des Alltags geschehen. Indem sich die Familie Zeit nimmt, um innezuhalten und gemeinsam zu überlegen, was wirklich wichtig ist, können Eltern und Kinder ihre Beziehungen stärken und die Qualität ihrer Zeit miteinander verbessern. All das funktioniert nur, wenn Eltern ein Bewusstsein für die eigenen Bedürfnisse und Grenzen entwickeln. Wenn sie sich nicht mit der eigenen Selbstfürsorge beschäftigen, schadet das langfristig den Kindern.