Zwei Welten – eine Not
Die Welt einer Profisportlerin und die Welt einer Mama sind grundverschieden. Doch wenn man hinter die Fassaden schaut, kommen Gemeinsamkeiten zum Vorschein.
Es war der Donnerstagabend der letzten Schulsommerferienwoche. Ich hatte mir vorgenommen, mein Schlafmanko zu reduzieren und mir zudem einen Schlafvorrat anzulegen, um gut durch die erste Schulwoche zu kommen. Doch – wie so oft im Leben – blieb es beim Vorsatz: Die Rad-Weltmeisterschaften in Glasgow kamen dazwischen. Genauer gesagt, dass die Schweizer Profi-Radrennfahrerin Marlen Reusser das Zeitfahren abgebrochen hat.
Als ich mich nämlich in Richtung Schlafzimmer verschieben wollte, erinnerte ich mich, kurz vorher auf meinem Smartphone gesehen zu haben, dass ein neunminütiges Interview mit Marlen Reusser online war. Thema: Weshalb sie das Zeitfahren (trotz Medaillenchancen und ohne technischen Defekt) aufgegeben hatte. Meine Neugier – schöner ausgedrückt, mein Interesse an Menschen – meine Déformation professionnelle sowie meine Unvernunft gaben sich die Hände und meine Hand griff zum Smartphone statt zur Zahnbürste.
Wahrscheinlich brauchen ganz viele Leute mal eine Pause. Vielleicht sollten wir einfach mehr davon machen.
Marlen Reusser, Radsportlerin
Gebannt hörte und sah ich ihren Erklärungen zu und plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Wir sitzen im selben Boot (oder sollte ich schreiben: Wir treten in die gleiche Pedale?). Sie sprach unter anderem davon, dass ihr Job kein Nine-to-five-Job sei, «sondern viel cooler». Sie schätze dieses Leben total und es habe sehr, sehr viel Positives – aber es koste auch sehr viel Energie.
Sie redete über die Tatsache, dass sie unglaublich privilegiert sei, dass es wohl viele Menschen gäbe, die mit ihr tauschen möchten. Von einer Endlos-Schlaufe, was die Anzahl der Radrennen anbelange, von der kurzen Pause nach der Saison, die bei ihr letztes Jahr wegen Krankheit ins Wasser fiel. Dass sie schon länger gemerkt habe, dass das Ganze an ihr zehre und sie eigentlich etwas Abstand und eine Pause bräuchte, aber dachte, dass sie keine Pause nehmen könne, keine nehmen dürfe.
Und sie begründete, weshalb sie all dies erzählte: «In den sozialen Medien oder den Medien allgemein gibt es dieses zauberhafte Sportleben mit Erfolgen und man ist superfit. Oder jemand hat eine Depression oder Krebs. Es gibt diese beiden Pole, die mega ausgeschlachtet werden. Aber all die Nuancen zwischendrin finden nur wenig Besprechung. […] Wahrscheinlich brauchen ganz viele Leute mal eine Pause. Vielleicht sollten wir einfach mehr davon machen.»
Von aussen ist mein Leben als Mama zweier Kinder und freischaffende Journalistin natürlich total anders als das von Marlen Reusser. Trotzdem habe ich mich in vielen ihrer Worte wiedergefunden und denke, dass es anderen (Müttern, Vätern und Menschen ohne Kinder) ähnlich ergangen ist. Zum Beispiel, dass mein Leben, so wie ich es führe, ein Privileg ist und dass nicht nur Profisportlerin sein, sondern auch Mama sein viel besser ist als ein Nine-to-five-Job.
Oder die Sache mit den Pausen. Warum organisieren wir uns keine Pause, obwohl wir spüren, dass sie notwendig (im wahrsten Sinne des Wortes) wären? (Falls man sich eine Pause denn überhaupt organisieren und leisten kann, auch dies wieder ein Privileg.)
Zwischen vermeintlich verschiedenen Welten lässt sich meist Verbindendes finden.
Es wäre wahrscheinlich wohltuender für alle, rechtzeitig zu seinen Bedürfnissen und Grenzen zu stehen, als während des Zeitfahrens abzusteigen – übersetzt in den Elternalltag: als dass der Empathie-Tank schon um neun Uhr morgens leer ist. Und sich darum das Zusammenleben in eher unangenehmen Sphären bewegt. To say the least.
Ich bin überzeugt, dass viele Leben, die gegen aussen gegensätzlich sind, bei genauerem Hinschauen einige Gemeinsamkeiten haben. Schliesslich sind wir, ganz egal ob Teenager-Mama, Kleinkind-Papa, Profisportlerin, Managerin, Lehrer, Bauer, Detailhandelsangestellte (die Liste gerne weiterführen) alles nur Menschen. In anderen Worten: Zwischen vermeintlich verschiedenen Welten lässt sich meist Verbindendes finden. Wenn wir dies im Hinterkopf haben und vor allem im Herzen, wäre die Welt ein klein wenig schöner.