«Wir müssen zu Krisenmanagern unseres Familienalltags werden»
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«Wir müssen zu Krisenmanagern unseres Familienalltags werden»

Lesedauer: 11 Minuten

Mütter und Väter seien heute hohen Anforderungen ausgesetzt, sagt Elternkursleiterin Stéphanie Bürgi-Dollet. Das erschwere es manchen Eltern, gänzlich auf Gewalt in der Erziehung zu verzichten. Wie das trotzdem gelingen kann, erklärt sie im Interview.

Interview: Evelin Hartmann
Bilder: Ulrike Meutzner / 13 Photo

Frau Bürgi-Dollet, Kinder werden hierzulande noch immer körperlich bestraft. Jedes fünfte Kind bekommt Schläge auf den Po, jedes zehnte Ohrfeigen. Wie kann das sein?

Sie sprechen die letzte Erhebung der Universität Freiburg zum Bestrafungsverhalten von Eltern an, die von Kinderschutz Schweiz in Auftrag gegeben worden ist. Daraus geht hervor, dass knapp 40 Prozent der befragten Eltern körperliche Gewalt – wie Schläge, Stösse oder an den Haaren ziehen – anwenden, davon 6 Prozent regelmässig. Über 20 Prozent der befragten Eltern wenden regelmässig psychische Gewalt an. 

Stéphanie Bürgi-Dollet ist Präventionsfachfrau und Leiterin des ­Programmes «Gewaltfreie Erziehung» bei Kinderschutz Schweiz, wo sie die Kurse «Starke Eltern – Starke Kinder» leitet. Sie ist Mutter von drei ­schul­pflichtigen Kindern und lebt mit ihrer Familie im Kanton Bern. 

Was versteht man unter psychischer Gewalt? 

Sobald ich ein Kind emotional in seiner Würde, seiner Persönlichkeit oder Integrität verletze, spricht man von psychischer Gewalt. Dazu gehört, dem Kind mit Worten wehzutun, es zu erniedrigen, zu beleidigen oder heftig zu beschimpfen. Oder ihm mit Schlägen oder Liebesentzug zu drohen. Diese Form der Gewalt hat sehr viele Gesichter und ist zum Teil schwer zu erkennen beziehungsweise zu bemerken.

Können Sie uns ein Beispiel geben?

Wer sein Kind zum wiederholten Mal auffordert, bei Tisch nicht herumzuzappeln, und das volle Wasserglas dann doch umkippen sieht, reagiert oftmals verärgert. Nun ist es ein Unterschied, ob ich schimpfe «Du solltest doch aufpassen, nun hol einen Lappen und wisch das Wasser auf!» oder «Wie kann man nur so blöd sein, immer machst du alles falsch!». Die letzte Aussage verletzt die Persönlichkeit des Kindes und ist als psychische Gewalt einzustufen. 

In der Hektik kommen nicht die guten Vorsätze hoch, ­sondern die vererbten Muster.

Körperliche Gewalt ist leichter zu erkennen. Aber auch hier gibt es sicher einen Graubereich.

Sobald ich meine Kraft als erwachsene Person anwende und dem Kind Schmerzen zufügen will, sich das Kind unwohl fühlt, sprechen wir von körperlicher beziehungsweise physischer Gewalt. Das können schwere Formen sein wie Prügel oder auch leichtere wie eine Ohr­feige oder ein Schlag auf den Po. Aber Sie haben natürlich recht, auch der Kontext spielt eine Rolle.

Wenn mein kleines Kind auf die Strasse rennt, habe ich keine andere Wahl, als es fest zu packen und zurückzuziehen. In diesem Fall setze ich meine körperliche Überlegenheit ein, um mein Kind zu schützen, und nicht, weil ich so stark überfordert bin, dass ich mir nicht mehr anders zu helfen weiss oder meinem Kind wehtun will. 

Und trotzdem befürworten 98 Prozent der befragten Eltern eine gewaltfreie Erziehung und wollen das Recht ­darauf gesetzlich verankern ​– eine bemerkenswerte Diskrepanz. Warum ist es so schwer, ­gänzlich auf Gewalt in der Erziehung zu verzichten?  

Zunächst einmal gibt es immer noch einen Teil in der Bevölkerung, der leichte Körperstrafen verharmlost. Nach dem Motto: Ein Schlag auf den Po hat noch niemandem geschadet. Darüber hinaus möchte aber der überwiegende Teil der Eltern auf Gewalt verzichten. Warum ihnen diese Gewaltfreiheit nicht immer gelingt, hat mehrere Gründe.

Gewalt ist fast immer eine Reaktion auf Überforderung.

Risikofaktoren wie Armut, Arbeitslosigkeit, Einsamkeit, eine Sucht- oder andere psychische Erkrankung können die Gewalt begünstigen, weil sie sehr stark belastend sind. Aber ganz unabhängig davon muss man sagen: Elternsein ist eine anspruchsvolle Aufgabe. Kinder verlangen vor allem in den ersten Jahren, aber auch darüber hinaus die volle Aufmerksamkeit, dazu kommen der Schlafmangel und all die anderen Aufgaben, die auch noch erledigt werden müssen.

Sprich der Spagat zwischen Care-, Haus- und Erwerbsarbeit. 

Richtig. Jede Mutter, jeder Vater will das Beste für ihr beziehungsweise sein Kind und die wenigsten schädigen ihr Kind mit Absicht. Wenn zu dieser permanenten Belastung noch eine schwierige Situation hinzukommt, vielleicht ein Kind, das schreit und sich weigert, ist das der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Mit anderen Worten: Gewalt ist fast immer eine Reaktion auf Überforderung. Es ist wie bei einem Dampfkochtopf: Der Druck nimmt stetig zu und irgendwann muss er raus. Der Weg ist nicht der richtige, aber nachvollziehbar.

Hinzu kommt, dass viele Mütter und Väter ihre eigenen Kinder heute ­weniger autoritär erziehen möchten, als sie es selbst erlebt haben. ­Inwiefern ist das problematisch? 

Unser Gehirn ist so aufgebaut, dass es in Stresssituationen das macht, was es am besten kann, was wir von klein auf gelernt haben. Das ist eine Überlebensstrategie. Im hektischen Familienalltag kommen also nicht meine guten Vorsätze hoch, sondern die Muster, die meine eigenen Eltern an mich weitergegeben haben.

Aus dieser Spirale herauszukommen, ist sehr schwer. Es ist auch notwendig, die eigene Erziehung zu hinter­fragen. Wenn dies dazu führt, dass man sich für einen anderen Erziehungsstil als den der eigenen Eltern entscheidet, kann das schwierig sein und erfordert viel Willenskraft und persönlichen Einsatz.

Zumal einen die gesellschaftlichen Erwartungen zusätzlich unter Druck setzen. 

Richtig. Wir sollen eine gute Mutter, ein guter Vater sein. Wir sollen unsere Kinder bestmöglich fördern, viel Zeit mit ihnen verbringen, aber auch berufstätig sein, zu unserer Partnerschaft und zu uns selbst schauen. Doch gerade Letzteres kommt im Alltag oft zu kurz. 

Eltern scheinen heute Probleme damit zu haben, ihre eigene Haltung zu finden.

Erziehungsmodelle wie die bedürfnisorientierte Erziehung propagieren eine absolute Zugewandtheit zum Kind. 

Eine liebevolle Zugewandtheit, ja, aber ohne sich dabei ganz zu vergessen. Es geht nicht nur darum, die Grenzen des Kindes zu wahren, sondern seine eigenen zu erkennen und aufzuzeigen: «Du möchtest mit mir spielen? Das mache ich sehr gerne, aber erst einmal brauche ich 20 Minuten für mich, ich hatte einen anstrengenden Tag.» In diesen 20 Minuten kann ich auftanken, um mehr Ressourcen für das Kind zu haben. Wer sich den Kindern zuliebe immer nur zusammenreisst, gibt und noch mehr gibt, brennt aus und explodiert am Ende heftiger, als wenn er an einem früheren Punkt die Reissleine gezogen hätte.

Woher kommt diese Fokussierung auf das Kind, die es in früheren Generationen so nicht gegeben hat? 

Zunächst einmal ist es positiv zu bewerten, dass Kinder heute in ihren Bedürfnissen gesehen und gefördert werden. Zu der alten autoritären Haltung möchte niemand zurück. Doch es scheint, dass Eltern heute Probleme damit haben, ihre eigene Haltung zu finden und zu vertreten. Ein Grund dafür ist sicher die grosse Informationsflut, die verunsichert. Man weiss nicht mehr, was gilt.

«Es geht nicht nur darum, die Grenzen des Kindes zu wahren, sondern seine eigenen zu erkennen und aufzuzeigen», sagt Stéphanie Bürgi-Dollet.

Der eine Experte propagiert einen bestimmten Erziehungsstil, den der nächste ablehnt. Natürlich sollten Mütter und Väter sich Entwicklungswissen aneignen, aber es geht darum, einen gesunden Mittelweg zu finden, in den die eigenen Werte und die eigene Persönlichkeit einfliessen. Und immer in der Reflexion zu sein: Was ist mir wichtig und was will ich? Diese innere Haltung macht Eltern dann auch resistenter gegen Bemerkungen und Erwartungen von aussen: Sie sind die Experten für ihr Kind – nicht die Nachbarn.

Für Kinderschutz Schweiz leiten Sie die Kurse «Starke Eltern – Starke Kinder». In diesen bringen Sie Eltern bei, wie gewaltfreie Erziehung gelebt werden kann. Was vermitteln Sie den Teilnehmenden?

Die Eltern kommen oft mit ihren Problemen und dem Wunsch, dass wir ihnen ein Rezept an die Hand geben. Doch wenn ich in meiner Familie nachhaltig etwas verändern möchte, braucht es Zeit und Geduld. Zuerst muss ich andere Arbeit ­leisten: Welche Werte vertrete ich? Welche Erziehungsziele habe ich? Wie kann ich gewaltfrei mit meinen Kindern, meiner Partnerin, meinem Partner kommunizieren? Im Laufe dieser Auseinandersetzung mit sich selbst merken Eltern oft, dass das vermeintliche Problem gar nicht so gross ist: «Aha, eigentlich ist mir die Ordnung zu Hause gar nicht so wichtig.»

Und die Liste an Problemen gar nicht so lang.

Genau. Das allein nimmt schon viel Druck raus. Das Ziel dieser Kurse ist, dass Mütter und Väter ihre Werte und sich selbst besser kennenlernen und dass sie sich kompetent fühlen, ihre Konflikte in der Familie auflösen zu können. Dafür entwickeln sie im Kurs eine Art «Werkzeugkasten».

Lassen Sie uns ein Beispiel aus dem Familienalltag anschauen. Gesetzt den Fall, die achtjährige Tochter hat mit einer Freundin abgemacht. Sie freut sich auf dieses Treffen, zögert das Losgehen aber immer weiter hinaus, bis sie sagt, sie habe keine Lust mehr. Den Vater triggert dieses Verhalten. Er möchte, dass die Tochter die Verabredung einhält. Ihm ist es unangenehm, dass die andere Familie warten muss. Wie sollte er reagieren?

Gut wäre es, wenn der Vater seine Tochter so gut kennt, dass er im Vorfeld schon weiss, dass diese Situation schwierig werden könnte. Denn meistens sind es wiederkehrende Themen, die das Familienleben belasten. So kann er die Tochter früh genug auf den Start vorbereiten: «Hey, du hast ja heute mit Mia abgemacht, du musst dich in einer Viertelstunde parat machen.» Ist es dann so weit und das Kind möchte nicht, sollte der Vater erklären, worum es ihm geht: «Hör mal, das ist deine Freundin, sie wartet, nun ist es auch wichtig, dass du hingehst.» 

Und wenn das Kind trotzdem nicht möchte? 

Dann ist es wohl an der Zeit, die Verantwortung an die Tochter abzugeben: Sie hat sich das Treffen organisiert – es ist ihre Sache. Sie muss also ihre Kollegin anrufen und ihre Entscheidung vertreten. Dieses Vorgehen braucht von den Eltern ein gewisses emotionales Engagement, denn das Kind wird protestieren: «Sicher nicht!» Dann kann der Vater sagen: «Aber schau, ich habe nicht mit Mia abgemacht, sondern du, und jetzt musst du handeln.»

Wenn ich meine Emotionen kenne, kann ich meine Bedürfnisse erfüllen.

Man muss sich als Eltern die Frage stellen: Was ist mir wichtig, meinem Kind beizubringen? Will ich, dass es auf jeden Fall hingeht oder dass es lernt, die Verantwortung für seine Entscheidungen, sein Handeln zu übernehmen? So kann ich als Vater beziehungsweise Mutter im Einklang mit meinen Werten und Überzeugungen handeln. Gut ist, wenn es am Ende für beide Seiten stimmt, was nicht in jeder Situation machbar ist. Aber das ist etwas anderes, als das Kind zu zwingen und physische oder psychische Gewalt auszuüben. 

«Es hilft, Prioritäten zu setzen. Was wollen, was müssen wir wirklich machen?», sagt Stéphanie Bürgi-Dollet (rechts) im Gespräch mit der stellvertretenden Fritz+Fränzi-Chefredaktorin Evelin Hartmann.

Bei einer Verabredung zum Spielen ist das sicher gut möglich. Wie steht es um andere Termine, wie zum Beispiel einen Zahnarztbesuch? Den sollte man nicht jedes Mal absagen.

Natürlich nicht. Das ist ein anderer Fall – und schwierig, insbesondere wenn der bevorstehende Zahnarztbesuch mit Angst verbunden ist. Man sollte als Eltern zuerst die Emotionen des Kindes wahrnehmen und akzeptieren. Dann sollte man versuchen, kreativ zu sein. Druck bringt in den meisten Fällen nichts. Die Frage lautet: Wie kann ich meinem Kind das Vertrauen geben, damit es angstfrei dort hingehen kann? Auf jeden Fall ist es hilfreich, mit ihm frühzeitig darüber zu sprechen, mit jüngeren Kindern ein Buch, mit etwas älteren ein Video zum Thema anzuschauen. Denn das Schwierige für Kinder ist, nicht zu wissen, was auf sie zukommt, was mit ihnen passiert. Das löst Angst und Abneigung aus. Die Informationen vermitteln dem Kind etwas Sicherheit und die Sache wird vorhersehbar.

Das klingt nachvollziehbar und ­schlüssig – aber auch sehr ­zeitaufwendig. Der Alltag mit Kindern ist aber mitunter schwer planbar und unvorhersehbar.

Da haben Sie recht! Was hilft, ist, den Alltag nicht zu eng zu takten, sprich Prioritäten zu setzen. Was wollen, was müssen wir wirklich machen? Und wo grenzen wir uns ab und sagen auch mal Nein zu einer Anfrage? Wenn wir erst einmal in dieser Negativspirale sind, ist es schwierig, sie zu stoppen. Wenn man sich jedoch Zeit nimmt, dass die Kinder antizipieren, mitgestalten können, werden Alltagssituationen attraktiver. Weil alle das Gefühl haben, gehört zu werden. So lernt man auch sein Kind und seine Bedürfnisse kennen: «Ach so, das sind Situationen, die mein Kind als schwierig erlebt. Wie kann ich ihm da helfen?» Das Gute ist, dass es den meisten Eltern so geht und man mit den Jahren dazulernt.

Man sollte die Verantwortung für seine Gefühle übernehmen und keine Angst vor denen seiner Kinder haben.

Sie sagen, dass Emotionen beim ­Thema Gewalt in der Erziehung eine grosse Rolle spielen. Zum einen die Emotionen der Kinder, aber auch die der Eltern.  

Bis Kinder zur Emotionsregulierung fähig sind, braucht es viele Jahre, und kleine Kinder brauchen lang die Unterstützung ihrer Eltern, um ihre Emotionen zu regulieren. Viele Mütter und Väter sind mit den zum Teil sehr starken Wutanfällen ihrer Kinder überfordert. Sie haben oft selbst Schwierigkeiten, ihre starken Gefühle zu regulieren. Die Emotionen sind ansteckend und die Eltern haben Mühe, diese Gefühle in ihrer Stärke anzunehmen, ohne dass sie sich selbst angegriffen fühlen.

Das Bestrafungsverhalten von Eltern in der Schweiz

Im Jahr 2017 beauftragte Kinderschutz Schweiz das Institut für Familienforschung und -beratung der Universität Freiburg mit der Erhebung zum «Bestrafungsverhalten von Eltern in der Schweiz». Die Ergebnisse wurden 2020 veröffentlicht. Seitdem wird die Erhebung jedes Jahr wiederholt.

«Ziel ist es, den Trend im Bestrafungsverhalten ablesen zu können», so Stéphanie Bürgi-Dollet von Kinderschutz Schweiz. Ausgehend von der Kinderrechts­konvention und dem damit einhergehenden Recht auf eine gewaltfreie Erziehung wollte man schauen: Wie steht es um die Gewaltfreiheit in Schweizer Familien? Und was brauchen Eltern, um ihre Kinder gewaltfrei erziehen zu können?

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Viele Mütter und Väter haben in ihrer eigenen Kindheit gelernt, dass sie diese Gefühle nicht haben dürfen: «Hör auf zu schreien, stell dich nicht so an, das ist doch nicht so schlimm!» Wut und Trauer sind negativ besetzt und dürfen nicht sein. Und deshalb sind die Eltern überfordert, wenn ihre Kinder auf diese Weise reagieren. Sie selbst durften es nicht. Wie sollen sie jetzt also damit umgehen? Niemand hat ihnen das gezeigt.

Und so reagiert man mit Gewalt. Was also tun?

Wenn wir Erwachsene uns mehr mit unseren eigenen Emotionen und Bedürfnissen beschäftigen, haben wir grössere Chancen, im Alltag gelassener zu reagieren. Wenn ich meine Gefühle nicht wahrnehme, gerate ich in die Eskalationsspirale, aus der ich nur noch schwer herausfinde. Wenn ich meine Emotionen aber kenne, kann ich meine Bedürfnisse erfüllen. Das macht mich psychisch stark. Wir müssen zu Krisenmanagern unseres Familienalltags werden.

Sich eingestehen, dass man Hilfe braucht, ist ein ­Zeichen von Stärke.

Wie geht das?

Indem man aufmerksam ist: Ah, okay, ich kenne diese Situation, jetzt ist sie da, wie kann ich mich nun verhalten? Letztes Mal habe ich geschrien, das will ich nicht. Dieses Mal verlasse ich den Raum und das kommuniziere ich meinem Kind: «Schau, ich brauche jetzt fünf Minuten, aber ich komme wieder.» Man sollte die Verantwortung für seine Gefühle übernehmen und keine Angst vor denen seiner Kinder haben. Als erwachsene Person bin ich immer in der Verantwortung. 

Kinderschutz in der Schweiz

In der UNO-Kinderrechtskonvention ist im Artikel 19 festgehalten, dass die Vertragsstaaten alle geeigneten Massnahmen treffen müssen, um Kinder vor körperlicher und geistiger Gewalt, Misshandlung, vor Vernachlässigung, schlechter Behandlung und sexuellem Missbrauch zu schützen.

Die Schweiz hat diesen Vertrag im Jahr 1997 unterschrieben und damit der Umsetzung des erwähnten Artikels 19 zugestimmt. Effektiv ist in Bezug auf den Schutz vor Gewalt lange nichts Entscheidendes passiert. Das Bundesgesetz ­verbietet zwar körperliche Übergriffe, ein gewisses Mass an körperlicher Züchtigung der Kinder ist in der Schweiz nach Gerichtspraxis jedoch gesetzlich erlaubt. Es gibt bisher kein Gesetz, welches Kindern und Jugendlichen das Recht auf eine gewaltfreie Erziehung einräumt. Im ­Parlament wurde 1996, 2008, 2013 und 2017 ohne Erfolg versucht, diesen Zustand zu ändern.

Erst Ende 2022 wurde die Motion «Gewaltfreie Erziehung im ZGB verankern» vom Parlament angenommen. Dem Bundesrat wurde damit der Auftrag gegeben, einen entsprechenden Gesetzesartikel auszuarbeiten. Im September 2023 hat der Bundesrat einen Vorentwurf in die Vernehmlassung geschickt, die mittlerweile abgeschlossen ist. Bevor es zur Umsetzung kommt, wird erneut das Parlament über den Gesetzesartikel beraten.

Woran erkenne ich, dass es in meinem Familienalltag nicht gut läuft, wir grundsätzlich etwas ändern sollten? 

Wenn ich beobachte, dass ich mich oft nicht gut fühle, ständig überfordert bin. Anzeichen dafür kann es viele geben: Übermüdung, Isolation, fehlende Motivation, ständiger Streit in der Familie, vielleicht Gewalt, auch psychische. Da gilt es ehrlich zu sich zu sein und frühzeitig zu reagieren. Vielleicht muss man sich auch von seinem Bild einer glücklichen, gut funktionierenden Familie trennen und sich eingestehen, dass man Hilfe braucht. Sich dies einzugestehen und um Unterstützung zu bitten, vielleicht auch einen Erziehungskurs zu besuchen, ist ein Zeichen von Stärke.

Evelin Hartmann
ist stellvertretende Chefredaktorin von Fritz+Fränzi. Sie wohnt mit ihrem Mann und den zwei Töchtern in Luzern.

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