«In der Wut sehen Eltern ihr Kind nicht mehr»
Merken
Drucken

«In der Wut sehen Eltern ihr Kind nicht mehr»

Lesedauer: 4 Minuten

Gewalt in der Erziehung gehört für viele Kinder immer noch zum Alltag. Regula Bernhard Hug, Geschäftsführerin von Kinderschutz Schweiz, über den Einfluss einer gesetzlichen Verankerung zum Kinderschutz, wann Schimpfen zu psychischer Gewalt wird und was Eltern dagegen tun können.

Interview: Maria Ryser
Bild: Adobe Stock

Frau Bernhard Hug, wie steht es um den Kinderschutz in der Schweiz?

Wir haben bereits zum sechsten Mal eine Studie in Auftrag gegeben zum Bestrafungsverhalten von Eltern in der Erziehung. Leider hat sich von den Zahlen her nichts verändert. Über 20 Prozent der befragten Eltern wenden regelmässig psychische Gewalt an. Dazu gehört es, den Kindern mit Worten wehzutun oder diese heftig zu beschimpfen, ihnen mit Schlägen zu drohen oder verbal zu erniedrigen.

Knapp 40 Prozent der befragten Eltern wenden zu Hause körperliche Gewalt an, davon sechs Prozent regelmässig. Schwere Gewalt hingegen, das wissen wir von der Kinderschutz-Statistik der Spitäler, hat sogar zugenommen. Die Studie zum Bestrafungsverhalten basiert auf einer Elternbefragung und erhebt keine solch schwere Gewalt.

Regula Bernhard Hug, Geschäftsführerin von Kinderschutz Schweiz: «Umliegende Länder belegen, dass eine gesetzliche Verankerung präventiv wirkt und weniger Eltern Gewalt anwenden.» (Bild: zVg)

Wie erklären Sie sich diese stagnierenden Zahlen?

Wir haben durch die Corona-Pandemie einen Rückschlag erlitten. Vor der Pandemie war die Gewaltanwendung rückläufig. Die Leute kannten unsere Kampagnen, die Zahlen waren am Sinken. Wirtschaftlicher und gesundheitlicher Druck sowie Leben auf engem Wohnraum erhöhen das Gewaltrisiko. Während der Covid-Massnahmen stiegen die Zahlen daher wieder stark an und machten so die Fortschritte, die wir vor der Pandemie erzielt hatten, zunichte.

Die Schliessung der Schulen war problematisch?

Für viele Kinder war das sehr gefährlich. Sämtliche Risikofaktoren wurden kumuliert. Mit der Schliessung sah niemand mehr in die Familien hinein. Gewalt zieht sich durch alle sozialen Schichten. Es ist kein Unterschichtsthema, auch wenn Armut einer von verschiedenen Risikofaktoren darstellt. Wir waren daher die ersten, die davor warnten und die sofortige Wiedereröffnung der Schulen forderten.

Psychische Gewalt ist für viele Eltern schwieriger zu erkennen als körperliche Gewalt.

Was stimmt Sie positiv?

Erstens, dass 98 Prozent der befragten Eltern eine gewaltfreie Erziehung befürworten. Sie wünschen sich das, auch wenn es ihnen nicht immer gelingt. Die befragten Eltern sind zudem überzeugt, dass eine gesetzliche Verankerung helfen würde, die Kinder gewaltfrei zu erziehen. Was mich zum zweiten Punkt führt: Der Lösungsvorschlag des Bundesrates für ein solches Gesetz ist bereits in der Vernehmlassung, was uns sehr freut. Yvonne Feri, Stiftungsratspräsidentin von Kinderschutz Schweiz, hat bereits 2013 eine Motion im Parlament eingereicht. Unser unermüdliches Engagement dafür zahlt sich nun aus.

Welchen Einfluss hat ein Gesetz auf den Kinderschutz?

Es ist ein starkes Signal für die Kinder. Wird das Gesetz abgelehnt, lautet die Botschaft: Du kannst dein Kind ohrfeigen, an den Haaren ziehen oder heftig beschimpfen, das ist okay und gesellschaftlich akzeptiert. Mit dem Gesetz wird gewaltfreies Erziehen normal, und ein solches Verhalten nicht mehr toleriert. Die Wirkung eines solchen Gesetzes lässt sich auch mit Zahlen belegen. In Ländern, die ein Gesetz für gewaltfreie Erziehung eingeführt haben, das zusätzlich von Sensibilisierungskampagnen begleitet wird, hat sich die Gewalt an Kindern deutlich reduziert.

Ab wann wird Schimpfen zu psychischer Gewalt? Haben Sie ein Beispiel dafür?

Es ist verständlich, dass Eltern im Stress wütend werden können. Zum Beispiel, wenn das Kind zum wiederholten Mal sein Zimmer nicht aufräumt. Dieser Wut mit einem lauten «Gopf, jetzt räum das sofort auf!» Ausdruck zu verleihen, ist noch keine psychische Gewalt am Kind. Eine Reaktion, die das Kind gezielt erniedrigen will, tönt dagegen so: «Wie kann man nur so dumm sein! Es ist immer dasselbe mit dir, aber es wundert mich überhaupt nicht: von dir kann man ja nichts anderes erwarten.»

Sind sich Eltern dieser Form von Gewalt bewusst?

Psychische Gewalt ist für viele Eltern schwieriger zu erkennen als körperliche Gewalt. Hier äussern sich häufig Verhaltensmuster, die man als Kind von seinen Eltern übernommen hat oder die in der Familie bereits seit Generationen existieren. Verbale Verletzungen haben sich abgespeichert und werden im Stress wieder hervorgeholt. Im Moment, in dem es passiert, erleben Eltern einen Kontrollverlust. Die Beziehung zum Kind bricht auseinander.

Die meisten Eltern wollen ihrem Kind nicht gezielt weh tun und handeln aus einer Überforderung heraus.

Was können Eltern dagegen tun?

Es gibt immer eine Alternative zu Gewalt. Das ist unser Credo, das wir mit unseren Kampagnen seit Jahren verbreiten. In einem ersten Schritt geht es darum, die zwei Sekunden vor der Gewalteskalation zu erwischen. Eltern können dann zum Beispiel den Raum verlassen, ein paar Minuten tief durchatmen oder ein Glas Wasser trinken, um wieder zur Ruhe zu gelangen und dann mit dem Kind in Beziehung zu treten. Die meisten Eltern wollen ihrem Kind nicht gezielt weh tun und handeln aus einer Überforderung heraus.

Mehr über Kinderschutz Schweiz

Seit 2017 wird die Präventionskampagne «Starke Ideen – Es gibt immer eine Alternative zur Gewalt» von der Universität Freiburg wissenschaftlich begleitet. Die Studie zum Bestrafungsverhalten von Eltern in der Schweiz wurde 2023 zum sechsten Mal durchgeführt.

In einem weiteren Schritt geht es darum, die Verhaltensmuster, die uns triggern, zu erkennen und aufzulösen. Kinderschutz Schweiz bietet eine Vielzahl an Elternkursen an, die Mütter und Väter in ihren Aufgaben als Erziehende stärken.

Erzählen Sie uns noch etwas über das Plüschmönsterli Emmo.

Emmo gibt dem Kind eine Stimme, wenn es keine mehr hat. Das Plüschmönsterli hat zwei Gesichter: Ein helles für gute Stimmungen und ein dunkles für bedrückte Stimmungen. Wird ein Kind verbal attackiert, kann es Emmo hervornehmen und das dunkle Gesicht zeigen. In einem Wutanfall sind Eltern nur mit sich und ihrer Wut beschäftigt. Sie sehen das Kind nicht mehr und brauchen dann ein Signal, das sie in ihrer Wut stoppt. Emmo übernimmt diese Signalfunktion. Das Begleitbuch dazu zeigt verschiedene Alltagssituationen auf, die zu einer stressbedingten Gewaltreaktion führen können. Die Botschaft darin lautet: Alle Emotionen sind erlaubt, aber nicht alle Handlungen.

Sehen Sie hier das Video mit Emmo:

Maria Ryser

Maria Ryser
liebt grosse und kleine Kinder, zyklisch leben, Rilke, reinen Kakao, Klangreisen und Kreta. Die gebürtige Bündnerin arbeitet als stv. Leiterin auf der Onlineredaktion und ist Mutter zweier erwachsener Kinder und eines Primarschülers.

Alle Artikel von Maria Ryser

Mehr zum Thema Gewalt in der Erziehung

Erziehung ohne Gewalt
Erziehung
«Wir müssen zu Krisenmanagern unseres Familienalltags werden»
Mütter und Väter seien heute hohen Anforderungen ausgesetzt, sagt Elternkursleiterin Stéphanie Bürgi-Dollet. So gelingt gewaltfreie Erziehung.
Kinder im Wachstum brauchen ausreichend Vitamine und Vitamin B Strath
Advertorial
Was Kinder zum gross werden brauchen
Für ein gesundes Wachstum benötigen Kinder Vitamine, Mineralstoffe, lebenswichtige Fette – und vieles mehr.
Erziehung
Was ist psychische Gewalt?
Eine einheitliche Definition von psychischer Gewalt in der Erziehung gibt es nicht. ­Wissenschaftler sprechen von psychischer Gewalt, wenn Eltern ...
Erziehung ohne Gewalt
Erziehung
7 Tipps für Eltern zur gewaltfreien Erziehung
Was hilft Eltern, im Clinch mit dem Nachwuchs, auf Drohungen oder Schimpftiraden zu verzichten? 7 Expertentipps
Psychische Gewalt
Erziehung
«Eltern sind verantwortlich für die Qualität der Beziehung»
Martina Schmid berät beim Elternnotruf Mütter und Väter, die nicht mehr weiterwissen. Psychische Gewalt, weiss sie, kann dann ins Spiel kommen, wenn Eltern unrealistische ­Erwartungen ans Kind haben oder ihm die Verantwortung für elterliche Gefühle aufbürden.
Elternbildung
Wie steht es um die Kinderrechte in der Schweiz?
Vor rund 32 Jahren hat die Schweiz das Kinderrechtsabkommen der UNO angenommen. 3 Fragen an Regula Bernhard Hug von Kinderschutz Schweiz wie es um den Schutz der Kinder aussieht anlässlich des internationen Tag der Kinderrechte.
David Lätsch, Professor am Institut für Kindheit, Jugend und Familie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften
Elternbildung
«Manche Eltern sind froh, dass die KESB sich einschaltet»
Wie es hierzulande um den Kindesschutz steht, weiss David Lätsch, Professor am Institut für Kindheit, Jugend und Familie der ZHAW in Zürich.
«Eltern sollten ihr Kind als Bereicherung erleben. Und nicht als Störung»
Elternbildung
«Eltern sollten ihr Kind als Bereicherung erleben. Und nicht als Störung»
«Elternbildung für alle» – Geschäftsführer Thomas Schlickenrieder erklärt, wie die Stiftung Elternsein Mütter und Väter in Zukunft unterstützen will.
Psychotherapeutin Sophia Fischer: «Egal wie blöd ein Kind tut – es hat trotzdem ein Recht
Familienleben
«Egal wie blöd ein Kind tut – es hat ein Recht, nicht geschlagen zu werden»
Die Psychotherapeutin Sophia Fischer stellt fest, dass die Spannungen im Familien­alltag seit Beginn der Corona-Pandemie zunehmen.
Keine Gewalt an Kindern
Familienleben
«Die Schliessung der Schulen im Frühling war katastrophal»
3 Fragen an Regula Bernhard Hug, Leiterin der Geschäftsstelle ­Kinderschutz Schweiz, zur neuen Studie über das Bestrafungsverhalten von Eltern in der Schweiz.
EKKJ fordert neue Massnahmen gegen Gewalt in der Erziehung
Familienleben
Gewalt in der Erziehung ist noch zu verbreitet
Jeder Schlag ist ein Schlag zu viel. Die EKKJ sieht dringenden Handlungsbedarf in Bezug auf Gewalt in der Erziehung von Kindern und Jugendlichen.
Stand der Kinderrechte in der Schweiz
Familienleben
«Das Recht des Kindes  sollte immer Vorrang haben»
Jedes Kind hat ein Recht darauf, gesund und sicher aufzuwachsen, angehört und ernst ­genommen zu werden. Irène Inderbitzin über den Stand der Kinderrechte.
Zugang zu Kinderrechten in der Schweiz
Elternbildung
Simone Hilber: «Es fehlt eine nationale Kinderrechtspolitik»
Soziologin Simone Hilber fordert, der Zugang zu Kinderrechten sollte nicht vom Wohnkanton abhängen.
Studie über Gewalt in der Erziehung: In der Schweiz ist die Ohrfeige Realität
Elternbildung
Die Ohrfeige in der Erziehung ist in der Schweiz noch zu normal
Kriminologe Dirk Baier hat Schülerinnen und Schüler in der Deutschschweiz zu Gewalt in der Erziehung befragt – und kam zu beunruhigenden Erkenntnissen.
Schule in Hombrechtikon wagt den Tabubruch im Kampf gegen häusliche Gewalt
Gesellschaft
Schule in Hombrechtikon gegen häusliche Gewalt
Gewalt zu Hause ist ein Problem und darüber zu sprechen ein grosses Tabu. Zu Besuch an einer Schule in Hombrechtikon, deren Schüler sich dem Thema annehmen.
Kinder haben Rechte
Familienleben
Kinder haben Rechte!
Vor meinem Fenster im Kinderdorf Pestalozzi spielen fünf Kinder, lachen, schreien. So verschieden sie sind, eines haben alle fünf gemeinsam: Sie teilen dieselben Rechte, die Kinderrechte – höchstpersönliche Rechte, die unveräusserlich sind und nicht auf andere übertragen werden können.  Das Kinderrechtsabkommen der Vereinten Nationen feiert im kommenden Jahr seinen 30. Geburtstag. Es ist das erfolgreichste […]
Erziehung ohne Schläge - Gesetz gegen Körperstrafen
Familienleben
«Wir wollen, dass in der Schweiz kein Kind geschlagen wird»
In einer Petition sammelt der Verein Gewaltfreie Erziehung Unterschriften, damit das Recht auf Erziehung ohne Schläge endlich im Zivilgesetzbuch verankert wird.
Tim (6) will bei seinen Grosseltern leben. Darf er das?
Elternbildung
Tim (6) will bei seinen Grosseltern leben. Darf er das?
Welche Rechte haben Kinder, wenn Eltern sich trennen? Was ist der Unterschied zwischen Selbstbestimmungsrecht und Mitwirkungsrecht eines Kindes?
Elternbildung
Gewalt und Radikalisierung  vermeiden – eine Anleitung
Wie Aggression, Gewalt und potenzieller Radikalisierung in Kindergärten und Schulen vorgebeugt werden kann, erklärt der renommierte dänische Familientherapeut Jesper Juul in diesem Fachartikel.
ADHS – welche Rechte haben Kinder?
Psychologie
ADHS – welche Rechte haben Kinder?
Teil 4 der ADHS-Serie: Wie viel dürfen Eltern bei der Behandlung mitbestimmen? Was muss das Kind selbst entscheiden dürfen? Das Thema AD(H)S aus der (kinder)rechtlichen Perspektive.