«In der Wut sehen Eltern ihr Kind nicht mehr»
Gewalt in der Erziehung gehört für viele Kinder immer noch zum Alltag. Regula Bernhard Hug, Geschäftsführerin von Kinderschutz Schweiz, über den Einfluss einer gesetzlichen Verankerung zum Kinderschutz, wann Schimpfen zu psychischer Gewalt wird und was Eltern dagegen tun können.
Frau Bernhard Hug, wie steht es um den Kinderschutz in der Schweiz?
Wir haben bereits zum sechsten Mal eine Studie in Auftrag gegeben zum Bestrafungsverhalten von Eltern in der Erziehung. Leider hat sich von den Zahlen her nichts verändert. Über 20 Prozent der befragten Eltern wenden regelmässig psychische Gewalt an. Dazu gehört es, den Kindern mit Worten wehzutun oder diese heftig zu beschimpfen, ihnen mit Schlägen zu drohen oder verbal zu erniedrigen.
Knapp 40 Prozent der befragten Eltern wenden zu Hause körperliche Gewalt an, davon sechs Prozent regelmässig. Schwere Gewalt hingegen, das wissen wir von der Kinderschutz-Statistik der Spitäler, hat sogar zugenommen. Die Studie zum Bestrafungsverhalten basiert auf einer Elternbefragung und erhebt keine solch schwere Gewalt.
Wie erklären Sie sich diese stagnierenden Zahlen?
Wir haben durch die Corona-Pandemie einen Rückschlag erlitten. Vor der Pandemie war die Gewaltanwendung rückläufig. Die Leute kannten unsere Kampagnen, die Zahlen waren am Sinken. Wirtschaftlicher und gesundheitlicher Druck sowie Leben auf engem Wohnraum erhöhen das Gewaltrisiko. Während der Covid-Massnahmen stiegen die Zahlen daher wieder stark an und machten so die Fortschritte, die wir vor der Pandemie erzielt hatten, zunichte.
Die Schliessung der Schulen war problematisch?
Für viele Kinder war das sehr gefährlich. Sämtliche Risikofaktoren wurden kumuliert. Mit der Schliessung sah niemand mehr in die Familien hinein. Gewalt zieht sich durch alle sozialen Schichten. Es ist kein Unterschichtsthema, auch wenn Armut einer von verschiedenen Risikofaktoren darstellt. Wir waren daher die ersten, die davor warnten und die sofortige Wiedereröffnung der Schulen forderten.
Psychische Gewalt ist für viele Eltern schwieriger zu erkennen als körperliche Gewalt.
Was stimmt Sie positiv?
Erstens, dass 98 Prozent der befragten Eltern eine gewaltfreie Erziehung befürworten. Sie wünschen sich das, auch wenn es ihnen nicht immer gelingt. Die befragten Eltern sind zudem überzeugt, dass eine gesetzliche Verankerung helfen würde, die Kinder gewaltfrei zu erziehen. Was mich zum zweiten Punkt führt: Der Lösungsvorschlag des Bundesrates für ein solches Gesetz ist bereits in der Vernehmlassung, was uns sehr freut. Yvonne Feri, Stiftungsratspräsidentin von Kinderschutz Schweiz, hat bereits 2013 eine Motion im Parlament eingereicht. Unser unermüdliches Engagement dafür zahlt sich nun aus.
Welchen Einfluss hat ein Gesetz auf den Kinderschutz?
Es ist ein starkes Signal für die Kinder. Wird das Gesetz abgelehnt, lautet die Botschaft: Du kannst dein Kind ohrfeigen, an den Haaren ziehen oder heftig beschimpfen, das ist okay und gesellschaftlich akzeptiert. Mit dem Gesetz wird gewaltfreies Erziehen normal, und ein solches Verhalten nicht mehr toleriert. Die Wirkung eines solchen Gesetzes lässt sich auch mit Zahlen belegen. In Ländern, die ein Gesetz für gewaltfreie Erziehung eingeführt haben, das zusätzlich von Sensibilisierungskampagnen begleitet wird, hat sich die Gewalt an Kindern deutlich reduziert.
Ab wann wird Schimpfen zu psychischer Gewalt? Haben Sie ein Beispiel dafür?
Es ist verständlich, dass Eltern im Stress wütend werden können. Zum Beispiel, wenn das Kind zum wiederholten Mal sein Zimmer nicht aufräumt. Dieser Wut mit einem lauten «Gopf, jetzt räum das sofort auf!» Ausdruck zu verleihen, ist noch keine psychische Gewalt am Kind. Eine Reaktion, die das Kind gezielt erniedrigen will, tönt dagegen so: «Wie kann man nur so dumm sein! Es ist immer dasselbe mit dir, aber es wundert mich überhaupt nicht: von dir kann man ja nichts anderes erwarten.»
Sind sich Eltern dieser Form von Gewalt bewusst?
Psychische Gewalt ist für viele Eltern schwieriger zu erkennen als körperliche Gewalt. Hier äussern sich häufig Verhaltensmuster, die man als Kind von seinen Eltern übernommen hat oder die in der Familie bereits seit Generationen existieren. Verbale Verletzungen haben sich abgespeichert und werden im Stress wieder hervorgeholt. Im Moment, in dem es passiert, erleben Eltern einen Kontrollverlust. Die Beziehung zum Kind bricht auseinander.
Die meisten Eltern wollen ihrem Kind nicht gezielt weh tun und handeln aus einer Überforderung heraus.
Was können Eltern dagegen tun?
Es gibt immer eine Alternative zu Gewalt. Das ist unser Credo, das wir mit unseren Kampagnen seit Jahren verbreiten. In einem ersten Schritt geht es darum, die zwei Sekunden vor der Gewalteskalation zu erwischen. Eltern können dann zum Beispiel den Raum verlassen, ein paar Minuten tief durchatmen oder ein Glas Wasser trinken, um wieder zur Ruhe zu gelangen und dann mit dem Kind in Beziehung zu treten. Die meisten Eltern wollen ihrem Kind nicht gezielt weh tun und handeln aus einer Überforderung heraus.
Seit 2017 wird die Präventionskampagne «Starke Ideen – Es gibt immer eine Alternative zur Gewalt» von der Universität Freiburg wissenschaftlich begleitet. Die Studie zum Bestrafungsverhalten von Eltern in der Schweiz wurde 2023 zum sechsten Mal durchgeführt.
- Website von Kinderschutz Schweiz
- Politische Arbeit von Kinderschutz Schweiz und Stand der Motion
- Elternkurse zur Gewaltprävention
In einem weiteren Schritt geht es darum, die Verhaltensmuster, die uns triggern, zu erkennen und aufzulösen. Kinderschutz Schweiz bietet eine Vielzahl an Elternkursen an, die Mütter und Väter in ihren Aufgaben als Erziehende stärken.
Erzählen Sie uns noch etwas über das Plüschmönsterli Emmo.
Emmo gibt dem Kind eine Stimme, wenn es keine mehr hat. Das Plüschmönsterli hat zwei Gesichter: Ein helles für gute Stimmungen und ein dunkles für bedrückte Stimmungen. Wird ein Kind verbal attackiert, kann es Emmo hervornehmen und das dunkle Gesicht zeigen. In einem Wutanfall sind Eltern nur mit sich und ihrer Wut beschäftigt. Sie sehen das Kind nicht mehr und brauchen dann ein Signal, das sie in ihrer Wut stoppt. Emmo übernimmt diese Signalfunktion. Das Begleitbuch dazu zeigt verschiedene Alltagssituationen auf, die zu einer stressbedingten Gewaltreaktion führen können. Die Botschaft darin lautet: Alle Emotionen sind erlaubt, aber nicht alle Handlungen.