«Manche Eltern sind froh, dass die KESB sich einschaltet» - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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«Manche Eltern sind froh, dass die KESB sich einschaltet»

Lesedauer: 10 Minuten

Wie es hierzulande um den Kindesschutz steht, weiss David Lätsch, Professor am Institut für Kindheit, Jugend und Familie der ZHAW in Zürich. Ein Gespräch über gefährdete Kinder und Jugendliche und die Stärken und Schwächen der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde KESB.

Interview: Yvonne Kiefer-Glomme
Bilder: Maurice Haas / 13 Photo

Herr Lätsch, wie viele Kinder und Jugendliche in der Schweiz leben in schwierigen Familiensituationen?

Im Jahr 2019 leisteten die KESB sowie soziale und psychologische Dienste, die Opferhilfe und die Familienberatungsstellen bei rund 80 000 Kindern und Jugendlichen institutionelle Massnahmen oder Hilfen aufgrund einer Kindeswohlgefährdung. In unserer Dunkelfelderhebung haben 13,5 Prozent der Jugendlichen berichtet, dass sie in ihrem bisherigen Leben von den eigenen Eltern vernachlässigt oder misshandelt wurden. Nimmt man diese Ergebnisse als Grundlage, waren schweizweit rund 200 000 Kinder und Jugendliche schon einmal schwierigen Familiensituationen ausgesetzt.

In welchen Fällen greift die KESB ein?

Wenn eine Gefährdungsmeldung vorliegt. Das heisst, wenn der Verdacht besteht, dass das körperliche oder psychische Wohl eines Kindes oder Jugendlichen etwa durch Vernachlässigung, Misshandlung oder Missbrauch gefährdet ist. Oder aber es handelt sich um ein verhaltensauffälliges Kind oder einen Jugendlichen mit psychischen Störungen, mit dem die Eltern dauerhaft überfordert scheinen. Zu einem Eingriff kommt es nur, wenn sich dieser Verdacht bestätigt und die KESB zum Schluss kommt, dass es zur Verbesserung der Situation eine behördliche Massnahme braucht.

Was bedeutet ein Eingriff der KESB für das Kind respektive den Jugendlichen und die Eltern?

Eröffnet die KESB eine Abklärung in einer Familie, dann stellt die Behörde damit implizit in Frage, ob Eltern ihrer Rolle gerecht werden. Und das unabhängig davon, ob die vermutete Gefährdung des Kindeswohls tatsächlich besteht und wie das Verfahren ausgeht. Für die Eltern bedeutet der Kontakt mit der KESB zunächst eine Unterstellung. Von einer öffentlichen Stelle vorgeladen zu werden, der man Auskunft über private Details geben muss, empfinden viele als drastischen Eingriff in die Autonomie ihrer Familie. Zudem schwingt in vielen Fällen die Angst der Eltern mit, dass man ihnen ihre Kinder wegnimmt. Viele Betroffene fühlen sich unverstanden und ohnmächtig. Es gibt aber auch Eltern, die froh sind, dass die KESB sich einschaltet, weil sie sich davon eine Entlastung für ihr Kind und sich selbst versprechen.

«Eltern wenden sich nur dann an die Medien, wenn sie sich von der KESB ungerecht behandelt fühlen», sagt David Lätsch.

David Lätsch ist Psychologe, Buchautor («Schreiben als Therapie») und Professor am Institut für Kindheit, Jugend und Familie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften ZHAW.

Und wie ist das für die Kinder?

Bei den Kindern und Jugendlichen hängt die Wirkung des Verfahrens davon ab, wie viel sie mitbekommen. Zudem muss man zwischen der objektiven und der subjektiven Dimension unterscheiden: Objektiv kann es für ein Kind sehr gut sein, wenn die Behörde sich einschaltet. Subjektiv bedeutet die Infragestellung der Eltern eine Verunsicherung. Zudem haben viele Kinder und Jugendliche Hemmungen, sich negativ über ihre Situation zu äussern, aus Angst vor möglichen Konsequenzen. Umso wichtiger ist es, dass die Fachpersonen altersgerechte Gesprächstechniken nutzen und ihnen klar und verbindlich begegnen.

Schweizweit sind rund 200 000 Kinder schwierigen Familiensituationen ausgesetzt.

Die KESB steht in den Medien häufig in der Kritik: So würden Mitarbeiter unsensibel vorgehen, die Angehörigen würden bei der Beurteilung eines Falles übergangen, Kinder ohne zwingende Gründe fremdplatziert.

Ich verfolge diese mit gemischten Gefühlen. Einerseits ist kritische Berichterstattung prinzipiell ein Zeichen einer gesunden Demokratie. Andererseits werden die Fälle meist nur aus der subjektiven Sicht der betroffenen Eltern beschrieben, da die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden aufgrund des Amtsgeheimnisses zu laufenden Verfahren keine Stellung nehmen dürfen. Hinzu kommt, dass Eltern sich nur dann an die Medien wenden, wenn sie sich von der KESB ungerecht behandelt fühlen. Das heisst, über die vielen positiv verlaufenden Fälle, die wir in unseren Studien auch sehen, wird kaum berichtet. Zudem wird selten daran erinnert, welche Vorteile die KESB gegenüber den früheren Laienbehörden bieten.

Welche Vorteile meinen Sie?

Mit dem neuen Kindes- und Erwachsenenschutzrecht ist es gelungen, eine Behörde zu schaffen, die man kritisieren kann. Früher gab es 1400 lokale Vormundschafts­behörden, in der Regel besetzt mit Laien, die zum Teil wenig professionelle Distanz zu den Betroffenen hatten. Zudem hat es ausserhalb der eigenen Gemeinde kaum jemanden interessiert, wenn Eltern mit der Vormundschaftsbehörde vor Ort ein Problem hatten, weil die Behörden überall anders zusammengesetzt waren und funktionierten. Und in der Gemeinde selbst haben es sich Eltern oft zweimal überlegt, ob sie sich mit der einflussreichen Behörde, die nicht selten identisch mit dem Gemeinderat war, wirklich anlegen wollten. Die grössere Distanz der KESB zu den Gemeinden bietet sicher nicht nur Vorteile, aber in dieser Hinsicht punktet das heutige System.

David Lätsch, Professor am Institut für Kindheit, Jugend und Familie der ZHAW

«Die Einführung der KESB hat die rechtliche Position der Eltern und Kinder gestärkt.»

Und wie steht es allgemein um den Vergleich zwischen dem neuen und dem alten System?

Die Einführung der KESB hat die rechtliche Position der Eltern und Kinder gestärkt. Im alten System konnte sich die Praxis der Vormundschaftsbehörden von Gemeinde zu Gemeinde stark unterscheiden. Umgekehrt gab es viele Behörden, die sich die Entscheide aus Mangel an Fachkenntnis nicht zutrauten und sie deshalb an die sozialen Dienste delegierten. Heute haben wir interdisziplinär mit Fachleuten besetzte, meist überregional tätige Behörden, denen in den allermeisten Kantonen bewusst keine Gemeindevertreter angehören, weil man den Kindesschutz von lokalen Finanzfragen entkoppeln wollte. Diese Professionalisierung hat jedoch auch Nachteile: Im alten System kannte die Behörde die Familie und wusste, wo im Ort geeignete Hilfe zur Verfügung stand. Heute müssen die KESB ihre Distanz zur Gemeinde dadurch kompensieren, dass sie so viel lokales Wissen abholen wie möglich. Dies gelingt heute an vielen Orten bereits deutlich besser als noch in den ersten Jahren nach der Reform des Kindes- und Erwachsenenschutzrechts.

Wie die KESB entstand

Vor acht Jahren trat auf Bundesebene das neue Schweizer Kindes- und Erwachsenenschutzrecht (KESR) in Kraft und löste das alte Vormundschaftsrecht ab. 148 professionelle Kindes- und Erwachsenenschut­z­behörden (KESB) ersetzten die bei den Gemeinden angesiedelten 1414 Laien-Vormundschaftsbehörden. Diese neuen Behörden sowie die Abklärenden und Berufsbeistände, die von ihnen beauftragt werden, stehen seit 2013 immer wieder im Fokus öffentlicher Kritik und politischer Diskussionen. Mittlerweile wurden einige Anpassungen des neuen Rechts vorgenommen.

Die Vorschriften für Meldungen über Gefährdungen an die KESB wurden angepasst. Für welchen Weg hat man sich entschieden?

Bisher waren nur Lehrpersonen, Sozialdienste oder die Opferhilfe verpflichtet, Meldung zu erstatten, wenn Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung vorlagen und sie im Rahmen ihrer Tätigkeit nicht Abhilfe schaffen konnten. 2019 wurde die Meldepflicht auf Fachpersonen etwa in Kinderkrippen, Sportvereinen oder der Musikschule ausgeweitet. Zudem müssen sich Personen, die dem Berufsgeheimnis unterstehen, wie etwa Ärztinnen, Psychologen oder Hebammen, für eine Meldung nicht mehr von der Schweigepflicht entbinden lassen. Freiwillige Meldungen kann weiterhin jede Person machen, wenn die körperliche, psychische oder sexuelle Unversehrtheit eines Kindes gefährdet erscheint.

Macht jemand eine Meldung bei der KESB, muss er damit rechnen, dass die Behörde der betroffenen Familie seinen Namen nennt. Warum?

Weil es das Verfahrensrecht so vorschreibt. Wenn die KESB mitteilt, dass jemand bei Ihnen vorbeischauen wird, um abzuklären, ob Ihr Kind gefährdet ist, dann werden Sie wissen wollen, von wem dieser Verdacht stammt. Wäre Anonymität die Regel, würde es womöglich mitunter aus einem Nachbarschaftsstreit heraus zu einer Gefährdungsmeldung kommen. Entscheidend ist, dass die Behörde die meldende Person darüber informiert, dass ihr Name der betroffenen Familie im Regelfall offengelegt wird.

In besonderen Fällen sind auch anonyme Meldungen an die KESB möglich.

Wie stellt man sicher, dass sich das Umfeld dennoch traut, solche
Meldungen zu machen?

In besonderen Fällen kann die KESB davon absehen, die Herkunft der Meldung offenzulegen. Etwa wenn sie davon ausgehen muss, dass die meldende Person dadurch in Gefahr gerät. Im Ausnahmefall sind auch anonyme Meldungen möglich. Die KESB muss auch diesen nachgehen.

Wie sieht dann das weitere Vorgehen der KESB aus?

Wenn keine unmittelbare Kindeswohlgefährdung droht, die Sofortmassnahmen erfordert, leitet die KESB ein Abklärungsverfahren ein. In diesem wird geprüft, ob das Wohl des Kindes oder Jugendlichen gefährdet ist, welche Unterstützungsleistungen benötigt werden und ob es kindesschutzrechtliche Massnahmen braucht. In schwierigeren Fällen, in rund 50 Prozent der Abklärungen, übernehmen nicht die KESB, sondern spezialisierte Gutachtende von Sozialdiensten oder anderen Fachstellen diese Aufgabe. Die entsprechende Person besucht das betroffene Kind und dessen Eltern, führt getrennt Gespräche mit den Familienmitgliedern sowie – im Rahmen des Datenschutzes – mit anderen Personen wie Lehrerinnen, Ärzten, Therapeutinnen oder Gemeindebehörden. Die Ergebnisse werden in einem Bericht festgehalten. Viele Abklä­­­r­­un­­gen haben freiwillige Hilfen wie beispielsweise eine Erziehungsberatung zur Folge. Nur bei rund der Hälfte der Fälle werden zivilrechtliche Kindesschutzmassnahmen eingeleitet. Hierbei handelt es sich in circa 80 Prozent der Fälle um Beistandschaften.

Manche Experten kritisieren, dass sich die KESB in Einzelfällen für Schutzmassnahmen entscheide, ohne mit beiden Elternteilen, dem betroffenen Kind und dem verantwortlichen ­Therapeuten gesprochen zu haben. Wie kann das sein?

In einer unserer Studien zeigt sich, dass Kinder oder Jugendliche nur in der Hälfte der Fälle in die Abklärung einbezogen wurden. Dies hat nicht nur mit fachlichen Fehlern zu tun, sondern auch mit zu knapper Zeit. Zudem haben manche Abklärende Hemmungen, Kinder zu befragen, weil sie bei ihnen keinen Loyalitätskonflikt gegenüber den Eltern auslösen wollen. Der Einbezug von Kindern oder Jugendlichen darf aber keine Frage des Ob, sondern nur des Wie sein. Um Fehler zu vermeiden, gibt es mittlerweile ein interdisziplinäres Instrument, das eine vereinheitlichte, fachgerechte Abklärung ermöglicht, die dennoch den Eigenheiten jeder Familie gerecht wird.

«Fälle werden meist nur aus der subjektiven Sicht der Eltern beschrieben, da die KESB keine Stellung nehmen darf», sagt David Lätsch.

2018 forderten KESB-Kritiker in einer Volksinitiative unter anderem, dass Kinder bei Verwandten statt im Heim untergebracht werden sollten. Das Referendum scheiterte. Wann entscheidet man sich für eine Familienbegleitung und wann für eine Platzierung des Kindes?

Für eine Familienbegleitung braucht es die Zuversicht, dass die Eltern das Wohl ihres Kindes garantieren können, wenn sie in ihrer Erziehungsfähigkeit gestärkt werden. Dazu kommt eine Fachperson regelmässig in die Familie. Eine Fremdplatzierung wird nur dann als verhältnismässig beurteilt, wenn das Kind nur ausserhalb der Familie sicher ist oder es sich dort sehr viel besser entwickeln kann. Solche Entscheide trifft die KESB nicht leichtfertig. In der Regel prüft sie zunächst, ob eine freiwillige Platzierung innerhalb der Familie möglich ist. Dazu müssen die Bezugspersonen stabile Strukturen bieten können. Meist werden Platzierungen sowohl inner- als auch ausserhalb der Familie durch eine Beistandschaft unterstützt.

Eltern und Jugendliche für KESB-Studie gesucht

Wie erleben direkt Betroffene ein Kindesschutzverfahren? Die Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz sucht für ein Forschungsprojekt Kinder, Jugendliche und Eltern, die einen kurzen Fragebogen ausfüllen.

Was? Mit unserer Forschung möchten wir herausfinden, welche Erfahrungen Kinder, Jugendliche und Eltern in Kindesschutzverfahren machen. Können sie ihre Sicht einbringen? Wird ihre Meinung berücksichtigt? Sind sie zufrieden mit dem Verfahren und den Entscheidungen?

Wer? Kinder ab 10 Jahren und Jugendliche sowie Eltern, die in den letzten zwei Jahren in einem Kindesschutzverfahren bei der KESB waren.

Wichtig! Es können auch Eltern von ­jüngeren Kindern teilnehmen. Kinder, die jünger als 14 Jahre sind, informieren bitte ihre Eltern darüber, dass sie an der ­anonymen Umfrage teilnehmen.

Wie? Das Ausfüllen dauert rund zehn Minuten.

Weitere Infos: www.kindeswohlabklaerung.ch

Haben Sie Fragen? Brigitte Müller,
Institut Kinder- und Jugendhilfe, ­Hochschule für Soziale Arbeit FHNW, beantwortet sie gerne.
intapart.sozialearbeit@fhnw.ch

Wie oft kommt es zu einer Fremdplatzierung?

In rund 10 Prozent der Fälle verlieren Eltern das Aufenthaltsbestimmungsrecht für ihr Kind. Meist kommt es zu einer Platzierung in einer Pflegefamilie oder einem Heim. Dies kann eine zeitlich befristete Massnahme sein, um Druck aus der Familie zu nehmen und mit Eltern und Kind getrennt die Grundprobleme anzusehen. Falls die Rückkehr in die eigene Familie auch auf längere Sicht nicht möglich ist, wird den Eltern als letztes Mittel das Sorgerecht entzogen. Etwa dann, wenn Missbrauch oder schwere Misshandlung durch einen Elternteil vorliegt oder wenn dieser ein Suchtproblem oder eine schwere psychische Erkrankung hat, die die Erziehungsfähigkeit auf Dauer schwer beeinträchtigt.

Im Fall der Familie in Flaach führte letztlich ein Missverständnis zum tödlichen Drama. Die Mutter brachte am Neujahrstag 2015 ihre Kinder um, weil sie glaubte, dass diese bis zur Volljährigkeit im Heim bleiben ­müssten. Später nahm sie sich im Gefängnis das Leben. Wie kann ein so tragischer Fall in Zukunft verhindert werden?

Wenn es zu einer Massnahme kommt, müssen Familien verstehen, was von ihnen erwartet wird und weshalb, wie die Massnahme aussieht und was passieren muss, damit sich diese wieder erübrigt. Hierzu muss die KESB zwar bestimmte Rechtsbegriffe verwenden, doch sie sollte zusätzlich alles mündlich in Umgangssprache erklären. Die Konferenz für Kindes- und Erwachsenenschutz (KOKES) empfiehlt daher für alle verantwortlichen Fachpersonen Weiterbildungen im Bereich Kommunikation und Beziehungsgestaltung.

Jedes zehnte Kind wird im Rahmen eines KESB-Verfahrens fremdplatziert.

Wichtig für einen wirksamen Kindesschutz sind adäquate zeitliche und personelle Ressourcen. Viele KESB-Mitarbeitende, Abklärende und Beistandspersonen beklagen jedoch, dass sie Fälle nur minimal abklären respektive Betroffene zu wenig betreuen können. Zudem herrscht ein Mangel an gut qualifiziertem Personal. Wie lässt sich das verbessern?

2013 waren viele KESB zunächst überfordert, weil sich die neuen Prozesse erst einspielen mussten. Zudem waren laufende Fälle in bis zu vierstelliger Höhe von den Vormundschaftsbehörden zu übernehmen und die personellen Ressourcen hierfür vielerorts zu knapp. Mittlerweile hat sich die Situation etwas entspannt, weil die Prozesse besser etabliert und die Zuständigkeiten klarer abgegrenzt sind. Zudem wurde das Personal vieler KESB aufgestockt. Dennoch kann sicher nicht von einer generösen Ausstattung gesprochen werden. Sehr hilfreich wäre eine aktuelle Bestandsaufnahme, wie viele Fälle KESB-Mitarbeitende pro Vollzeitäquivalent zu betreuen haben und wie arbeitsaufwendig diese sind. Die Beistandspersonen betreuen bei einem 100-Prozent-Pensum gleichzeitig 70 bis 80 Mandate im Kindesschutz. Gemäss Empfehlungen der KOKES sollten es maximal 50 sein. Vermutlich ist die hohe Arbeitsbelastung ein Grund für die häufigen Personalwechsel, und diese wiederum sind eine Gefahr für die Qualität der Begleitprozesse. Denn um gegenseitiges Vertrauen aufzubauen, braucht es Zeit.

Eine Entlastungsmöglichkeit für die KESB bilden die Kinder-, Jugend- und Familienhilfen. Wie kann die Zusammenarbeit mit diesen vorgelagerten Stellen gefördert werden?

Meldungen an die KESB sind nur nötig, wenn es mit Hilfe dieser niederschwelligen, freiwilligen Beratungsstellen nicht gelingt, die Situation in einer Familie zu verbessern. Gemeinden und Kantone haben es selbst in der Hand, im Dialog gemeinsam regionale Hilfsangebote für Kinder, Jugendliche und ihre Bezugspersonen aufzubauen und zu evaluieren. Wenn sie frühzeitig in diesen Bereich investieren, können sich kostspieligere Massnahmen der KESB erübrigen.

Wo besteht ausser den Ressourcen aktuell der grösste Handlungsbedarf im Schweizer Kindesschutzsystem?

In den nächsten zehn bis zwanzig Jahren müssen wir zu einer klareren institutionellen Trennung zwischen Kindesschutz im engeren Sinn und einer wirksamen Kinder-, Jugend- und Familienhilfe im weiteren Sinn kommen. Das heisst, wir sollten darüber nachdenken, wie wir die freiwilligen Unterstützungsangebote ausgestalten und evaluieren können, ohne den Kindesschutz im engeren Sinn zu vernachlässigen. Denn bisher bringt man diesen in vielen Kantonen ausschliesslich mit dem Wirkungsbereich der KESB in Verbindung. Hinzu kommen unterschiedliche Finanzierungsmodelle.

Welche sind das?

Manche Kantone beteiligen sich an den Kosten für die Kindesschutzmassnahmen oder übernehmen sie ganz, in anderen zahlen die Gemeinden alles, teilweise ohne Lastenausgleich untereinander. Der Schutz von Kindern und Jugendlichen ist ein elementares gesellschaftliches Anliegen – ausnahmsweise eines, bei dem sich alle politischen Parteien komplett einig sind. Kindesschutz lohnt sich nicht nur ethisch, sondern auch volkswirtschaftlich, denn dadurch werden chronische Probleme der betroffenen Kinder und Jugendlichen sowie Produktivitätsverluste im Erwachsenenalter verhindert.

Yvonne Kiefer-Glomme
ist freie Journalistin, Mutter einer Tochter, 11, und lebt mit ihrer Familie im Aargau.

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