Die Ohrfeige in der Erziehung ist in der Schweiz noch zu normal - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Die Ohrfeige in der Erziehung ist in der Schweiz noch zu normal

Lesedauer: 6 Minuten

Herr Baier, Sie forschen seit Jahren in Deutschland zum Thema Gewalt in der Familie, nun haben sie eine breit angelegte Studie in der Schweiz durchgeführt. Was hat Sie überrascht?

Zum einen: Gewalt gilt hier noch immer als normaler Bestandteil der Erziehung. Nur einer von drei Jugendlichen gab an, dass er als Kind in der Familie keine Form von Gewalt erlebt habe. In Deutschland sagten dies in einer vergleichbaren Untersuchung zwei von drei Jugendlichen. Der zweite überraschende Befund: Die Unterschiede zwischen Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund sind enorm: Es gibt Gruppen, die eine vier- bis fünfmal so hohe innerfamiliäre Gewaltquote aufweisen. 

Wie erklären Sie sich den grossen Unterschied zu unserem Nachbarland?

Erst einmal: Wir haben auch positive Formen von Erziehung untersucht, das Mass an Zuwendung zum Beispiel, d.h. die elterliche Bereitschaft zu trösten. Hier ist die Schweiz genauso gut aufgestellt wie Deutschland. Aber es hat sich gezeigt, dass in der Schweizer Erziehungskultur häufiger auf leichte Formen der Gewalt wie Ohrfeigen zurückgegriffen wird. Man muss aber festhalten, dass es auch in Deutschland viele Familien gibt, die prügeln. Und dass es in der Schweiz viele Familien gibt, die nicht auf Gewalt setzen. Eine abschliessende Antwort haben wir noch nicht. Eine Rolle mag spielen, dass in Deutschland – im Gegensatz zur Schweiz – seit dem Jahr 2000 die elterliche Züchtigung verboten ist.
Prof. Dr. Dirk Baier ist Soziologe und Leiter des Instituts für Delinquenz und Kriminalprävention an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften ZHAW. Seine Forschungsschwerpunkte sind Jugendkriminalität, Gewaltkriminalität und Extremismus. Dirk Baier ist Vater einer Tochter und lebt mit seiner Familie in Mellingen AG.
Prof. Dr. Dirk Baier ist Soziologe und Leiter des Instituts für Delinquenz und Kriminalprävention an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften ZHAW. Seine Forschungsschwerpunkte sind Jugendkriminalität, Gewaltkriminalität und Extremismus. Dirk Baier ist Vater einer Tochter und lebt mit seiner Familie in Mellingen AG.

Der Satz «Eine Ohrfeige hat noch keinem geschadet» gilt in der Schweiz noch immer?

Ja. Dem stimmen natürlich nicht alle zu – aber nach wie vor ein grosser Teil der Bevölkerung.

Warum ist der Satz falsch?

Eine Ohrfeige geht nicht spurlos an an einem Kind vorüber. Damit wird ein Vertrauensverhältnis zerstört: Das Vertrauen in die Eltern, aber auch in die Welt als sicherer Ort.

Allein durch eine Ohrfeige?

Natürlich macht es einen Unterschied, ob ein Kind regelmässig oder selten geschlagen wird und ob es sich um Züchtigungen oder schwere Gewalt handelt. Hat das Kind schwere Gewalt erlebt, ist es zum Beispiel wahrscheinlicher, dass es später selbst gewalttätig wird. Aber auch zwischen den Vergleichsgruppen «Keine Gewalt erlebt» und «Züchtigungen erlebt» – eben die berühmte Ohrfeige – sehen wir deutliche Unterschiede. Die Forschung zeigt klar: Jede Form von körperlicher Gewalt richtet Schaden an.

Ist die Ohrfeige die verbreitetste Form der Gewaltausübung in der Erziehung in der Schweiz?

Ja, am meisten Jugendliche gaben an, Ohrfeigen erhalten zu haben. Relativ viele gaben an, «hart angepackt» oder «gestossen» worden zu sein. Am seltensten kommt schwere Gewalt vor wie Verprügeln oder Schlagen mit Gegenständen.

Sie haben auch Unterschiede bezüglich der Herkunft erwähnt. Dabei handelt es sich um eine politisch umstrittene Kategorie – warum haben Sie diese in die Studie miteinbezogen?

Die kulturelle Vielfalt ist etwas, das die moderne Gesellschaft definiert. Und ich glaube, dass Erkenntnisse in diesem Bereich helfen können, Probleme anzugehen.
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Welche Erkenntnisse haben Sie gewonnen?

Schwere Gewalt als Teil der Erziehung ist bei Jugendlichen aus dem südostasiatischen, dem südosteuropäischen und dem afrikanischen Raum deutlich häufiger. Ich erkläre mir das im Wesentlichen mit unterschiedlichen Auffassungen, wie Erziehung aussehen soll. Es handelt sich um Kulturen, in denen patriarchale Familienstrukturen noch häufiger sind.

Was bedeutet das?

Der Mann ist das Oberhaupt der Familie, der sich auch mit Gewalt durchsetzt. Nicht, weil er Spass am Prügeln hat, sondern weil ihm alternative Sanktionsmöglichkeiten fehlen, um dem Kind zu zeigen, dass etwas nicht in Ordnung war. Diese Vorstellungen bestehen seit Jahrhunderten. Und sie sind falsch: Einsicht kann man nicht einprügeln.

Aufgrund Ihrer Studie könnte man den Eindruck bekommen, dass Gewalt in der Familie in der Schweiz heute ein Ausländerproblem ist. 

Das wäre in doppelter Hinsicht falsch. Erstens: Wir stellen fest, dass nach wie vor in jeder zehnten einheimischen Familie ohne Migrationshintergrund schwere Gewalt in der Erziehung angewendet wird. Zweitens sind Züchtigungen wie erwähnt auch bei einer Mehrheit der einheimischen Familien Teil der Erziehungskultur sind. Insgesamt sind die innerfamiliären Gewaltraten bei der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund niedriger – aber noch immer viel zu hoch.

Je religiöser eine Familie ist, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit von Gewalt in der Erziehung – das gilt unabhängig von der Religion.

Laut ihrer Studie wenden Migrantenfamilien in der Schweiz deutlich häufiger Gewalt an als Migrantenfamilien in Deutschland. Warum?

In Deutschland hat es immer wieder Initiativen gegeben, um die Erkenntnis zu verbreiten, dass Prügeln schädlich ist und nicht in die Erziehung gehört. Es wurde auch bewusst versucht, dieses Wissen in die Migrantencommunitys zu bringen: Es gab Flyer auf Türkisch, Artikel in der Deutschlandausgabe der türkischen Zeitung Hürriyet. In der Schweiz besteht hier Nachholbedarf. Ich erinnere mich an die Wortmeldung eines Mannes mit türkischem Hintergrund nach einem Vortrag, den ich zum Thema gehalten habe. Er sagte, dass es nach seiner Zuwanderung in die Schweiz lange gedauert hat, bis er zum ersten Mal hörte, dass Schlagen hier verpönt ist.

Auch Kinderschutz Schweiz hat erkannt, dass in der Schweiz Gewalt in der Erziehung noch zu normal ist. Und hat die Kinder gebeten, Vorschläge für Alternativen zur Gewalt zu machen. Eine bewegende Kampagne.

Wie kann man nun die Erkenntnisse nutzen, um das Problem anzugehen?

Es klingt vielleicht banal, aber ein erster Ansatz ist die Sensibilisierung von Personen, die täglich mit Kindern und Jugendlichen in Kontakt sind, also Lehrerinnen und Erzieher. Ich würde da nicht so sehr einzelne Herkunftsländer in den Fokus stellen, lieber grössere Regionen: Asien, Osteuropa, Afrika. Kinder und Jugendliche aus Familien mit dieser Herkunft sind einem höheren Gewaltrisiko ausgesetzt. Und dies kann dazu führen, dass sie sich in der Schule auffällig verhalten oder ihre Schulleistungen schlechter sind. 

Sehen Sie weitere Ansätze?

Ein zweiter Punkt ist, dass man vermehrt nach den Hintergründen fragt: Sind die Eltern hohen Belastungen ausgesetzt? Haben sie traumatische Erlebnisse gehabt in ihrer Kindheit, auf der Flucht? Wäre es hilfreich, den Eltern psychologische Unterstützung anzubieten? 

Sie haben in der Studie einen weiteren interessanten Zusammenhang gefunden: Je religiöser eine Familie, desto häufiger ist schwere Gewalt. Wie erklären Sie sich das?

Dieser Zusammenhang zeigt sich unabhängig von Religionszugehörigkeit und Migrationshintergrund. Für mich hat das mit Konservatismus zu tun: Je stärker die Religiosität, desto eher besteht auch ein konservatives Weltbild, was die Beziehung zwischen Eltern und Kindern angeht. Das ist ja das Verrückte an der Sache: Das Schlechte, also die Gewalt, wird eingesetzt, um das Gute zu bewirken. Eltern möchten die Kinder damit auf einen guten Weg bringen. Diesen Zusammenhang findet man allgemein in konservativen Milieus. Nur funktioniert das schlicht nicht.

Dass Eltern mit der Gewalt Gutes bewirken wollen, ist ein Widerspruch, denn Kinder nicht auflösen können.

Was funktioniert stattdessen?

Reden, reden, reden. Erziehung ist nichts, was von heute auf morgen passiert, es ist ein Prozess. Ich sehe das bei meiner eigenen Tochter: Irgendwann stellt man plötzlich freudestrahlend fest, dass etwas funktioniert hat. Mit Prügeln verschafft man sich keinen Respekt, sondern man zerstört das Vertrauen in die eigene Autorität. Dass man mit dem Schlechten das Gute bewirken will, ist ein Widerspruch, den Kinder nicht auflösen können. 

Was sind die konkreten Folgen von Gewaltanwendung in der Erziehung?

Die neurologische Forschung hat gezeigt: Im Gehirn werden durch Gewalt die Areale geschädigt, in welchen die Selbstkontrolle und das Empathievermögen sitzen. Dazu kommt die Angst, die betroffene Kinder erleben: Gewalt erzeugt ein sehr starkes Stresserleben, das verhindert, dass man in Konfliktsituationen alternative Verhaltensweisen erkennen kann. Und die elterliche Gewalt ist eine Ohnmachtserfahrung, die das Selbstwertgefühl des Kindes zerstört.

Gilt die Formel: Wer von seinen Eltern geschlagen wurde, schlägt auch seine Kinder?

Glücklicherweise gilt das nicht zu hundert Prozent. Man sieht, dass der Anteil von Gewalt in der Erziehung von Generation zu Generation kleiner wird. Trotzdem ist an der Aussage etwas dran: Menschen, die in der Erziehung Gewalt erlebt haben, greifen nachweislich häufiger selber darauf zurück.

Werden Buben häufiger geschlagen als Mädchen?

Wir haben in unserer Auswertung in Bezug auf die Gewalterfahrung praktisch keine Geschlechterunterschiede festgestellt. Aus anderen Studien weiss man jedoch: Mütter schlagen eher ihre Töchter, Väter ihre Söhne.

Sie haben es eingangs erwähnt: In der Schweiz gibt es – im Gegensatz zu Deutschland – noch kein Züchtigungsverbot. Warum?

In der Schweiz ist man immer noch sehr zurückhaltend, was eine Einmischung der Politik in die Familie angeht. Aber ich glaube, auch hierzulande gibt es Veränderungen: Die Gründung der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde KESB zum Beispiel. Ich nehme allgemein eine gestiegene Bereitschaft einzugreifen wahr, wenn ein Kind unter der Situation in der Familie leidet. 

Wie wichtig ist ein solches Verbot? Gewaltausübung an Kindern ist ja schon heute verboten.

Sehr wichtig: Studien in Ländern mit Züchtigungsverbot zeigen, dass von dem Gesetz eine starke Signalwirkung ausgeht. Dem wird sich auch die Schweiz nicht mehr länger entziehen können. Ich denke, es wird noch ein paar Jahre dauern, bis einige ältere Nationalräte durch jüngere, aufgeschlossenere ersetzt sein werden, die das Wissen einbringen: Gewalt in der Erziehung ist überholt.

Zwei von drei Jugendlichen erleben zu Hause Züchtigung

Prof. Dirk Baier und sein Team von der Zürcher Hochschule der Angewandten Wissenschaften ZHAW untersuchten die Folgen elterlicher Gewalt in der Erziehung in der Schweiz und befragten dazu rund 8300 Schülerinnen und Schüler von Berufsmittelschulen, Gymnasien und anderen Schulen der Oberstufe in verschiedenen Kantonen in allen Landesteilen der Schweiz. 

Die wichtigsten Ergebnisse der Studie zu Gewalt in Familien in der Schweiz:

  • 62,1 Prozent der Jugendlichen haben Züchtigung erlebt (Ohrfeige oder hartes Anpacken bzw. Stossen). Ohrfeigen haben 53.7 Prozent der Jugendlichen erhalten. 8.7 Prozent sagen, sie haben häufig Züchtigungen erlebt.
  • 22 Prozent der Befragten haben in ihrer Erziehung schwere Gewalt erlebt, 5 Prozent von ihnen häufig. Am häufigsten gaben die Jugendlichen an, mit einem Gegenstand geschlagen worden zu sein.
  • 32.1 Prozent der Jugendlichen mit Migrationshintergrund gaben an, schwere elterliche Gewalt erlebt zu haben, bei den Jugendlichen ohne Migrationshintergrund waren es 10.9 Prozent.
  • Bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund Sri Lanka gaben 50.3 Prozent an, schwere Gewalt erlebt zu haben. Bei Brasilien waren es 45.5 Prozent, Kosovo 40.7 Prozent, Portugal 36.7 Prozent, Türkei 26.2 Prozent und Frankreich 20.4 Prozent.

Die Studie ist hier einsehbar. Darin finden sich weitere Zusammenhänge wie etwa der, dass in der Stadt mehr Gewalt angewendet wird als auf dem Land sowie Vergleichszahlen zu den Verhältnissen in Deutschland.

Bild: Fotolia


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