«Zwänge beeinträchtigen das Familienleben enorm»
Zwänge, die «heimliche Erkrankung», führt bei betroffenen Kindern und Jugendlichen oft zu Scham. Warum eine frühe Diagnose wichtig ist und wie eine Therapie den Leidensdruck der Familie mindern kann, erklärt Jugendpsychiaterin Susanne Walitza am 1. Oktober im Kosmos-Kind-Vortrag «Was tun, wenn mein Kind Tics und Zwänge hat?».
Frau Walitza, wie kann ich bei meinem Kind, das sich häufig die Hände wäscht, erkennen, ob es sich um eine Angewohnheit handelt oder bereits um eine Zwangssymptomatik? Und an wen kann ich mich wenden?
Der Unterschied zwischen liebgewonnenen Angewohnheiten, Ritualen und Zwangssymptomen ist, dass das Kind unter den Zwängen leidet, während die Rituale ein Gefühl der Geborgenheit und Sicherheit auslösen können oder zumindest kein Leiden verursachen.
Tatsächlich leiden auch schon Kinder stark unter den Zwangssymptomen, da sie aufgrund der Zwänge Entwicklungsschritte nicht vollziehen können: Sie sind zum Beispiel nicht in der Lage, sich anzuziehen, aufzuhören, bestimmte Gedanken zu wiederholen oder in den Kindergarten respektive in die Schule zu gehen. Kinderärztinnen und Kinderärzte können die erste Untersuchung sowie ein Screening durchführen. Für eine ausführliche Abklärung sollte man Experten beiziehen – also Psychiaterinnen und Psychiater sowie Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten für das Kinder- und Jugendalter.
Zwänge und auch Tics können schon früh im Kindesalter beginnen. Was weiss man über die Ursachen?
Zwangsstörungen und Tics sind zwar zwei unterschiedliche Störungsbilder, sie kommen aber sehr häufig gemeinsam vor und gleichen sich in der Symptomatik. Bei den Zwangsstörungen spielen genetische Vulnerabilität und Umweltbedingungen eine etwa gleich grosse Rolle. Das bedeutet: Zwänge sind vererbbar und können durch Stress ausgelöst werden. Das Verhalten der Eltern kann auch einen Einfluss haben: Manchen fällt es schwer, sich von den Zwangssymptomen zu distanzieren, und sie kaufen zum Beispiel bei einem Waschzwang sehr viel Seife ein.
Bei den Ticstörungen, die neu als primär neurologische Störungen aufgefasst werden, ist die genetische Veranlagung sehr ausgeprägt. Tics können mit zunehmendem Alter abnehmen. Ob Zwänge und Tics durch Infektionen ausgelöst werden können, wird seit Jahren kontrovers diskutiert. Wichtig ist bei beiden Störungen, dass sie behandelt werden.
Dass betroffene Kinder möglichst früh diagnostiziert werden und eine passende Therapie erhalten, ist Ihnen ein sehr wichtiges Anliegen. Warum?
Weil beide Störungen, Zwänge und Tics, extrem belastend für Kinder, Jugendliche und ihre Familien sein können. Bei Zwangsstörungen besteht die Tendenz einer ständigen Verschlechterung, wenn nicht behandelt wird. Je früher man sie erkennt und therapiert, umso besser ist die Prognose. Ich kenne einige Familien, bei denen der Alltag der Zwangsstörung eines betroffenen Familienmitgliedes komplett untergeordnet ist. Bei Ticstörungen sollte man einschätzen, wie hoch der Leidensdruck der Betroffenen ist. Hier kann man gegebenenfalls sorgsam beobachten, zuwarten und auf die Bedürfnisse des betroffenen Kindes eingehen.
Spannende wissenschaftliche Hintergründe und Empfehlungen zu diesem Thema bietet der «Kosmos Kind»-Vortrag «Was tun, wenn mein Kind Tics und Zwänge hat?» von Prof. Dr. Susanne Walitza am 01. Oktober 2024, 18.30 Uhr, in der Stiftung. Für das Kind. Giedion Risch, Falkenstrasse 26, Zürich.
Tickets unter: www.fuerdaskind.ch/vortragszyklus
Abonnentinnen und Abonnenten von Fritz+Fränzi erhalten eine Ermässigung von 50 Prozent mit dem Promocode kosmoskind-24.
Die Stiftung Elternsein, Herausgeberin des Schweizer ElternMagazins Fritz+Fränzi, hat mit der «Akademie. Für das Kind. Giedion Risch» den exklusiven Vortragszyklus «Kosmos Kind» lanciert. Ausgewiesene Expertinnen und Experten greifen unterschiedliche Aspekte der Kindheit auf und vermitteln diese alltagsnah und verständlich.