«Nachts gamt mein Sohn, tagsüber schläft er»
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«Nachts gamt mein Sohn, tagsüber schläft er»

Lesedauer: 4 Minuten

Ein Vater meldet sich telefonisch beim Elternnotruf, weil sein Sohn seit über einem halben Jahr nicht arbeitet, den ganzen Tag zu Hause ist und das Familienleben belastet.

Aufgezeichnet von Matthias Gysel
Bild: Adobe Stock

Vater: Guten Tag, ich würde gerne anonym bleiben. Ich bin Vater eines bald 18-jährigen Sohnes. Ich fühle mich hilflos.

Berater: Guten Tag. Sie sagen, dass Sie sich hilflos fühlen. Was macht Sie hilflos?

Vater: Mein Sohn hat seine zweijährige Lehre im August letzten Jahres abgeschlossen. Der Ausbildungsbetrieb konnte ihn nicht übernehmen. Seitdem ist er zu Hause. Nachts gamt er und tagsüber schläft er. Es ist kaum auszuhalten. Meine Frau und ich wissen nicht mehr weiter. Unser Sohn bestimmt unseren familiären Alltag. Es war für mich schwierig, den Elternnotruf zu kontaktieren.

Berater: Ich finde es anerkennenswert, dass Sie angerufen haben, und ich kann gut nachvollziehen, dass die Situation sehr belastend ist.

Ich fühle Wut und Verzweiflung. Was gibt meinem Sohn das Recht, sich so zu verhalten?

Vater

Vater: Weil er bald volljährig ist, fallen viele Unterstützungsangebote vermutlich weg. Wir hören immer wieder: «Stellt ihn doch vor die Tür, damit er lernt, Verantwortung zu übernehmen.» Wir schaffen es nicht, unser Kind auf die Strasse zu schicken. Was können wir tun, damit unser Sohn sein Verhalten ändert?

Berater: Welche Gefühle melden sich bei Ihnen, wenn Sie über Ihren Sohn reden?

Vater: Wut und Verzweiflung. Was gibt ihm das Recht, sich so zu verhalten? Ich fühle mich ihm ausgeliefert. Ich bin gerade dem Weinen nahe.

Berater: Ihre Gefühle dürfen sein. Man kann sie nicht ausschalten. Es ist gut, dass diese sich melden.

Vater: Es hilft, dies von Ihnen zu hören. Meine starken Gefühle machen mir Angst. Es geht doch um meinen Sohn, den ich liebe und für den ich da sein will. Durch sein Benehmen schafft er eine emotionale Distanz, die ich nicht möchte.

Berater: Ich kann verstehen, dass diese Gefühle Angst machen. Es kann hilfreich sein, wenn man ihnen nicht völlig ausgeliefert ist und es einem gelingt, etwas Kontrolle über sie zu gewinnen. Gerade in eskalativen Situationen.

Sie können versuchen, Ihre Aufmerksamkeit neu auszurichten. Gibt es nicht doch Momente mit Ihrem Sohn, die gut sind?

Berater Elternnotruf

Vater: Wir Eltern haben so vieles versucht. Wir haben ihm Angebote gemacht, für ihn Arbeitsstellen recherchiert, ihn gefragt, was er braucht und was ihm helfen könnte. Er reagiert genervt und ablehnend. Er zieht sich in sein Zimmer zurück. Ich habe das Gefühl, sein Verhalten wird immer schlimmer und wir als Eltern werden immer hilfloser. Wir haben ihn motiviert, therapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Er verweigert sie. Und wir können für ihn ja keinen Termin abmachen. Wenn ich mit Ihnen darüber rede, fühle ich wieder diese Hilflosigkeit.

Berater: Das Gefühl von ausgeliefert und ohne Wahlmöglichkeiten zu sein kommt auch jetzt auf, wenn wir miteinander reden?

Vater: Ja genau.

Berater: Ich möchte eine Unterscheidung treffen zwischen Ihren starken Gefühlen, mit denen Sie konfrontiert sind, und dem schwierigen Verhalten Ihres Sohnes, das sich nicht sofort verändern lässt. Sind Sie einverstanden, dass wir in unserem Gespräch Ihre Situation als Vater anschauen?

Vater: Gerne!

Berater: Wenn es Ihnen gelingt, in herausfordernden Situationen mehr mit sich im Kontakt zu sein, kann das helfen, einen inneren Druck zu vermindern und Ihre Gefühle zu beruhigen. Dadurch erhalten Sie andere Wahl- und Entscheidungsmöglichkeiten. Ich sage nicht, dass das Problem damit gelöst ist. Wenn Sie aber wieder mehr bei sich sein können, fühlen Sie sich weniger ausgeliefert, was für Sie stärkend wirken kann. Sie erleben sich aktiver und reagieren nicht mehr nur auf Situationen mit Ihrem Sohn.

Vater: Das wäre schön.

Berater: Die wiederholten Auseinandersetzungen und Eskalationen mit Ihrem Sohn stehen in Ihrem Erleben stark im Vordergrund. Die Wahrnehmung positiver Momente mit ihm rückt dabei in den Hintergrund. Es kann helfen, zu schauen, ob Sie Ihre Aufmerksamkeit neu ausrichten können: auf Begegnungen mit Ihrem Sohn, die gut sind.

Es erfordert etwas Beharrlichkeit, bis erste Veränderungen möglich sind.

Berater Elternnotruf

Vater: Ich habe das Gefühl, dass ich mit meinem Sohn keine guten Momente mehr erlebe. Wenn ich nach Hause komme, erwarte ich bereits den nächsten Streit mit ihm. Es ist, als ob wir in einem engen Muster gefangen wären.

Berater: Gerade dann ist es sinnvoll, das Muster zu unterbrechen, indem Sie mehr bei sich sind, Ihre Gefühle wahrnehmen und so einen ersten kleinen Unterbruch in die eingespielten Interaktionen machen. Diese Lücke kann bereits etwas an Ihrer Wahrnehmung verändern.

Vater: Das klingt interessant.

Berater: Es erfordert etwas Beharrlichkeit, bis erste Veränderungen möglich sind. Sie können versuchen, Ihre Aufmerksamkeit ganz bewusst neu auszurichten. Richten Sie diese auf Situationen und Erlebnisse mit Ihrem Sohn, die schön und gut sind. Gibt es nicht doch noch welche?

Vater: Wenn ich genauer darüber nachdenke, fällt mir doch noch eine positive Situation ein, und zwar, wenn wir am Wochenende zusammen Schach spielen. Dann sind wir ruhig und konzentriert und können über gute Dinge reden. Ich spüre gerade, dass sich meine Gefühle für meinen Sohn bei diesen Worten etwas verändern.

Berater: Das ist ein erster Schritt. Dieser kann Ihre emotionale Einstellung auch in einer herausfordernden Situation ändern. Und er verringert die emotionale Distanz zu Ihrem Sohn etwas.

Vater: Das fühlt sich gut an. Aber mein Sohn hat sein Verhalten damit noch nicht verändert. Ich wünsche mir, dass er sein Leben aktiv gestaltet und arbeiten geht.

Berater: Bei diesem Anspruch und dieser Haltung sollen Sie auch bleiben. Ein nächster Schritt kann sein, anzuschauen, welche Veränderungen Sie von Ihrem Sohn ganz konkret wünschen. Ich denke, es kann hilfreich sein, das weitere Vorgehen mit Ihnen in einer Beratung bei uns vor Ort anzuschauen. Wenn Sie es wünschen, können wir das Gespräch, das Sie zu einem späteren Zeitpunkt mit Ihrem Sohn führen werden, zusammen vorbereiten.

Vater: Vielen Dank für Ihre Anregungen und Ihren Vorschlag. Ich werde mir darüber Gedanken machen und es mit meiner Frau besprechen. Für einen Beratungstermin werde ich mich bei Ihnen melden.

Berater: Gerne. Ich wünsche Ihnen viel Kraft und alles Gute.

Elternnotruf

Bei Themen rund um den Familien- und Erziehungsalltag ist der Verein Elternnotruf seit 40 Jahren für Eltern, Angehörige und Fachpersonen eine wichtige Anlaufstelle – sieben Tage die Woche, rund um die Uhr. Die Beratungen finden telefonisch, per Mail oder vor Ort statt. www.elternnotruf.ch 

An dieser Stelle berichten die Berater aus ihrem Arbeitsalltag.

Matthias_Gysel

Matthias Gysel
ist Sozialarbeiter, Coach und Berater beim Elternnotruf. Er ist Vater von zwei erwachsenen Söhnen.

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