«Eltern brauchen viel Vertrauen. In sich selbst. Und in das Leben»
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«Eltern brauchen viel Vertrauen. In sich selbst. Und in das Leben»

Lesedauer: 11 Minuten

Viele Eltern wollen ihre Kinder bedürfnisorientiert erziehen und erfüllen dabei vor allem deren Wünsche, sagt die Pädagogin Inke Hummel. Als Ursache dafür sieht die Ratgeberautorin eine Konfliktscheue, die aus der eigenen Kindheit rührt.

Interview: Evelin Hartmann
Bilder: Jasper Bastian

Frau Hummel, was verstehen Sie unter bedürfnisorientierter Erziehung?

Für mich bedeutet bedürfnisorientierte Erziehung, die körperlichen und psychischen Bedürfnisse aller Beteiligten – das heisst der Kinder, der Eltern, aber auch des sozialen Umfeldes – im Blick zu haben. Damit meine ich Hunger, ausreichend Schlaf, emotionale Nähe und so weiter. Das muss nicht immer perfekt laufen. Es reicht, wenn die Bedürfnisse aller ausreichend gut beachtet werden.

Und was heisst es nicht?

Bedürfnisorientierung heisst nicht, dass wir jederzeit konfliktfrei miteinander leben. Es braucht viel lösungsorientierte Konfliktführung, damit man alle Bedürfnisse beachten und irgendwie unter einen Hut bringen kann. Es heisst auch nicht, dass sich die Eltern komplett hintanstellen sollen. Oft wird es in den Medien so dargestellt, als ob nur die kindlichen Bedürfnisse im Zentrum stehen.

Inke Hummel ist Pädagogin, Autorin und dreifache Teenagermutter aus Bonn. Sie berät Eltern beziehungsorientiert zu allen Themen von Babyschlaf bis jugendlicher Schulunlust und arbeitet in Fortbildungen mit Fachkräften aus Kitas und Schulen. Ihr Buch «Nicht zu streng, nicht zu eng» ist 2022 «Spiegel»-Bestseller geworden. Zuletzt ist ihr Ratgeber «Miteinander durch die Grundschulzeit» erschienen.

Angenommen, der Erstklässler kommt von der Schule nach Hause und will eine Glace zum Mittagessen. Sofort! Er tobt und schreit, kann ein Nein nicht akzeptieren. Wie reagieren Eltern in einer solchen Situation bedürfnisorientiert?

Erst einmal gilt es, das Bedürfnis des Kindes hinter diesem Wunsch zu erkennen. Denn oft werden Wunsch und Bedürfnis verwechselt beziehungsweise gleichgesetzt. Vielleicht geht es dem Jungen darum, nach einem anstrengenden Vormittag, an dem er sich anpassen und eingliedern musste, selbst zu bestimmen und ein gutes Gefühl zu haben.

Also sollte er die Glace bekommen?

Das kommt darauf an, wie der Vater beziehungsweise die Mutter dazu stehen. Hat er oder sie die Erfahrung gemacht, dass das Kind sein Mittagessen nach der Süssigkeit trotzdem isst? Oder eher nicht? Und wie wichtig ist es ihnen, dass es die selbst zubereitete Mahlzeit isst? Es kommt auf ihre innere Haltung an und ob sie die Ressourcen haben, das Bedürfnis des Kindes anders zu befriedigen.

Wie zum Beispiel?

Indem er oder sie sich in dieser Situation Zeit nimmt, das Kind tröstet, vielleicht zusammen mit ihm ein Buch anschaut, die Wut aushält. Ein anderes Beispiel: Viele Kinder verlangen abends nach Mama. Das Bedürfnis des Kindes ist, nicht allein zu sein, wenn es einschläft, weil das Loslassen des Tages so anspruchsvoll ist. Der Wunsch ist aber Mama. Wenn der Vater eine genauso enge Bezugsperson ist, kann er dieses Bedürfnis nach Geborgenheit erfüllen. Natürlich kann es dann Tränen geben, aber Papa ist in der Lage, diese Gefühle aufzufangen. Das Grundbedürfnis des Kindes wird beachtet.

Welche Voraussetzung muss erfüllt sein, damit Eltern die Bedürfnisse hinter dem kindlichen Verhalten erkennen können – und nicht nur die Wünsche?

Mütter und Väter sollten sich ein Basiswissen über die kindliche Entwicklung aneignen, um besser einschätzen zu können, was ihr Kind in welchem Alter leisten kann und was noch nicht. Und sie sollten die Bereitschaft mitbringen, sich auf ihr Kind einzulassen, ihm zuzuhören, es in den verschiedensten Situationen zu beobachten, um eine Vorstellung davon zu bekommen: Wer ist mein Kind und was braucht es?

Viele Eltern wollen heute eine solche Beziehung zu ihrem Kind aufbauen. Trotzdem fällt es ihnen in manchen Situationen schwer, konsequent zu sein. Weil auch sie einen langen Tag hatten oder weitere Kinder ihre Aufmerksamkeit wollen.

Das ist absolut verständlich. Es geht auch nicht darum, immer hundertprozentig konsequent zu sein. Ich finde es wichtig, dass wir für unsere Kinder berechenbar sind. Das heisst aber nicht, dass meine Entscheidung jedes Mal gleich ausfallen muss. Ich höre dem Kind in meiner zugewandten Art zu, formuliere meine Gedanken und Gefühle und erkläre, warum ich etwas so entscheide – und warum ich es ein anderes Mal vielleicht anders entschieden habe. Das macht mich berechenbar und authentisch.

Wurde die heutige Elterngeneration anders erzogen?

Das kann man so pauschal nicht sagen. In vielen Familien war es so, dass Kinder nicht gehört wurden, das ist richtig. Die Erwachsenen gaben die Richtung vor und die Kinder hatten sich zu fügen. Es gab aber auch vor 40 Jahren Kinder, die sehr frei waren, vielleicht freier, als es ihnen gutgetan hat.

Verwöhnen ist etwas Schönes, aber wenn es zu häufig vorkommt, kann es ungut werden.

Viele Pädagoginnen und Pädagogen – ich bin eine von ihnen – versuchen heute einen Mittelweg aufzuzeigen, bei dem die Eltern klar und präsent sind, sich auf das Wesen des Kindes einlassen und seine Bedürfnisse im Blick haben.

Sie sprechen von dem beziehungsorientierten Erziehungsstil, den Sie in Ihrem Buch «Nicht zu streng und nicht zu eng» beschreiben. Was genau verstehen Sie unter zu streng?

Eben eine autoritäre Grundhaltung, bei der Kinder viele Vorgaben bekommen und vor allem in ihrem Wesen nicht gesehen und nicht angehört werden. Ihre Bedürfnisse werden missachtet. Zum Glück gehen die wenigsten Eltern heute diesen Weg. Dass Eltern zu nah beim Kind sind, beobachte ich hingegen öfter.

Was meinen Sie damit?

Dass die Kinder zu sehr behütet sind, ihnen zu viel abgenommen wird. Dass ich dem Kind vermeintlich etwas Gutes tun will und es – im schlechtesten Fall – damit aber in seiner Entwicklung bremse. Oder dass Wünsche mit Bedürfnissen gleichgesetzt und immer oder mehrheitlich erfüllt werden. Dieser Umgang mit den Kindern wirkt sehr liebevoll, aber man nimmt ihnen etwas weg, nämlich den Raum, Fehler zu machen und daraus zu lernen, wie sie es besser machen könnten.

Wie erklären Sie sich dieses Verhalten der Eltern?

Das hat etwas mit Konfliktscheue zu tun. Es ist herausfordernd, wenn ich mich für etwas entschieden habe, aber mein Kind das anders sieht und sehr gefühlsstark reagiert. Es fällt vielen Eltern schwer, eine Missstimmung auszuhalten, die nicht nach ein paar Minuten wieder vorüber ist.

Warum ist das so?

Viele haben diese Konfliktfähigkeit von ihren Eltern nicht gelernt, weil Konflikte nicht konstruktiv ausgetragen wurden. Entweder bekamen sie als Kind klare Vorgaben, oder Probleme und Meinungsverschiedenheiten wurden vermieden beziehungsweise unter den Teppich gekehrt.

Dadurch lernt man nicht, sich konstruktiv mit anderen auseinanderzusetzen, Missstimmungen auszuhalten. Gefühle wie «Mein Kind hat mich nicht mehr lieb, wenn ich jetzt aufs Zähneputzen bestehe» lassen sie Auseinandersetzungen vermeiden und sie in eine Überfürsorglichkeit rutschen. Verwöhnen ist erst einmal etwas Schönes, aber wenn es zu häufig vorkommt und aus den eben erwähnten Gründen, kann es ein ungutes Verwöhnen werden.

Woher weiss ich, dass ich als Mutter oder Vater zu fürsorglich bin?

Ein wichtiges Indiz ist, wenn Eltern immer wieder über ihre Ressourcen gehen. An einem Kleinkind kann man das besonders gut veranschaulichen: Wenn die dreijährige Tochter ständig jammert, dass sie nicht laufen will, und mein Rücken vom vielen Tragen schon kaputt geht, überschreite ich meine Kapazitäten und verwöhne das Kind ungut. Ich schade mir selbst und stehe gleichzeitig der Entwicklung meines Kindes im Weg.

In der Regel wird es nicht besser, wenn die Eltern zwei Stunden lang alles daransetzen, dass das Kind morgens fröhlich das Haus verlässt.

Wie kann ich eine Treppe erklimmen? Wie auf einen Baum klettern? Diese Fertigkeiten kann das Mädchen nicht üben. Wenn das mal vorkommt, ist es kein Problem, wenn ich mich aber ständig so verhalte, geht es in eine Überfürsorglichkeit, die sich schädlich auswirken kann.

Wie können Eltern an ihrem Verhalten etwas ändern?

Ich bin ein Fan davon, regelmässig innezuhalten und zu schauen: Haben wir ein Thema, das permanent anstrengend ist? Dieses legen wir jetzt mal auf den Tisch und schauen es von oben an, anstatt zu versuchen, es von Tag zu Tag aufs Neue zu handhaben. In einem zweiten Schritt schaue ich mir an, welche Möglichkeiten ich überhaupt habe, etwas zu ändern. Oft ist mein Spielraum ja gar nicht so gross.

Eltern sollten für ihr Kind vor allem berechenbar sein, meint Bestsellerautorin Inke Hummel.

In den meisten Familien ist der frühe Schulstart ein Thema. Das Kind mag zwar die Lehrerin und die Schulgspänli, aber nicht das Aufstehen und Paratmachen.

Vielleicht fühlt sich das Kind in seinem Autonomiegefühl eingeschränkt: Es möchte selbst entscheiden, wann es in den Tag startet. Das wäre der Blick aus der Vogelperspektive. In einem zweiten Schritt könnten die Eltern überlegen, an welcher anderen Stelle sie dieses Bedürfnis nach Autonomie stattdessen erfüllen können. Zum Beispiel, indem sie die Zeit nach Schulschluss freihalten und das Kind selbst entscheiden lassen, wie es diese gestaltet. Wenn sie das für sich klar haben und umsetzen, wissen sie: Unser Kind fühlt sich grundsätzlich gut aufgehoben und wir können ihm zumuten, dass es morgens sein Bedürfnis ein wenig zurückschraubt.

Und dann?

Dann können Sie überlegen, wie der Morgen gestaltet werden kann, damit dem Kind der Start in den Tag leichter fällt. In der Regel wird es nicht besser, wenn die Eltern zwei Stunden lang alles daransetzen, dass das Kind fröhlich das Haus verlässt. Meiner Erfahrung nach wird es für alle leichter, wenn die Eltern eine kurze Zeit sehr zugewandt, aber auch bestimmt auftreten und das Kind dann losgeht.

Beim Thema Schule mag das leichtfallen, da den Eltern keine andere Wahl bleibt. Es gibt aber andere Bereiche, in denen es nicht so eindeutig ist. Viele Kinder beginnen beispielsweise motiviert mit einem Hobby wie Fussball oder Ballett, haben dann aber nach wenigen Monaten keine Lust mehr, zum Training zu gehen. Wie verhalte ich mich?

Das kommt darauf an. Eltern sollten diese Unlust hinterfragen und schauen, ob es tatsächlich etwas gibt, warum sich das Kind in diesem Kurs oder Training unwohl fühlt – und dieses Gefühl ernst nehmen. Aber meistens ist es ja eher diese Schwelle, dieser Übergang, der dem Kind Mühe macht. Gerade hat es noch gespielt, jetzt soll es sich fürs Training parat machen und losgehen. Das fällt vielen Kindern schwer.

Es wird grundsätzlich unterschätzt, dass die Zeit mit den Kindern auch Arbeitszeit ist.

Diesem kindlichen Insistieren gleich nachzugeben, ist keine gute Lösung. Vielmehr würde ich in einem solchen Fall mit meinem Kind besprechen, was ihm den Aufbruch erleichtern würde. Beispielsweise ein Freund, der es jeweils zum Training abholt. Aber auch hier lohnt sich der Schritt zurück beziehungsweise der Blick aus der Vogelperspektive.

Inwiefern?

Ich bin immer bemüht, zu vermitteln, wie wichtig es ist, den Fokus auf das Kind und die eigene Familie zu richten. Es ist nicht so, dass jedes Kind ein sportliches Hobby braucht. Die Frage sollte lauten: Was tut meinem Kind gut? Ist es schön für meinen Sohn oder meine Tochter, wenn er oder sie Mitglied dieses Teams ist? Dann sollte ich es anmelden und motivieren, dranzubleiben

Buchtipps

Inke Hummel: Nicht zu streng, nicht zu eng. Dein sicherer Weg zwischen Schimpfen und falschem Verwöhnen.
Humboldt 2022, 200 Seiten, ca. 30 Fr.

Inke Hummel: Miteinander durch die Grundschulzeit. Beziehung stärken & gelassen begleiten. So schafft dein Kind den Schulalltag.
Humboldt 2023, 224 Seiten, ca. 37 Fr.

Oder braucht mein Kind nach einem langen Schul- beziehungsweise Horttag erst einmal Zeit für sich? Stattdessen schauen viele Eltern zu sehr darauf, wie es die anderen machen, was Experten empfehlen. Doch der individuelle Blick aufs Kind ist wichtig: Was braucht es und wie können wir als Familie das leisten und begleiten?

Sie sprechen immer wieder die elterlichen Ressourcen an.

Es wird grundsätzlich unterschätzt, dass die Zeit mit den Kindern auch Arbeitszeit ist. Wenn ich meine Kinder bedürfnisorientiert begleiten will, muss ich ganz viel Regulationsarbeit leisten, ganz viel wahrnehmen und mitschwingen. Das ist unfassbar anstrengend, wenn ich schon vier, sechs oder sogar acht Stunden Erwerbsarbeit hinter mir habe.

Nehmen Eltern ihrem Kind zu viel ab, kann es keine Fehler machen, sagt die Pädagogin.

Viele Eltern verfügen nicht über das Netz aus Oma und Opa, die gleich nebenan wohnen, sondern machen es zu zweit oder allein. Das ist herausfordernd. Und bei vielen berufstätigen Müttern spielen auch Schuldgefühle mit hinein. Nachdem man aus dem Büro kommt und das Kind aus der Betreuung, hätte man abends endlich Zeit füreinander, doch alle sind müde und gestresst.

Was macht man dann?

Oft hilft der professionelle Blick von aussen: Wie geht es euch gerade? Gibt es einen Grund für ein Schuldgefühl? Wo könnte die Beziehung zum Kind besser gestaltet werden? Was würde dabei helfen? Meist geht es gar nicht um mehr gemeinsame Zeit, sondern um die Innigkeit in den gemeinsamen Momenten.

Elternschaft ist immer anspruchsvoll und fordernd. Man gibt ein Stück Selbstbestimmung auf. Aber man sollte zur Einstellung kommen, dass die Betreuung der Kinder auf mehr als nur zwei Schultern verteilt werden muss. Selbstfürsorge ist ein grosses Thema. Erst wenn ich auch meine eigenen Bedürfnisse im Blick habe, gut zu mir schaue, kann ich die Bedürfnisse der anderen ausreichend befriedigen.

Was macht man, wenn die eigenen Kapazitäten nicht reichen und man im Familienalltag Dinge nicht durchsetzen kann, die einem eigentlich wichtig sind?

Noch einmal: Es geht nicht darum, alle Bedürfnisse immer gleich gut im Blick zu haben. Mal stehen die Kinder im Fokus, manchmal der Partner und dann wieder ich selbst. Wichtig ist nur, dass sich alle gesehen und wertgeschätzt fühlen. Darüber hinaus lohnt es sich, Dinge, die uns beschäftigen oder unzufrieden machen, in einer Art Familienkonferenz regelmässig anzusprechen. Das ist auch ein Gefäss, in dem sich die Geschwister untereinander sagen können, wie sie die Dinge sehen. Oft ist das wirksamer, als wenn Mama oder Papa immer wieder damit kommen.

Es geht darum, Raum für Fehler zu lassen, für die Erkenntnis: Das ist jetzt blöd gelaufen.

In vielen Familien sind die Hausaufgaben und das Lernen für Tests ein Konfliktfeld. Wie besprechen Eltern mit ihrem Kind, dass es mehr für die Schule tun sollte?

Erst einmal müssen Eltern für sich selbst klären: Wie ist meine Haltung zu dem Thema? Halte ich aus, wenn es nicht so gut läuft, oder eher nicht? Wenn sie das für sich geklärt haben, können sie dem Kind sagen: «Ich möchte dir helfen und ich glaube, du brauchst diese Hilfe. Deshalb gibt es diese Regel bei uns.»

Doch wenn das Kind immer nur dagegenredet und die Eltern gar nicht versteht, gilt es auch sein Bedürfnis zu beachten: «Also gut, wir geben dir diese Freiheit und schauen, wie es läuft. Wenn du das gut schaffst, ist es okay. Wenn nicht, müssen wir wieder eingreifen.» Wie könnte das dann aussehen? Es geht darum, Raum für Fehler zu lassen, für die Erkenntnis: Das ist jetzt blöd gelaufen, wie können wir es anders machen?

Was lernen Kinder dabei?

Sie lernen, dass sie gesehen werden, dass sie die Möglichkeit haben, mitzubestimmen. Und dass sie in der Lage sind, aus ihrer eigenen Motivation und Anstrengung heraus etwas zu schaffen oder auch nicht zu schaffen. Dass alle aufeinander achtgeben und dass, wenn es anders läuft, sie die Möglichkeit haben, auch wieder etwas zu verändern. Bei uns galt beispielsweise die Regel, dass unsere Kinder ihr eigenes Handy selbstbestimmt nutzen können – solange die Schule, Freunde, Hobbys und die Mithilfe im Haushalt nicht darunter litten.

Ging das gut?

Bei unserem Grossen ja, bei unserem Mittleren nicht. Der konnte abends nicht abschalten, weil im Klassenchat auch nachts um 3 Uhr noch etwas passierte. Also musste er das Gerät zu einer bestimmten Zeit abgeben. Nach etwa einem halben Jahr wollte er es wieder allein probieren. Eine Zeitlang ging das gut, dann wurde es schwieriger, und wir haben die Regel wieder eingeführt – bis er einen weiteren Versuch starten wollte. Mit 17 hat er für sich entschieden, alle Apps, die ihm die Konzentration erschweren, zu deinstallieren.

Welche elterliche Haltung braucht es dafür?

Ganz viel Vertrauen. In sich selbst, in die Kinder und in das Leben: Es wird schon gutgehen! Elterliche Ängste sind an vielen Stellen ein grosses Thema. Die Angst vor der Zukunft, die Angst, Fehler zu machen in der Erziehung, die einem später auf die Füsse fallen.

Und die Angst vor dem Bösen im Kind.

Genau. Dieses Vertrauen ist ein wichtiger Aspekt in der beziehungsorientierten Erziehung. Ich möchte aber auch betonen, dass es mir nicht nur um die Bedürfnisse von Eltern und Kindern geht, sondern auch um die des sozialen Umfeldes. Darüber haben wir noch nicht gesprochen. Also nicht nur: Was braucht mein wildes Kind, um in der Klasse zurechtzukommen? Sondern auch: Was braucht die Klasse? Die Bedürfnisorientierung hört nicht an der eigenen Haustür auf, sondern sollte als gesellschaftliche Aufgabe begriffen werden.

Evelin Hartmann
ist stellvertretende Chefredaktorin von Fritz+Fränzi. Sie wohnt mit ihrem Mann und den zwei Töchtern in Luzern.

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