Kinder: «Hallo? So was kannst du echt nicht sagen!»
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«Hallo? So was kannst du echt nicht sagen!»

Lesedauer: 4 Minuten

Wenn Kinder in die Rolle der Sprachpolizei schlüpfen und ihre Eltern für deren Wortwahl kritisieren, ist der Ärger vorprogrammiert. Doch nicht nur in der Familie, auch unter den Jugendlichen stellt der heutige Zeitgeist eine grosse Herausforderung dar.

Text: Thomas Feibel
Illustration: Petra Duvkova / Die Illustratoren

In meinem Leben wurde mir schon viel unterstellt. Ich sei frauenfeindlich, antifeministisch, homophob und xenophob. Auch vor Bodyshaming würde ich nicht zurückschrecken. Diese Anwürfe stammen meistens von Menschen, die mich eigentlich besonders gut kennen sollten: meinen Kindern. Für mich kommen diese Vorhaltungen aus heiterem Himmel, zum Beispiel wenn sich unsere Familie über einen Film unterhält.

«Hallo?», unterbricht mich ­meine Tochter jäh, «das ist rassistisch!» Während ich noch rekapituliere, was ich gerade Inkorrektes gesagt haben könnte, weist sie mich weiter zurecht. «So was kannst du echt nicht sagen. Es heisst heute POC. Das steht für People of Color!» Ich weiss, was POC bedeutet, denke ich grimmig und spüre, wie langsam die Wut in mir hochsteigt. Ihr überheblicher Tonfall stört mich, und natürlich ärgere ich mich über die unfaire Beschuldigung. Reflexartig möchte ich mich verteidigen, schliesslich bin ich kein Rassist. Anstatt mich aufzuregen, atme ich erst mal tief durch.

An einem Austausch sind meine Kinder nicht interessiert. Jeder meiner Sätze prallt an ihrer granitharten Überzeugung ab.

Im Grunde finde ich es völlig richtig, wenn mich meine Kinder korrigieren und auf eine sensiblere Sprache hinweisen. Zwar halte ich mich für liberal, tolerant und weltoffen, trotzdem kann es passieren, dass mir auch mal unbewusst ein alltagsrassistischer Satz herausrutscht. Schliesslich sind wir Eltern in einer anderen Zeit und anders sozialisiert aufgewachsen. 

Kinder gendern mit grosser Selbstverständlichkeit

In den vergangenen Jahrzehnten hat jedoch ein starker Wandel in unserer Gesellschaft stattgefunden. Werte wie soziale Gerechtigkeit und Gleichberechtigung sind deutlich stärker in den Fokus des öffentlichen Bewusstseins gerückt wie auch die Akzeptanz der Vielfalt. Internet und soziale Netzwerke haben diese Entwicklung noch verstärkt. Und genau diesen Wandel erlebt die junge Generation hautnah. Sie gendert mit lässiger Selbstverständlichkeit, hinterfragt unsere alltäglichen Äusserungen und nimmt sich das Recht heraus, Diskriminierungen und andere Ressentiments direkt anzusprechen. Wo ist also das Problem?

Wie andere Eltern so bin auch ich schnell genervt, wenn ­meine Kinder in die Rolle der Sprachpolizei schlüpfen. Damit vermitteln sie mir das Gefühl, zum alten Eisen zu gehören und den Anschluss an die Moderne verloren zu haben. Wie soll man sich zudem nicht angegriffen fühlen, wenn die Vorhaltungen mit starker Vehemenz und Gnadenlosigkeit vorgetragen werden? Ich möchte wenigstens in eine Diskussion eintreten. Nur klingt jedes Wort von mir wie eine Rechtfertigung.

Ausserdem sind meine Kinder an einem Austausch überhaupt nicht interessiert. Jeder meiner Sätze prallt an ihrer granitharten Überzeugung ab, die keinerlei Widerspruch zulässt. Nur hat das dann nichts mehr mit dem ursprünglichen Thema zu tun, sondern mit dem gegenwärtigen Zeitgeist und der Pubertät.

Kann sich nicht jeder Erwach­sene noch an die politischen Auseinandersetzungen mit den eigenen Eltern erinnern? Wir warfen ihnen üble Dinge an den Kopf – mit der klaren Botschaft, dass sie keine Ahnung hätten und junge Menschen einfach besser und klüger seien. An dieser juvenilen Hybris und diesem Idealismus hat sich auch im Digitalzeitalter nichts geändert. Kinder und Jugendliche müssen sich bekanntlich auf dem Weg zur eigenen Identität an ihren Eltern abarbeiten und sich von ihnen abgrenzen. Dabei stossen sie bei der Causa «Sprachpolizei» ohnehin schon auf genügend Schwierigkeiten.

Politisch aufgeladene Begriffe

Es ist nichts daran verkehrt, wenn sich Kinder und Jugendliche für mehr Gerechtigkeit, Diversität und gegen Diskriminierung einsetzen. Doch heute sind diese Felder bereits als grosse Reizthemen in der Politik besetzt. Begriffe wie «Gender» oder «Trans» gehören längst zu populistischen Kampfparolen mancher Parteien. Nach deren Deutung sind Klimaaktivisten «Terroristen» und Gerechtigkeit ist eine «Ideologie».

Aus der Woke-Bewegung etwa, die sich gegen Formen der Diskriminierung wendet, wird die Legende der linksextremistischen Hirnwäsche gestrickt. Auch die «Sprachpolizei» erlebt ihre Umdeutung zu einem staatlich verordneten Denk- und Redeverbot («Man darf heute gar nichts mehr sagen»).

Das Schwarz-Weiss-Denken schwappt aus dem Internet ins reale Leben der Jugendlichen und macht sie regelrecht fertig.

Doch alle diese Beispiele haben eines gemeinsam: Damit werden Empathie und Engagement der Jugendlichen rücksichtslos diskreditiert. Aber auch die Verbissenheit mancher Antirassistinnen und Aktivisten spielt bestimmten politischen Kräften in die Hände. Es ist doch schwierig, Sympathie für die gute Sache aufzubringen, wenn mit Begriffen wie «Cancel Culture» oder «kultureller Aneignung» und den anschliessenden Boykottrufen und Schmähungen in sozialen Netzwerken der Boden eines Diskurses verlassen wird. 

So schwappen jetzt das Schwarz-Weiss-Denken und die Verplattung der Diskussionskultur, die bekanntlich im Netz vorherrschen, bedauerlicherweise auch ins reale Leben junger Menschen über und machen diese regelrecht fertig.

Haltung bewahren ist wichtig

Tatsächlich fangen Kinder und Jugendliche jetzt an, sich wegen ­solcher Themen gegenseitig zu zerfleischen. Bei meinen Workshops wurde mir in letzter Zeit von einigen Vorfällen berichtet. 

  • Eine etwa 15-jährige Schülerin sagte: «Mein bester Freund ist schwul, aber jetzt sagt er, dass er mit mir als weisser Cis-Frau überhaupt nicht mehr über seine Nöte reden könne.»
  • Ein Junge erzählte von einem engen Freund mit Migrationshintergrund, der sich inzwischen vollkommen von ihm abgewandt habe. «Er hat sich total radikalisiert», meinte er, «und hält mich für privilegiert.»
  • In einer anderen Schule brach die Freundschaft eines Trios aus­einander. Zwei der drei Freunde hatten sich als Trans und bise­xuell geoutet. Der dritte Junge hatte damit zwar kein Problem, wurde dann aber, weil er sich nicht positionieren wollte, schnell als homophob abgestempelt.

Beim Thema Vielfalt gibt es viele Fallen und Missverständnisse. Vielfalt ist eben nicht die Vielfalt einer geschlossenen Gruppe, sondern die «Anerkennung der Vielfalt nach aussen, auf die Talente und Leis­tungen aller Gruppen», wie es vor knapp 30 Jahren der streitbare US-Medienwissenschaftler Neil Postman formulierte.

Was lernen wir daraus? Es gibt keine klaren Lösungen. Und manchen Erziehenden fällt es schwer, bei verbalen und provokativen Attacken ihrer Kinder ruhig zu bleiben. Dabei ist es besonders wichtig, stets die nötige Haltung zu bewahren, weil sie den Kindern und Jugendlichen in ihren Entwicklungs- und Orientierungsphasen Sicherheit und Stabilität bietet. Ausserdem geht es auch um Augenmass. Gendern zum Beispiel hat seine Berechtigung, der kleinliche Streit allerdings um die schriftliche Umsetzung eher nicht. Und auch beim Thema Vielfalt bleibt der gesunde Menschenverstand weiterhin ein guter Kompass.

Thomas Feibel
ist einer der führenden ­Journalisten zum Thema «Kinder und neue Medien» im deutschsprachigen Raum. Der Medienexperte leitet das Büro für Kindermedien in Berlin, hält Lesungen und Vorträge, veranstaltet Workshops und Seminare. Zuletzt erschien sein Elternratgeber «Jetzt pack doch mal das Handy weg» im Ullstein-Verlag. Feibel ist verheiratet und Vater von vier Kindern.

Alle Artikel von Thomas Feibel

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