«Lose yourself» oder Tschüss mit Eminem
Merken
Drucken

«Lose yourself» oder Tschüss mit Eminem

Lesedauer: 4 Minuten

Dies ist die letzte Kolumne von Michèle Binswanger für Fritz+Fränzi. Das Loslassen fällt ihr nicht leicht. Dennoch tun wir gut daran, das Loslassen fortwährend zu üben, schreibt sie. Nur so können wir fliegen.

Text: Michèle Binswanger
Illustration: Petra Dufkova / Die Illustratoren

Loslassen ist kein besonders grosses Wort. Nicht so wie Liebe. Oder Heimat. Oder Abschied. In diesen Worten donnern Bedeutungen und Kontexte gegeneinander wie Entladungen einer Gewitterzelle. 

Loslassen dagegen tönt leicht, durchlässig, wie Sand, der durch eine Öffnung rieselt. Und loslassen, das muss ich jetzt. Denn dies ist meine letzte Kolumne für dieses Magazin. Und die letzte als sogenannte Mamabloggerin, als die ich meine Karriere startete. Diese Karriere befinde sich nun im Spätherbst, sagte mir neulich ein Kollege, und meine Kinder sind auch fast erwachsen. Es wird also langsam Zeit zum Loslassen. Mit Betonung auf langsam, denn das ist ein Prozess. Meistens jedenfalls.

Umso wichtiger ist mir dieser letzte Text, für den ich sogar einen Soundtrack ausgesucht habe: «Lose yourself» von Eminem. Sie erinnern sich an das berühmte Intro:

If you had one shot or one opportunity
To seize everything, you ever wanted in one moment
Would you capture it?
Or just let it slip?

Die Chance seines Lebens zu packen, vielleicht die einzige – so stürzte ich mich damals in meine neue Rolle als Mamabloggerin. Endlich zeigen zu können, was man kann, auch wenn man gar nicht sicher ist, ob man es kann, aber alles zu versuchen, dass es gelingt. Und ja, in diesem Moment wird die Welt eins und man verliert sich darin. Es sind diese Momente, die ich auch meinen Kindern wünsche, jetzt, da sie erwachsen sind. Ihre Momente zu finden, sie zu packen, sich darin zu verlieren.

Schwieriges Loslassen

Erfolg ist ein unsicheres Konzept, hat mir mein Sohn erklärt. Im Scheitern liege hingegen die Chance, etwas zu lernen. Er musste darüber einen Aufsatz schreiben, fand das Thema aber schwierig. Und er hat recht, Erfolge sind flüchtig. Trotzdem kann man nur scheitern, wenn man nach etwas strebt. Manchmal ist Loslassen leicht, erleichternd gar. Etwa wenn man Dinge entsorgt. Man dachte immer, man brauche sie noch, aber es fehlt nichts, wenn sie weg sind. Aber das ist nicht immer so. Manchmal ist es auch beängstigend und schwierig, loszulassen. Wenn man sich an das klammert, als hinge man über einem Abgrund.

You better lose yourself in the music
The moment, you own it, you better never let it go

Loslassen ist eine Übung, die man als Mutter zwangsläufig lernt. Wer erinnert sich nicht an jene erste Nacht mit dem Neugeborenen, den Moment, da das kleine Wesen lautstarke Forderungen stellt. Und während du dich noch im sich wie Tetris zusammensetzenden Wachbewusstsein zu orientieren versuchst, empört über dieses skandalöse Geschrei mitten in der Nacht, realisierst du plötzlich: Das ist mein Kind, meine Verantwortung, mein neues Leben. Das alte ist vorbei.

Snap back to reality, oh there goes gravity
Oh, there goes Rabbit, he choked
He’s so mad, but he won’t give up that easy? No

Wer erst mal die Verantwortung für Kinder, eine Familie übernommen hat, für den spielt die Suche nach der grossen, lebenserschütternden einen Chance meist keine grosse Rolle mehr. Man hat schlicht keine Zeit mehr dafür und keine Energie und erinnert sich im Übrigen auch kaum mehr daran, was man mit einer solchen Chance wollte. Back to Reality, hier gibt es keinen Platz für Träume. Du lässt sie besser los.

Wer nicht loslässt, wird nie herausfinden, ob er fliegen kann. Denn das ist jetzt das Thema, wenn die Kinder in die Welt hinausgehen.

Es zählen die vielen kleinen Dinge

Man kann es aber auch anders sehen. Mit einem Kind ist es nicht mehr die eine, alles verändernde Chance, die zählt. Sondern es sind die vielen kleinen Dinge, die man jeden Tag tut, die Blicke und Berührungen, das Lachen, Singen, Trösten, Erklären. Die Liebe, mit der man Kinder düngt, um sie gross und stark zu machen. Und ich glaube daran, dass alle ihr Bestes versuchen. Auch wenn man am Ende nie alle Chancen packt. Und vieles falsch macht, immer wieder scheitert. In jenen bangen Momenten des Elternseins, in denen man an seiner Fähigkeit und Eignung für diesen Job zweifelt, quält nicht wenige diese Frage: Ob das Verhältnis zwischen Gelingen und Misslingen akzeptabel ausgefallen ist. Ob die Bilanz positiv ist.

Eltern lernen zwangsläufig, loszulassen. Die Kinder wachsen stetig, und sobald man sich an etwas gewöhnt hat, ist wieder alles anders. Da ist zum Beispiel die Sache mit dem warmen, weichen, manchmal feuchten Händchen, das eine Zeit lang immer die grosse Hand suchte, wie von einem unsichtbaren Magneten geführt. Und eines Tages, meist um den Einschulungstermin herum, entzieht sich dieses Händchen plötzlich der grossen Hand, oft mit einem verschämten Blick über die Strasse, weil dort Freunde stehen, die nicht sehen sollen, dass da noch eine Mutter dranhängt. Auch dann heisst es loslassen, die Hand, aber auch die Zeit, als man für das Kind noch die einzig relevante Grösse war.

Es ist ein guter Lebensgrundsatz, Entscheidungen nicht aus Angst zu treffen.

Und so geht es weiter. Zuerst wird das Händchen entzogen, irgendwann das ganze Kind, oder eher das halbwüchsige. Dieser Halbwüchsige findet nun alles und vor allem die Mutter peinlich, mag Fragen nicht mehr beantworten, sondern verdreht stattdessen mit gespieltem Ennui die Augen. In dieser Zeit wäre Loslassen manchmal tatsächlich einfacher. Auch von sich selbst, beziehungsweise der Mutter, die man geworden ist, nachdem das alte Ich im Nebel der Zeit entschwand. Genau dann fällt es jedoch umso schwerer. Man stellt sich einen Abgrund vor und klammert.

Es ist ein guter Lebensgrundsatz, Entscheidungen nicht aus Angst zu treffen. Und wer nicht loslässt, der wird nie herausfinden, ob er fliegen kann. Denn das ist jetzt das Thema, wenn die Kinder in die Welt hinausgehen, um ihre eigenen Chancen zu entdecken. Und einen allein mit der Frage zurücklassen: Und wer bin ich jetzt? Was kommt als Nächstes? Aber waren nicht all die Anstrengungen genau dafür gedacht? Dass die Kleinen dich nicht mehr brauchen, auf eigenen Beinen stehen?

You better lose yourself in the music
The moment, you own it, you better never let it go

Meine Kinder sind jetzt gross, das ist meine letzte Kolumne an diesem Platz und ich würde lügen, wenn ich sagte, es falle mir leicht, sie loszulassen. Aber ich weiss, dass ich fliegen kann. Und ich flattere gerne wieder vorbei, in ein paar Jahren, wenn es an diesem Platz vielleicht mal eine Grossmutterkolumne braucht. Und ich werde die Chance packen.

Michèle Binswanger
Die studierte Philosophin ist Journalistin und Buchautorin. Sie schreibt zu Gesellschaftsthemen, ist Mutter zweier Kinder und lebt in Basel.

Alle Artikel von Michèle Binswanger

Mehr zum Thema Loslassen

Loslassen: Dossier Interview mit Joëlle Gut
Erziehung
«Überbehütete Kinder sind in ihrer Autonomie blockiert»
Psychotherapeutin Joëlle Gut über Eltern, die sich schwertun mit Loslassen und ihren Kindern mehr Verantwortung zu übertragen.
Advertorial
Der Klang der Quellen – Rätselweg für die ganze Familie
Erleben Sie die Mineralquellen in Scuol auf einzigartige Weise. Der Wanderweg «Klang der Quellen» bietet Spass für Gross und Klein.
Thema Loslassen: Vater und Tochter umarmen sich. Sie lacht.
Erziehung
Loslassen verändert sich je nach Entwicklungsphase
Eltern müssen sich mit dem Kind mitentwickeln und ihm einerseits Sicherheit, Halt und andererseits Freiheit und Vertrauen zu schenken.
Elternblog
Die Suche nach einer stressfreien Pünktlichkeit
Unsere Kolumnistin fragt sich, wie sich Pünktlichkeit und trödelnde Kinder kombinieren lassen, ohne laut zu werden.
Familie Vowles kam vor 17 Jahren von Kanada in die Schweiz
Entwicklung
«Uns war wichtig, dass unsere Kinder für sich selbst denken»
Familie Vowles blickt darauf zurück, wie sich das Loslassen für sie angefühlt hat. Auch bei ihrem Umzug von Kanada in die Schweiz.
Brustkrebs, Loslassen: Familie Ulrich
Familienleben
«Nach der Krebsdiagnose musste ich alles loslassen»
Durch ihren Brustkrebs musste Janna Ulrich damit rechnen, ihre Kinder nicht aufwachsen zu sehen. Umso gestärkter kehrte sie ins Leben zurück.
Dossier Loslassen: Familie Andreoli
Erziehung
«Im Alltag fällt mir das Loslassen nicht immer leicht»
Loslassen hat viel mit Vertrauen zu tun, sagt Yolanda Andreoli. Absprachen und Kompromisse geben der Familie Sicherheit.
Loslassen: Eine Mutter rennt fröhlich mit ihren zwei Kindern.
Erziehung
Loslassen und Kindern Flügel geben
Loslassen ist der unausweichliche Lauf der Dinge und wesentlich für die Entwicklung des Kindes – und doch oft alles andere als einfach.
Wie Loslassen gelingt: Mutter und Tochter umarmen sich
Fritz+Fränzi
Loslassen: Unser Thema im September
Kinder brauchen eine starke Bindung – und streben nach Autonomie. Wie es Eltern gelingt, sie durch dieses Spannungsfeld zu begleiten.
Loslassen: Ein Vater bringt Tochter Velofahren bei und ist dabei loszulassen, damit sie allein fährt.
Erziehung
«Beim Loslassen geht es um das richtige Gespür»
Sich als Eltern zurückzunehmen und die Kinder machen zu lassen, ist oft nicht leicht: drei Situationen und wie Expertinnen damit umgehen würden.
«Jedes Kind reagiert auf den Eintritt anders»
Entwicklung
Kindergarten: «Jedes Kind reagiert anders auf den Eintritt»
Der Übergang in den Kindergarten ist ein grosser Schritt. Diesen bewältigt jedes Kind in seinem Tempo und durchläuft verschiedene Phasen.
Schule wir kommen
Kindergarten
Schule – wir kommen!
Mütter und Väter spielen beim Übertritt in die erste Klasse eine wichtige ­Rolle. So können Sie Ihr Kind ­achtsam dabei begleiten.
Elternblog
Wie die Geburt, so der Gang ins Erwachsenenleben?
Der Abnabelungsprozess mit dem volljährigen Sohn unserer Redaktorin weist erstaunliche Parallelen zu seiner Geburt auf.
Erziehung
«Wir gehen mit unseren Ängsten bewusst und konstruktiv um»
Julie und Stefan Balmer teilen sich Job und Hausarbeit. Nebst Ängsten um die Zukunft ihres Kindes macht ihnen das Thema Loslassen Sorgen.
Erziehung
Wie viel Elternangst ist normal?
Die Evolution hat uns mit Sorge um unsere Kinder ausgestattet. Wie findet man einen guten Umgang mit den Elternängsten?
Elternbildung
So lernt Ihr Kind Verantwortung zu übernehmen
Mit der Zeit sollte Verantwortung Schritt für Schritt von den Eltern aufs Kind übergehen. Wie Mütter und Väter diesen Balanceakt meistern.
Michele-Binswanger-Kolumne-Mutter-Kinder-Teenager
Elternblog
Meine Tochter ist weg und hinterlässt ein Loch
Die Tochter von Michèle Binswanger ist ausgezogen. Unsere Kolumnistin dachte, sie würde es cooler nehmen und erzählt, was es mit ihr macht.
5. Klasse
Elternblog
Die 5. Klasse ist weniger schlimm, als Sie denken
Fritz+Fränzi-Redaktorin Maria Ryser über die Veränderungen in der Mittelstufe und wie sich Eltern selbst den Schuldruck nehmen können.
Elternbildung
«Wir sollten Kindern etwas zutrauen»
Gwendolyn Nicholas und Nico Lopez Lorio liessen ihre Söhne schon mit acht allein im ÖV durch die Stadt fahren. Heute ist auch die fünfjährige Tochter oft dabei.
Elternbildung
«Ich dachte, ich würde es locker nehmen»
Simone Steiner und Paolo Bogni waren als Kinder früh selbständig. Umso mehr erstaunt beide, dass ihnen Loslassen als Eltern oft schwerfällt.
Elternblog
«Das Glück reist mit»: Wie Loslassen Leichtigkeit bringt
Im vierten Teil unserer Familien-Reiseserie wird materiell und emotional entrümpelt und die Autorin verrät, was ihr unterwegs wirklich fehlt.
Elternbildung
Die Eigenverantwortung beim Kind fördern
Eltern sollten ihren Kindern ermöglichen, persönliche Verantwortung zu übernehmen. Sie dürfen sie damit aber nicht allein lassen.
Wenn Kinder das Elternhaus verlassen, ist das für Mütter und Väter auch eine Chance, sagt Psychotherapeutin Pasqualina Perrig-Chiello.
Entwicklung
Wenn Kinder flügge werden – Chance für Eltern
Entwicklungspsychologin Pasqualina Perrig-Chiello kennt die Gefühle von Eltern, wenn die Kinder flügge werden
Allan Guggenbühl: «Kinder brauchen ein gesundes Mass an Vernachlässigung»
Familienleben
«Kinder brauchen ein gesundes Mass an Vernachlässigung»
Heutige Eltern blenden Widrigkeiten des Lebens lieber aus, als ihre Kinder darauf vorzubereiten, sagt Jugendexperte Allan Guggenbühl.
Die sechsjährige Lina hat Krebs: Wie geht die Familie mit dem Verlust um?
Familienleben
«Mami, wie ist es im Himmel?»
Lina ist mit sechs Jahren an Krebs gestorben. Ihre Mutter erzählt, wie die Familie das Kind in den Tod begleitete und mit dem Verlust umgeht.