Ein Käfer auf Interrail
Flieg, Engelchen, flieg! Oder steig wahlweise auch gerne in den Zug. Die Tochter unserer Autorin Michèle Binswanger reist mit Interrail durch Europa.
Da stand sie nun an der Tür mit ihrem gigantischen Rucksack und machte sich Richtung Bahnhof davon. Von hinten sah es aus, als ginge ein Krabbeltier auf Interrail und nicht meine 17-jährige Tochter. Ein metaphorisches Bild, die Tochter, die alles schultert, was sie für die Freiheit braucht – zwei Wochen sind es jetzt noch, bald ein ganzes Leben.
Ich war immer eine grosse Loslasserin: Die Tochter geht zur Schule? Toll! Sie hat ihren eigenen Freundeskreis? Super! Sie geht in den Ausgang? Ich vertraue ihr. Aber die Adoleszenz hat in der Reihe dieser Entwicklungsschritte eine besondere Bedeutung. Mädchen werden zu Frauen und lösen sich von ihren Müttern. So die Idee.
Bekannt ist aber auch, dass die Adoleszenz gerade für Mädchen die Zeit ist, da sie nicht nur ihre kindliche Unschuld verlieren. Sondern auch einen Grossteil ihres Selbstwertgefühls. Während sie vormals noch Pilotinnen, Tierärztinnen oder Naturforscherinnen werden wollten, denken sie plötzlich, sie seien unfähig dazu. Weil sie meinen, zu dick dazu zu sein oder glauben, zu wenig schöne Haare zu haben oder sich ungeliebt fühlen.
Solange sie sich nicht meldet, muss ich davon ausgehen, dass alles gut ist.
Warum? Es ist eine Zeit, in der sich alles verändert. Neue Schule, neue Freunde, neue Anforderungen, neuer Körper, neue Rolle in der Gesellschaft. Und als wäre das nicht bereits anspruchsvoll genug, kommt heute noch der Druck sozialer Medien dazu: Gut aussehen, tolle Dinge unternehmen, Freunde haben war schon immer das Ziel Pubertierender.
Durch die sozialen Medien ist der Erfolg darin vermeintlich messbar: Wer hat wie viele Freunde, wer bekommt wie viele Likes? Zahlreiche Studien deuten darauf hin, dass der Druck zugenommen hat und insbesondere Mädchen unsicher macht.
Loslassen, ohne zu gluggern
Was können Mütter tun? Idealerweise unterstützen sie, ohne dadurch neue Probleme zu kreieren. Aber so einfach ist das nicht. Natürlich kann man der Tochter versichern, dass sie keineswegs dick sei, sondern schön und klug – aber auch das kann negative Effekte haben. Die Tochter könnte sich unverstanden fühlen – oder verstehen, dass Aussehen eben doch eminent wichtig ist. Ich versuche zu tun, was Experten empfehlen: präsent sein und zuhören, ohne sich allzu sehr einzumischen, gesprächsbereit sein, aber nur dann intervenieren, wenn man gefragt wird.
Meine Tochter soll ihre eigenen Erfahrungen machen, unbeschwert und ohne digitale Nachforschungen der Mutter.
Und so sitze ich da mit dem Handy in der Hand und betrachte die Insta-Fotos von der Reise meiner Tochter, immer versucht, mich per Whatsapp zu melden: Seid ihr angekommen? Wie ist die Unterkunft? Was macht ihr? Braucht ihr Tipps? Aber ich tippe nichts von alledem. Ich will ihr meine mütterliche Sorge nicht aufbürden.
Solange sie sich nicht meldet, muss ich davon ausgehen, dass alles gut ist. Sie soll ihre eigenen Erfahrungen machen, unbeschwert und ohne digitale Nachforschungen der Mutter. Und so stelle ich mir vor, wie mein kleiner Tochterkäfer durch Europa krabbelt und hoffentlich ganz viele tolle Erfahrungen macht und freue mich, sie nach zwei Wochen wieder in Empfang nehmen zu dürfen.