Meine Tochter ist weg und hinterlässt ein Loch

Die Tochter von Michèle Binswanger ist ausgezogen. Unsere Kolumnistin dachte, sie würde es cooler nehmen und erzählt, was es mit ihr macht.
Es war ein Planungsfehler, der sich nicht mehr ändern liess, oder besser noch: ein Zufall. Mein Urlaub war schon gebucht, als meine Tochter mir eröffnete, dass sie ausziehen werde. Und zwar während meiner Abwesenheit. Ich schluckte kurz leer, sagte mir aber, dass man das jetzt nicht mehr ändern könne.
Und dann kam ich nach meinen Ferien zurück in die Wohnung, und sie war tatsächlich weg. Das heisst, einiges hatte sie dagelassen, alles, wofür sie gerade keine Verwendung hat. In ihrem Zimmer lagen noch Bücher, Schachteln, Bilder.
Sie hinterlässt ein Loch in der Form des Kindes, das sie mal war.
Ich schlenderte durch das leere Zimmer und versuchte, tapfer zu sein. Am Türrahmen sind noch die Striche, die ihr Wachstum vom Kleinkind übers Schulkind bis zum Teenager anzeigen, fast ihr ganzes Leben haben wir hier zusammen gewohnt. Und jetzt nicht mehr. Sie hinterlässt ein Loch in der Form des Kindes, das sie mal war.
Ich dachte, ich würde es cooler nehmen. Ihre Kinderteller hatte sie zurückgelassen, ebenso ihre Skiausrüstung und in der Haarbürste sind noch ihre Haare. Ich schnüffelte ein bisschen daran und benetzte sie mit meinen Tränen. Ich hätte nicht gedacht, dass es so schlimm wird.
Schon seit einigen Monaten war sie immer mit Plänen irgendwo unterwegs. Ich freute mich darüber. Sie ist reif, dachte ich. Aber jetzt, angesichts ihres letzten Entwicklungsschrittes, komme ich mir vor wie eine Mountainbikerin, die einen immer steileren Abhang runterbrettert, plötzlich den nahenden Abgrund erkennt und die Bremsen anziehen will. Aber es ist zu spät.
«Eine einzige Person fehlt für dich und die ganze Welt ist leer», schreibt Joan Didion in ihrem Trauer-Klassiker «Das Jahr des magischen Denkens». Meine Tochter ist zum Glück quicklebendig – trotzdem habe ich etwas verloren, etwas Grosses: Das Kind, das sie war.
Mit jeder Entscheidung für etwas entscheidet man sich auch gegen Dinge – aber wäre das Leben besser geworden, hätte ich anders entschieden?
Wenn wir mit Situationen konfrontiert sind, die uns überfordern, greift der Verstand gern zu magischem Denken. Hätte ich weniger gearbeitet, mehr gebacken und gespielt mit ihr, ihr ein schöneres Zuhause bereitet, denke ich, dann wäre sie jetzt noch da. Ich weiss, dass das Unsinn ist. Sie ist zwanzig, ein Alter, in dem man alt genug ist, sein eigenes Leben zu leben.
Wenn ich mir jetzt ihre Fotos auf Instagram angucke, sieht sie erwachsener aus. Ich weiss, ihr Ausziehen ist der natürliche Fluchtpunkt, das Ziel, auf das ich hingearbeitet habe. Aber wie so oft, wenn ein grosses Ziel erreicht wird, findet man nicht die erhoffte Befriedigung, sondern Leere.
Ich sehe unterwegs überall Eltern mit ihren Kindern, im Zug Karten spielend oder einfach Hand in Hand spazierend und das gibt mir einen Stich. «Ich hätte es mehr geniessen müssen!», sage ich mir. Ich habe zu viel versäumt. Aber ich weiss, es ist ein Trugschluss. Mit jeder Entscheidung für etwas entscheidet man sich auch gegen Dinge – aber wäre das Leben besser geworden, hätte ich anders entschieden?
Jetzt ist sie weg, die Tochter, und es fühlt sich an wie ein Satz ohne Punkt dahinter. Gern hätte ich ihr beim Packen geholfen, hätte mit ihr aussortiert, was sie mitnimmt und was nicht – dabei hätte man in der gemeinsamen Vergangenheit schwelgen können. Und einen Schluss finden. Zusammen.
Nun aber stehe ich alleine da und weine in eine Haarbürste. Wie lächerlich uns die Liebe doch macht. Und gleichzeitig macht sie allein das Leben lebenswert. Da nehmen wir etwas Lächerlichkeit gern in Kauf.