«Mami, wie ist es im Himmel?»
Lina ist mit sechs Jahren an Krebs gestorben. Ihre Mutter erzählt, wie die Familie das Kind in den Tod begleitete und mit dem Verlust umgeht.
Seit dem 14. Januar 2015 ist nichts mehr wie zuvor. An diesem Tag wurde bei unserer damals sechs Jahre alten Tochter Lina ein Glioblastom diagnostiziert. Bei diesem besonders aggressiven Hirntumor, WHO-Klassifikation Grad IV, bestehen aktuell keine Heilungschancen. Es war klar, dass Lina nur noch eine begrenzte Zeit bei uns sein würde, vielleicht ein paar Wochen, vielleicht einige Monate.
Wir haben Lina das zugemutet, was sie sich selber zugetraut hat, und ihr den nötigen Freiraum gelassen.
Unser Sohn Tim war damals fast vier Jahre alt. Wir waren unendlich traurig, haben geweint und geflucht. Mein Mann und ich haben nichts beschönigt, haben auch nicht die Starken gespielt. Von Anfang an gingen wir offen mit Linas Krankheit um und haben sowohl gegenüber der Familie als auch im Umfeld offen kommuniziert. Weil uns die Zeit fehlte, alle Nachfragen zu beantworten, haben wir einen Blog eingerichtet, um unsere Familie, Freunde und Nachbarn zu informieren.
Chemotherapie abgebrochen
Eine Woche nach der Notfallaufnahme im Kinderspital versuchten die Ärzte mittels Operation, so viel Tumorgewebe wie möglich zu entfernen. In den Tagen zuvor hatte sich Linas Zustand dramatisch verschlechtert. Es war zu diesem Zeitpunkt nicht klar, ob sie den Operationstermin überhaupt noch erleben würde. Das Glioblastom war ins Hirngewebe hineingewachsen. So konnte der Tumor nur zu einem Drittel entfernt werden. Hätten die Ärzte mehr Gewebe herausgenommen, hätten wir nicht die Lina zurückbekommen, die wir kannten.
Nach der Operation erhielt Lina eine Chemotherapie. Die zusätzliche Bestrahlung wurde abgebrochen, weil der Tumor so bösartig war, dass er sich selbst durch die Strahlentherapie nicht beeindrucken liess.
Unendlich kostbare Zeit zusammen
Drei Wochen später durften wir unsere Tochter nach Hause nehmen. Lina hat ihr Schicksal unglaublich tapfer angenommen. Sie war zwar körperlich geschwächt, konnte aber wieder ein einigermassen normales Leben führen. Wir haben ihr das zugemutet, was sie sich selber zugetraut hat, und ihr den nötigen Freiraum gelassen.
Lina wusste immer sehr klar, was sie wollte. Sie hatte sich ihre Eigenständigkeit trotz Krebserkrankung bewahrt. Erstaunlicherweise wollte sie nicht mehr in den Kindergarten, sondern die verbleibende Zeit mit uns Eltern, ihrem Bruder und Freunden verbringen.
Es sind nicht die grossen Dinge, sondern die gemeinsamen Momente in Verbundenheit, die zählen.
Sechs Wochen später traten Komplikationen auf. Eine weitere Hirnoperation stand zur Diskussion, um Linas Beschwerden zu lindern. Ich fragte sie, ob sie noch bei uns auf der Erde bleiben wolle und genug Kraft für eine weitere Operation habe. Lina wollte leben und entschied sich mit uns für den Eingriff. Wenige Tage nach der zweiten Operation holten wir Lina nach Hause. Es war uns sehr wichtig, dass wir als Familie zusammenbleiben und wir unsere Tochter zu Hause auf ihrem Weg begleiten konnten. Mein Mann unterstützte mich sehr.
Die Zeit, die uns zusammen noch blieb, war unendlich kostbar. Erlaubte es Linas Zustand, haben wir etwas unternommen. Wir gingen Ponyreiten, besuchten ein Aquarium oder luden Linas Freunde zu uns nach Hause ein. Wir fuhren sogar noch ins Tessin in die Campingferien, was uns die Stiftung Sternschnuppe ermöglichte. Es sind jedoch nicht die grossen Dinge im Leben, auf die es ankommt. Es kann genauso wertvoll sein, die Zeit zusammen zu Hause auf dem Sofa zu geniessen. Denn es sind die gemeinsamen Momente in Verbundenheit, die zählen.
Ein Moment reinster Liebe
Als sich Linas Zustand im April 2015 weiter verschlechterte und sie nicht mehr mit ihren Freunden draussen spielen mochte, wurde sie sehr traurig. Für mich als Mutter war das die schwierigste Zeit, weil wir unserer Tochter die Zeit mit ihren Freundinnen und Freunden nicht ersetzen konnten.
Auch Tim spürte, dass ihn seine Schwester brauchte. Er wollte lieber bei ihr bleiben, als mit Freunden etwas zu unternehmen. Obwohl Tim damals erst knapp vier Jahre alt war, hat er seine grosse Schwester bei alltäglichen Dingen unterstützt, sein Tempo an ihres angepasst und viel Unbeschwertheit in ihren und unseren Alltag gezaubert.
Als Lina mich fragte, was passieren wird, wenn der Knollen in ihrem Kopf weiterwächst, sagte ich ihr die ganze Wahrheit. Ich erklärte ihr, dass irgendwann der Zeitpunkt kommen werde, an dem sie entscheiden könne, ob sie in den Himmel gehen möchte, wenn das Leben auf der Erde zu anstrengend sei.
Ihr die Entscheidung über ihr Schicksal zu überlassen, war für mich ein Moment reinster Liebe. Nie zuvor hatte ich eine tiefere Verbundenheit mit unserer Tochter gespürt als in diesem Moment. Ich glaube, dass sich allumfassende Liebe so anfühlt. Nach diesem Gespräch wusste unsere Tochter, dass sie sterben wird. Sie hat es angenommen und akzeptiert.
Lina sprach oft über Schutzengel. Je schlechter es ihr ging, desto mehr Schutzengel waren bei ihr.
Auch Tim wusste, wie es um seine grosse Schwester stand. Das Ausmass ihres Schicksals war für ihn aber nicht fassbar. Das war es auch für uns Eltern nicht. Wir wussten genauso wenig wie Tim, was es für uns bedeuten würde, wenn Lina stirbt. Auch blieb uns keine Zeit, darüber nachzudenken, denn der Alltag mit unseren Kindern forderte uns im Hier und Jetzt. Und das war gut so. Beide Kinder halfen uns sehr, das Leben im Augenblick anzupacken und wertzuschätzen.
- Jährlich sterben in der Schweiz 400 bis 500 Kinder; etwa die Hälfte von ihnen verstirbt im ersten Lebensjahr.
- Knapp 40 Prozent aller Todesfälle ereignen sich in den ersten 4 Lebenswochen. Neugeborene sterben, weil sie zu früh oder mit schweren Fehlbildungen zur Welt kommen.
- Krankheitsbedingte Todesfälle jenseits des ersten Lebensjahres treten aufgrund unheilbarer Krankheiten auf. Neurologische Diagnosen stehen im Vordergrund, gefolgt von Krebs- und Herzerkrankungen.
- Bei Kindern ab 2 Jahren, v.a. bei Schulkindern und bei Jugendlichen, machen Unfälle beinahe die Hälfte aller Todesfälle aus.
Quelle: pallnetz.ch
Linas Schutzengel
Eines Tages wollte Lina von uns wissen, wie es im Himmel ist. Ich schlug vor, dass wir in der folgenden Nacht alle vom Himmel träumen und uns dann vorstellen könnten, wie es dort aussieht. In dieser Nacht träumten wir alle von unseren Lieblingsorten auf der Welt. Wir glauben auch, dass Lina den Himmel gesehen hat. Sie erzählte uns von Verwandten, die sie nie gekannt hatte. Sie sprach auch oft über ihre Schutzengel. Je schlechter es ihr ging, desto mehr Schutzengel waren bei ihr.
Lina lebt für mich nicht in meinem Herzen weiter, wie das oft erzählt wird, sondern ich spüre sie neben mir.
In den folgenden Wochen nahm der Krebs seinen Lauf. Linas Zustand verschlechterte sich drastisch. Sie entschied, die Medikamente nicht mehr einzunehmen. Eine Woche später, am 2. Mai 2015 frühmorgens um 1:15 Uhr, starb Lina.
Zwölf Stunden vorher sagte sie ihre letzten Worte: «Tschüss Mami, machs guet». Dann schloss sie ihre Augen und schlief ein.
Linas Präsenz im Alltag
Irgendwann hörte sie einfach auf zu atmen. Ich spürte, dass ihre Seele sich auf den Weg gemacht hatte. Ich bin sicher, dass uns nach dem Tod etwas Gutes erwartet. Niemals hätte Lina so ruhig sterben können, wenn nachher nichts mehr käme. Mir macht der Tod keine Angst mehr.
Mein Urvertrauen ist nicht erschüttert. Ich glaube, dass eine Kraft in mir ist, die zu mir schaut und mich auf meinem Weg begleitet.
Lina ist mir auch jetzt noch sehr nah. Sie lebt für mich nicht in meinem Herzen weiter, wie das oft erzählt wird, sondern ich spüre sie neben mir. Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an sie denke. Lina ist auch sehr präsent im Alltag unserer Familie. Die Liebe zu ihr begleitet uns wie ein Schatz, den uns niemand nehmen kann.
Obwohl es auch heute noch schwierige Tage gibt, haben wir unser Schicksal angenommen. Dass wir Lina zu Hause in den Tod begleiten und unsere eigene Geschichte schreiben konnten, ist ein grosser Trost. Menschen, die Angehörige im Sterben begleiten, wünschen wir den Mut, ihren eigenen Weg zu gehen.