Wie die Geburt, so der Gang ins Erwachsenenleben?
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Wie die Geburt, so der Gang ins Erwachsenenleben?

Lesedauer: 3 Minuten

Fritz+Fränzi-Redaktorin Maria Ryser hat eine überraschende Entdeckung gemacht: Der Abnabelungsprozess mit ihrem nun volljährigen Sohn weist erstaunliche Parallelen zu seiner Geburt auf.

Text: Maria Ryser
Bild: Adobe Stock

Rainer Maria Rilke schrieb einst die Zeilen: «Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen, die sich über die Dinge ziehn.» Mir gefällt diese Vorstellung vom Leben in Zyklen. Es gibt so viele wunderbare davon: Jahreszeiten, Menstruation oder Alter, um nur drei Lieblinge zu nennen.

Mit solchen Gedanken im Kopf spannte ich kürzlich einen Bogen von der Geburt meines ältesten Sohnes bis zu seinem 18. Geburtstag und fragte mich: Gibt es Parallelen zwischen der Art und Weise, wie ich meinen Sohn auf die Welt brachte und wie ich ihn nun in die Erwachsenenwelt schicke? Und die gibt es tatsächlich.

Eine strenge Geburt

Ich habe meine drei Kinder relativ mühelos geboren. Die zweite Geburt, um die es hier geht, war dabei die für mich strengste. Mein Grosser hatte es nicht eilig, das Licht der Welt zu erblicken. Als ich am 17. Januar 2005 am Morgen mit regelmässigen Wehen ins Spital ging, fand mein Kind, es bräuchte erst mal eine längere Pause.

Die Wehen stagnierten einen halben Tag lang. Ich drehte Runde um Runde auf dem Spitalgelände, während er gemütlich in seiner Höhle kauerte und abwartete. Auch später unter Wehenmittel wusste er, wie er es sich möglichst bequem einrichten konnte.

«Fruchtblase nicht platzen lassen, dann hab ich einen schönen Helm», muss er sich gesagt haben. Erst als die Blase durch äussere Einflüsse zum Platzen gebracht wurde, gab er sich einen Ruck und präsentierte sich der Welt mit einem perfekt geformten Babykopf.

Nach der Lehre ein Zwischenjahr

Im Sommer 2023 steht der einstige Winzling mit Glatze als 190-Zentimeter-Mann mit einer Mähne aus blonden Dreadlocks und abgeschlossener Lehre vor mir. So weit, so geradlinig. Doch nun kommts: Er wolle direkt im Anschluss weder die Berufsmatura, noch eine Festanstellung in seinem Beruf, sondern erst mal ein Zwischenjahr machen.

Was genau macht mir Angst? Dass mein Sohn nicht zurechtkommt und den Anschluss verpasst? Oder bin ich einfach neidisch?

«Wie bitte?», frage ich nervös, meine Stimme zittert und ich gehe gleich vom Schlimmsten aus: Mein Sohn hängt bequem bei mir zu Hause rum im Hotel Mama, während ich meinem 80%-Pensum nachgehe und den Haushalt erledige. «So nicht, Bürschchen», denke ich und schweige.

Doch mein Zweitältester bleibt tiefenentspannt, so wie damals in meiner Gebärmutter. Er habe Pläne, brauche Zeit für sich und für die Dinge, die ihm vorschwebten. «Wer hätte das nicht gerne?», denke ich bissig und fordere einen konkreten Fahrplan. Auch gratis bei mir Wohnen sei keine Option. Schliesslich sei er volljährig und habe dann einen Lehrabschluss in der Tasche.

Ringkampf mit mir selbst

Mein Sohn lässt mich warten, und anstatt auf dem Spitalgelände drehe ich meine Runden nun im Kopf. Was genau macht mir Angst? Dass er nicht zurechtkommt und den Anschluss verpasst? Dass er sich nicht brav in unsere Leistungsgesellschaft einklinkt und hängen bleibt? Oder bin ich einfach neidisch? Auf seinen jugendlichen Tatendrang, den innigen Wunsch, seine Träume zu verwirklichen, die Lust am Ausscheren und den Sprung ins Unbekannte? Oder naiv? Fühle ich mich ausgenutzt und hintergangen? Traue ich weder ihm noch mir einen solchen Schritt zu?

Wochenlang ringe ich mit mir selbst und wälze mich in schlaflosen Nächten. Nach Gesprächen mit verschiedenen Vertrauenspersonen (sie wären quasi das Wehenmittel in dieser Geschichte…) gebe ich mir einen Ruck und präsentiere ihm meine Forderungen und Vorstellungen für ein solches Zwischenjahr.

Ein weiterer Artikel zur Mutter-Sohn-Beziehung

Eine Mutter ist die erste Frau im Leben eines Jungen und prägt ihn sein Leben lang. Sie beeinflusst sein emotionales Gleichgewicht sowie die Zufriedenheit in späteren Partnerschaften. Wie gelingt eine gute Mutter-Sohn-Beziehung? Hier gehts direkt zum Artikel.

Und wie bei seiner Geburt geht nach dem langen Ringen alles wie von Zauberhand: Mein Sohn ist mit meinen Forderungen einverstanden und zeigt mir seine mittlerweile schon ziemlich ausgereiften Pläne. Die Sportferien nutzt er dazu, um sich aktiv darum zu kümmern. Ich bin beeindruckt.

Vier magische Worte

Gemeinsam nehmen wir Anlauf für die letzte Wehe, bei der es nochmals darum geht, alles loszulassen. Der gute Kopf hat seine Arbeit getan. Vernunft hat hier nichts verloren, wir tauchen in tiefere Lebensschichten. In meinem Herzen weiss ich, dass dieser junge Mann es packen wird. Das kommt richtig gut!

In diesem Moment macht es Klick. Zwei Enden fügen sich nahtlos ineinander. Rilkes Ringe wachsen. Ich erinnere mich, wie ich den Frischgeborenen in meinen Armen hielt. Erschöpft, unendlich glücklich und von Liebe durchtränkt. «Ich liebe dich, egal, was kommt», flüsterte ich ihm damals zu. In einem guten Moment nehme ich meinen erwachsenen Sohn in den Arm und sage laut: «Ich glaube an dich.»

Maria Ryser

Maria Ryser
liebt grosse und kleine Kinder, zyklisch leben, Rilke, reinen Kakao, Klangreisen und Kreta. Die gebürtige Bündnerin arbeitet als stv. Leiterin auf der Onlineredaktion und ist Mutter zweier erwachsener Kinder und eines Primarschülers.

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