Muskeln, Macker und Maseratis
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Muskeln, Macker und Maseratis

Lesedauer: 4 Minuten

Auf Insta, TikTok und Co. torpedieren sogenannte «Manfluencer» die Erziehung unserer Kolumnistin: Wegen merkwürdiger Muckibuden-Macker stehen bei ihr jetzt vier Sorten Eiweisspulver im Schrank und ein neuer Männlichkeitskult ins Haus, den sie eher im Zoo verortet hätte.

Text: Andrea Müller
Bild: Pexels

Ben will jetzt Muskeln. Kaum war er an mir vorbeigeschossen wie eine Silvesterrakete, sagte er seiner natürlichen Transformation vom Buben zum langen Lauch den Kampf an. Gegen «lang» könne er wohl nicht viel machen – gegen dünn aber schon! Er sagte: «Mama, ich will keine skinny Bitch mehr sein!» Vorbei ist es auch mit Bens Knabenchorstimme, mit Kuscheln und Knabberezeugs bei «Wednesday» und «Vampire Diaries» mit Mama auf dem Sofa.

Vor meiner Tür stehen neuerdings Turnschuhe in der Grösse von Kreuzfahrtschiffen, in meinem Küchenregal vier Sorten Proteinpulver. Im Kühlschrank stapeln sich Vollfettquark, Eier, Avocados. Während Bens grosser, jedenfalls dem Ausweis nach erwachsener Bruder weiterhin Kinderriegel und Gummibärchen inhaliert, als wolle er möglichst bald jüngstes Mitglied im Adipositas-Zentrum werden, scannt Ben jetzt Nährstoffe: Proteine, Vitamine und Ballaststoffe. Er hängt jeden dritten Abend mit Kumpels in der Muckibude ab und will sehr bald sehr stark und sehr muskulös werden. Vor allem stärker als sein grosser Bruder.

Ich frage Ben, wer nun eigentlich sein starkes, muskulöses Vorbild sei. Die Antwort schickt er mir per Insta-Filmchen. Wir schicken uns öfter solche kleinen Filmchen. Ich ihm versteckte, pädagogische Botschaften, die wohl eher zu ihm durchdringen als mein analoges Gemecker. Verzweifelte Mütter von Teenagern, die Alltags-Szenen mit Söhnen ziemlich lustig karikieren.

Ben schickt mir umgekehrt Clips aus dem Tierreich. Diesmal handelt es es sich nicht direkt um Pinguine oder Primaten. Das Gebaren des Muckibuden-Typen mit poliertem Schädel und Ray-Ban wirkt dennoch wie eine Liveübertragung aus dem Gorillagehege.

Fragwürdiges Vorbild

Der Protagonist hat eine ausgeprägte Zornesfalte, in Blick und Ton ist er so wütend wie sein Hintergrundsound, der an ein Kettensägenmassaker erinnert. Die «Message» des Mannes passt zu seinem mackerhaften Erscheinungsbild: «Wenn du ein junger Mann oder ein Teenager bist, und wenn nicht gerade Bakterien dein komplettes Augenlicht zerstört haben oder du beide Beine bei einem Unfall verloren hast und trotzdem mit einer Depression aufwachst: Dann bist du einfach ein Idiot!»

Upsi. Wer soll das denn sein?, frage ich Ben. Soll er doch meinetwegen dem Zwilling des Klum-Gatten, Ricardo Simonetti oder sonst einem Süssling mit rosa Fingernägeln folgen, der die Welt ein bisschen bunter macht. Aber dem hier?

Das neue Vorbild von Ben heisst Andrew Tate. Er gilt als misogyner, gewaltverherrlichender Macho und ist mutmasslich wegen Vergewaltigung angeklagt. Ausgerechnet er verbreitet «Lebenshilfe» für junge Männer im Internet. Hinter der Nachricht verbirgt sich vermutlich ein Mutmach-Spruch für männliche Teenager, die noch sehen und gehen können, denen die Privilegiertheit ihrer puren, jungen, testosteronstrotzenden Existenz vor Augen geführt werden soll. Aber was ist mit all jenen, die wirklich psychisch krank oder labil sind – die wirklich an einer Depression leiden?

Derweil trommelt Tate munter weiter mit den Fäusten auf seine tätowierte Brust und lockt mit Gorillalauten Teenager an wie das Licht die Motten. In den letzten Jahren hat Tate Millionen junger Männer über Insta und TikTok indoktriniert, nennt sich «König der toxischen Maskulinität» und präsentiert Männlichkeits-Getue zwischen Wut und Waschbrettbauch als grenzwertigen Anachronismus. Ein Männerbild, das ich eher im Zoo oder der Vergangenheit verorten würde.

Er predigt Buben wie Ben, dass sie später mal stark, muskulös und reich werden müssen, und fette Autos mit maximalem Schadstoffausstoss besitzen. Dass sie nicht weinen sollen und Frauen nicht so ernst nehmen, sondern sie vielmehr «einfach nehmen».

Muskeln als Rebellion

«Also: was findest du an dem jetzt genau toll, Ben?» frage ich meinen Sohn. «Wieso?», sagt Ben. «Der hat ein Sixpack, nen Lambo und nen Maserati! Ausserdem ist der richtig reich! Ich finde schon auch, dass er irgendwie recht hat.» Dann lacht Ben. Weil ihm das irgendwie auch peinlich ist, diesen Kerl zu verteidigen? Oder will er mich provozieren, weil er weiss, dass einer wie Tate das Gegenteil dessen verkörpert, was ich als männliches Vorbild benennen könnte?

Vor zwei Jahren hätte ich ihm das locker ausgeredet. Jetzt folgt Ben Mackern mit Muskeln und Maseratis. Hilfe! Ist der überzogene Männlichkeitskult als eine Art Gegentrend zur LGBTQ-Bewegung zu verstehen, die jene offene Vielfalt verkörpert, die an humanistischen Gymnasien inzwischen zur toleranten, politisch korrekten Weltsicht gehört?

Bens Notendurchschnitt ist korrelativ zum Anwachsen seiner Muskeln um 1,5 Notenpunkte gesunken.

Sicher, ich kenne auch Mütter, deren Buben sich schminken und Kleider tragen, für die Geschlechter keine Rolle spielen. Eine andere Mutter eines Kumpels von Ben flippt gerade aus vor Sorge, weil ihr Sohn redet und aussieht wie aus der Berliner Gangsterserie «4 Blocks», seit er vom Gymnasium geflogen ist. Dagegen habe ich wohl noch Glück.

Je mehr Muckis, desto weniger Hirn

Ben zeigt mir weitere «Manfluencer», die mit muskulöser Männlichkeit jedes Klischee bedienen. Ihre Themen, ausnahmslos mit grosser Klappe vorgetragen, kreisen um Aussehen, Ernährung und Bodybuilding, sie verwechseln allzu zu oft das Ideal vom perfekt definierten Männerkörper mit dem eines perfekten Mannes.

Seit Neuestem gibt Ben sein gesamtes Taschengeld für «Whey»-Pulver aus, fachsimpelt mit Kumpels über Kreatin und Keto, zieht sich bei Insta alles über Proteinpulver rein. Bens Notendurchschnitt (bis vor Kurzem war er Einser-Schüler!) ist korrelativ zum Anwachsen seiner Muskeln um 1,5 Notenpunkte gesunken. Es bestätigt mein uraltes Vorurteil: je mehr Muckis – desto weniger Hirn. Was sich, zugegeben, seit Ryan Gosling ein bisschen überholt anfühlt. Doch in meiner Kindheit gab es halt nur Rambo und Rocky, also war ich dann eher Team Daniel Day-Lewis.

Es ist hart für heranwachsende Buben, dass nun auch sie dem Perfekt-Body-Hype unterworfen sind, der Mädchen seit jeher das Leben erschwert. Mein Ben, ein schlaksiger Halm im Wind, überlegt noch, in welche Richtung er weiter wachsen soll, während ihm auf Insta täglich erzählt wird, wie ein echter Mann aussehen, denken und neuerdings auch riechen soll!

Der Duft-Fluencer

Nun folgt er auch noch selbst ernannten Duftgurus, darunter ein Max Aoud, der unlängst in einem TikTok-Clip Bens neues Parfum «Le Beau» von «Gaultier» bewertete. Aoud sprach den Namen des Duftes rund 30-mal hintereinander «LöBö» anstatt «LeBo» aus, was ich, zugegeben, richtig witzig fand: Wie kann man Düfte, die man täglich vorstellt, derart unkorrekt benennen?

Ben verteidigte den Mann, es handle sich schliesslich um einen Duft-Fluencer, und nicht um einen Sprachlehrer! Den Duft hat er später dann umgetauscht, denn Max fand «LöBö» nicht so prall. Als ich anfing, deswegen zu motzen, sagte Ben: «Mama, wie willst du überhaupt gegen 180K Follower anstinken?» Ja. Das frag ich mich auch.

Andrea Müller
ist Journalistin, lebt in Hamburg und hat zwei Teenager-Söhne, die sie (oft vergeblich) zu Nicht-Mackern zu erziehen versucht. In Bezug auf den Alltag mit ihren Kindern denkt sie nicht selten: Absurder könnte kein Hollywood-Autor das Leben einer Single-Mom erfinden.

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