Essen: «Eltern sollten auf soziale Aspekte und Genuss achten»
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«Eltern sollten beim Essen auf soziale Aspekte und Genuss achten»

Lesedauer: 4 Minuten

Die Medizinerin Dagmar Pauli hat in ihrem Berufsalltag oft mit Jugendlichen zu tun, die ein gestörtes Verhältnis zum Essen haben. Ein Gespräch über Muskelsucht, Übergewicht und den Zwang, sich gesund ernähren zu müssen.

Interview: Christine Amrhein
Bild: Plainpicture

Frau Pauli, eine Essstörung, die fast nur bei männlichen Jugendlichen auftritt, ist die Muskeldysmorphie. Was versteht man darunter?

Viele Buben wollen durch Training Muskeln aufbauen und oft auch wenig Körperfett haben. Eine protein­reiche Ernährung soll sie dabei unterstützen. Merkmal einer Muskeldysmorphie ist ein verzerrtes Körperbild: Die Betroffenen glauben, zu schmächtig zu sein, obwohl sie bereits gut trainiert sind.

Dagmar Pauli ist Chefärztin und stell­vertretende Direktorin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich und Präsidentin der Schweizerischen Gesellschaft für Essstörungen (SGES). Als Fachärztin für Kinder- und Jugend­psychiatrie und Psychotherapie (FHM) hat sie langjährige Erfahrung in der Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Ess­störungen, Depressionen und Gender­varianz sowie im Bereich Familien-beratung und Familientherapie. (Bild: Sabina Bopst)

Viele Jungs im Teenageralter streben einen trainierten Körper an. Wann ­sollten Eltern hellhörig werden?

Von einer Störung spricht man, wenn ein Jugendlicher sich über­mäs­sig und quasi zwanghaft damit beschäftigt, Muskeln aufzubauen. Also sehr viel Zeit mit Training verbringt und dabei Freundschaften, Schule oder Hobbys vernachlässigt. Oft leiden die Betroffenen selbst unter dem Zwang, zu trainieren. Weitere Warnsignale sind über­­mäs­sig ausgeprägte Muskeln oder die Einnahme von Anabolika, die schädlich sein können. Problematisch wird es vor allem dann, wenn Jugendliche sehr viel trainieren und zu wenig essen. Sie meinen, sie könnten so Muskeln auf- und Fett abbauen. Daraus kann sich eine Essstörung entwickeln. Häufige Folgen sind Mangelernährung und Abgeschlagenheit – zugleich werden so Muskeln ab- und nicht aufgebaut.

Welche Faktoren können eine Muskeldysmorphie begünstigen?

Das sind ähnliche Faktoren wie bei anderen Essstörungen: ein geringes Selbstwertgefühl, Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper, eine starke Leistungsorientierung oder auch Mobbing. Gerade Jungs, die schmächtig sind, fühlen sich oft minderwertig und sind gefährdet, eine Muskeldysmorphie zu entwickeln. Auch hier haben Vorbilder einen grossen Einfluss: Freunde und Gleichaltrige, aber auch Väter – etwa, wenn sie viel Sport machen und Wert auf einen muskulösen Körper legen.

Bis zum Alter von 15 Jahren sollten Jungs möglichst nicht ins Fitnessstudio gehen, um ­gezielt Muskeln aufzubauen.

Wie können Eltern dieser Essstörung vorbeugen?

Sie sollten darauf achten, dass ihr Kind nicht zu früh mit Sportarten beginnt, bei denen eine Optimierung des Körperbildes im Zentrum steht. Bis zum Alter von etwa 15 Jahren sollten Jungs möglichst nicht ins Fitnessstudio gehen, um gezielt Muskeln aufzubauen. Sport ist wichtig, aber das sollten eher Sportarten sein, bei denen der Spass und das Gemeinschaftserleben im Vordergrund stehen, wie Ballsport oder Leichtathletik. Ab etwa 15 oder 16 Jahren ist es okay, wenn Jugendliche ihre Muskeln trainieren – aber das sollte nicht überhandnehmen.

Gesunde Ernährung ist heute ein ständiges Thema. Doch auch das stets ausgewogene Essen kann irgendwann ins Ungesunde kippen – häufig ist dann von Orthorexie die Rede. Was kennzeichnet diese?

Eine Orthorexie ist keine eigenständige medizinische Diagnose, sondern eine Essverhaltensstörung. Studien deuten darauf hin, dass etwa 20 bis 30 Prozent der Bevölkerung sagen, sie würden sich übermässig mit «richtiger» Ernährung befassen. Orthorexie bedeutet, dass jemand sich gesund ernähren möchte und sich übermässig und fast zwanghaft mit dem Thema gesunde Ernährung beschäftigt.

Die Betroffenen ernähren sich wenig flexibel und es fällt ihnen schwer, von der selbst gewählten Ernährung abzuweichen. Hauptmerkmal für eine Erkrankung ist, wenn jemand durch zu selektives Essverhalten stark an Gewicht abnimmt. Weiter ist kennzeichnend für die Störung, dass die Betroffenen unter der ständigen Beschäftigung mit gesunder Ernährung ­leiden und dadurch soziale Beziehungen, Schule oder Hobbys stark beeinträchtigt werden.

Wie hängt die Orthorexie mit anderen Essstörungen zusammen?

Orthorexie ist ein Risikofaktor für andere Essstörungen, vor allem für eine Anorexie und etwas weniger stark für Bulimie und Binge Eating. Letztere können sich entwickeln, wenn ein Jugendlicher seine Ernährung auf vermeintlich gesunde Nahrungsmittel einschränkt und dann Heisshunger auf ungesunde süsse und fettige Speisen entwickelt. Dann kann es zu Essattacken und möglicherweise zu Erbrechen kommen. Um einer Orthorexie vorzubeugen, sollten Eltern das Thema «gesunde Ernährung» in der Familie nicht in den Mittelpunkt stellen, sondern beim Essen auf soziale Aspekte und Genuss achten.

Auf der anderen Seite ist Übergewicht bei Kindern und Jugendlichen ein zunehmendes Problem. Laut einer Studie der ETH Zürich haben 16 Prozent der Schweizer Kinder Übergewicht und 5 Prozent Adipositas. Was können Eltern tun, wenn sie sich Sorgen machen, ihr Kind sei zu dick?

Am besten sollten sie nach einer Gewichtskontrolle des Kindes – ohne ihr Kind – mit der Kinderärztin sprechen und klären, ob tatsächlich Übergewicht besteht und wie sie reagieren können. Ein Gewicht leicht über dem Durchschnitt ist oft nicht problematisch. Bei starkem Übergewicht sollten sie aber auf jeden Fall etwas tun.

Nämlich?

Am besten ist, sich in einer Ernährungsberatung zu erkundigen, das Nahrungsangebot zu überprüfen und auf ein regelmässiges und ausgewogenes, gemeinsames Essen zu achten. Das ist oft sehr hilfreich, um das Snacken zu vermeiden und das Körpergewicht zu stabilisieren. Ziel ist bei Kindern eine dauerhafte Umstellung der Ernährung und ­ausreichend Bewegung, sodass sie mit der Zeit aus dem Übergewicht «herauswachsen». Bei Jugendlichen sollte ein langsames, nachhaltiges Abnehmen angestrebt werden. Nahrungsmittel zu verbieten oder «Es reicht jetzt» zu sagen, ist selten hilfreich. Dann steigt eher das Verlangen nach dem Verbotenen. Unbedingt vermeiden sollten Eltern negative Kommentare. Das löst beim Kind Scham aus und erhöht das Risiko für eine Essstörung.

Diäten und rasches Abnehmen sind bei Übergewicht nicht sinnvoll.

Also sollten die Eltern ihrem Teenager keine Diät nahelegen?

Wenn Jugendliche mit Übergewicht oder Adipositas versuchen abzunehmen, besteht das Risiko, in eine Essstörung zu geraten. Diäten und rasches Abnehmen sind daher bei Übergewicht nicht sinnvoll. Stattdessen sollte eine dauerhafte Verhaltensänderung angestrebt werden. Ein Warnsignal für eine Essstörung wäre, wenn ein Kind oder Jugendlicher mit Übergewicht in kurzer Zeit stark abnimmt. Manche können diesen Prozess nicht stoppen und geraten in eine Anorexie. Durch die geringe Kalorienzufuhr kann auch Heisshunger auftreten, der dann in eine Bulimie oder Binge Eating führen kann. In diesen Fällen sollten Eltern eingreifen.

Was ist sonst noch wichtig?

Alle Aspekte einer gesunden, ausgewogenen Ernährungsweise sind auch bei der Vorbeugung einer ­Muskeldysmorphie und Orthorexie wichtig. Ebenso können sie dazu beitragen, Übergewicht und Adipositas und das Kippen in eine Ess­störung zu vermeiden.

Christine Amrhein
ist Psychologin. Sie lebt und arbeitet als freie Wissenschaftsjournalistin in München.

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