Essen ohne Drama
Eltern wollen ihre Kinder gesund ernähren. Oft bewirkt Druck das Gegenteil. Die Methode des intuitiven Essens soll helfen: Statt Regeln zählt der innere Ernährungskompass des Körpers.
Beim Abendessen verkündete Milian: «Ich werde nur noch Süssigkeiten essen!» Es war der Höhepunkt einer schleichenden Entwicklung. Erst ass der Fünfjährige nur noch Nudeln pur, ohne Sauce, dann hörte er auf Gurken zu essen, Tomaten, Äpfel und sogar Brötchen. «Es war furchtbar», erinnert sich seine Mutter Nadja aus Graz.
«Er war so garstig und mäkelte an allem herum, was ich ihm vorsetzte.» Weder gutes Zureden noch Schimpfen halfen. «Ich fühlte mich völlig unter Druck. Schliesslich sollte man täglich fünf Portionen Obst und Gemüse essen, hatte ich im Kopf.» Den Druck gab Nadja am Familientisch weiter, das Essen wurde immer unentspannter.
So wie Nadja geht es vielen Müttern und Vätern, die am Essverhalten ihrer Kinder verzweifeln. Sie machen sich Sorgen, ob das Kind die richtigen Nährstoffe bekommt und ob die zweifelhaften Gewohnheiten bleiben. Milian machte seine Ansage wahr. Entschlossen ernährte er sich nur noch von Süssigkeiten. Der Super-GAU für alle gesundheitsbewussten Eltern.
Für ein besseres Körperbild und mehr Wohlbefinden
Bei Anna aus Bern war es umgekehrt. Ihre elfjährige Tochter ass und ass ohne Sättigungsgefühl. Die Mutter hatte das beobachtet, seit Sarah ein kleines Mädchen war. Als der Babyspeck im Grundschulalter nicht verschwand, der BMI Übergewicht zeigte und das Essen zum Konfliktthema wurde, wusste Anna, dass sie Unterstützung brauchte.
Es entfallen Vorschriften wie abends keine Süssigkeiten oder das Hauptgericht vor dem Dessert. Stattdessen zählt das Vertrauen.
Beiden Familien hat die Methode des intuitiven Essens geholfen, die immer bekannter wird. Lebensmittel werden nicht in gesund oder ungesund eingeteilt, alles ist zu jeder Zeit erlaubt. Es zählen die Hunger- und Sättigungssignale des Körpers und die Frage «Wie bekommt mir das?».
Das Konzept geht auf die US-Ernährungswissenschaftlerinnen Evelyn Tribole und Elyse Resch zurück, deren Anti-Diät-Buch «Intuitiv essen» erstmals 1995 erschien. Es rückte die achtsame Beziehung zum Essen und zum eigenen Körper in den Vordergrund, seitdem gibt es viele Studien dazu.
Eine Meta-Analyse der australischen Deakin University und der amerikanischen Ohio State University wertete 97 Studien aus und bestätigte den positiven Einfluss von intuitiver Ernährung auf das Körperbild, Selbstwertgefühl und Wohlbefinden.
Vorgaben zu gesunder Ernährung über Bord werfen
Das Prinzip beruht auf der Annahme, dass wir eine Körperintelligenz besitzen, einen inneren Ernährungskompass. Jüngst fanden Forscher der Universität Bristol heraus, dass wir Lebensmittel so auswählen, dass sie unseren Bedarf an Vitaminen und Mineralien decken und Nährstoffmängel vermeiden.
In einer Reihe von Versuchen wählten Erwachsene eines von zwei Paaren von Obst und Gemüse. Dabei bevorzugten sie intuitiv «abwechslungsreiche» gegenüber «eintönigen» Paaren, sie wählten also die Kombinationen mit einer grösseren Palette an Mikronährstoffen aus.
Kein Lebensmittel ist per se gesund oder ungesund. Für den einen ist Lauch unverträglich, für den anderen ist er ein Energetikum.
«Menschen sind ursprünglich intuitive Esser», sagt Raoul Furlano, Leiter der Abteilung Pädiatrische Gastroenterologie und Ernährung am Universitäts-Kinderspital beider Basel. Babys drehen den Kopf weg, wenn sie satt sind, Kinder lassen auch mal zwei Löffel Joghurt im Becher übrig. «Doch Kinder verlieren diese Fähigkeit nach und nach und werden vom Angebot und den Regeln beeinflusst», sagt Furlano.
«Zum Glück findet gerade ein Paradigmenwechsel in der Ernährungsforschung statt.» Die Vorgaben zu gesunder Ernährung würden langsam über Bord geworfen. Solche wie: Man müsse fünf Portionen Obst und Gemüse am Tag essen oder es brauche einen bestimmten Anteil Milchprodukte.
Vorher fragen: Will ich das wirklich essen? Brauche ich das oder habe ich nur Stress oder Langeweile?
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«Eine gesunde Ernährung ist jene, die dem Körper guttut», sagt Furlano. Das könne bei jedem Menschen eine andere sein. «Kein Lebensmittel ist per se gesund oder ungesund.» Für den einen sei Lauch unverträglich, für den anderen ist er ein Energetikum. «Essen soll intuitiv sein, ohne Befehle, damit es Freude macht und der Körper lernt, was er braucht.»
Diese Freiheit zuzulassen, kostet Überwindung. Nadja und Anna wollten es versuchen. Sie stiessen auf das deutsch-schweizerische Coaching-Startup Confidimus, das Familien bei der Einführung von intuitiver Ernährung unterstützt. Den Frauen war klar, dass sie auf Machtausübung verzichten wollten. Gefährlicher als ein Nährstoffmangel oder eine Überversorgung ist nämlich eine Essstörung.
Ein weiterer Artikel zum Thema Essstörung:
Bei Confidimus entfallen Vorschriften wie abends keine Süssigkeiten, das Hauptgericht kommt vor dem Dessert, Speisen müssen probiert oder gar aufgegessen werden. Stattdessen zählt Vertrauen.
Konkret sah das so aus: Nadja erklärte Milian, dass er nun selbst entscheiden könne, was und wie viel er esse. Sie werde ihm weiter Angebote machen, aber keine Vorschriften. Dann brauchte sie starke Nerven. Milian ass Glace zum Frühstück, zum Mittag- und zum Abendessen. «Er hat fast drei Wochen lang extrem viel Süsses gegessen», sagt Nadja. Danach wurde es besser.
- Evelyn Triole, Elyse Resch: Intuitiv abnehmen. Zurück zu natürlichem Essverhalten. Goldmann 2013, 448 Seiten, 18 Fr.
- Julia Litschko, Katharina Fantl: Dein Kind isst besser, als du denkst! Warum Eltern dem inneren Ernährungskompass vertrauen können – Das Confidimus-Prinzip. Kösel 2021, 320 Seiten, 32 Fr.
Sie liess einen Obstteller auf dem Tisch stehen – und Milian ass davon. Er fragte plötzlich nach einer Mandarine. Dann nach Peperoni. Nudeln wanderten zurück auf seinen Speiseplan und die geliebten Brötchen. «Milian hat jetzt wieder ein gesundes Essverhalten und ernährt sich ausgeglichen», sagt Nadja.
Die Krise mit der Nahrungsverweigerung liegt rund eineinhalb Jahre hinter ihnen. Kürzlich hatte Milian eine Phase, in der er fast nur Chips ass, er probierte alle Sorten durch. Nadja vertraute weiter auf die intuitive Ernährung. Nach zwei Wochen rührte Milian ganz von selbst keine Chips mehr an.
Intuitive Ernährung funktioniert nur, wenn alle dahinterstehen
Das Vertrauen zu behalten, das ist der Schlüssel. Nadjas erster Versuch, intuitives Essen einzuführen, scheiterte, weil ihr Lebensgefährte da noch nicht überzeugt war. Zwei Wochen lang hielt er den Süssigkeiten-Exzess seines Sohnes aus, dann sagte er: «Das geht so nicht! Das wird einfach zu viel!» Sie brachen ab.
Erst nachdem sie gemeinsam eine Coachingstunde besucht hatten, standen beide hinter dem Konzept. «Damit es funktioniert, muss man alle an der Erziehung Beteiligten mit ins Boot holen», sagt Nadja. Und auch das Umfeld über die neuen Regeln aufklären.
Ich bezweifle, dass Kinder den Konsumreizen widerstehen und auf ihr echtes Bauchgefühl hören können.
Silvia Schmidt, Ernährungsberaterin
«Wenn alle Bescheid wissen, wird es normal», sagt Nadja. Der gleichaltrige Nachbarsjunge, der oft zu Besuch kommt, war anfangs völlig überwältigt, wenn sich Milian stolz an der Süssigkeitenschublade bediente, ohne zu fragen. Mittlerweile spielt diese für die Jungs kaum eine Rolle. Und wenn Milian bei anderen Familien ist, weiss er, dass die dortigen Regeln auch für ihn gelten.
Als Anna aus Bern ihren beiden Töchtern, 11 und 13, sagte, sie dürften selbst über ihr Essen entscheiden, machten sie grosse Augen. «Sie fragten mich, ob ich das ernst meine. Als ich nickte, sah ich, wie eine Last von ihnen abfiel.» Die nächsten Wochen konnte Anna kaum so schnell Süsses nachkaufen, wie die Vorräte schwanden. Die eine Tochter ass dazu nur Nudeln, die andere nichts als Fleisch. Dabei hatte Anna immer versucht, auf eine ausgewogene Mahlzeit mit Gemüseanteil zu achten. Auch hier war die Phase nach ein paar Wochen vorbei.
Es hat viel verändert. Früher verweigerte Anna ihrer Tochter den dritten Nachschlag Nudeln, jetzt isst Sarah kleinere Portionen und lässt sogar manchmal etwas übrig. Einmal pro Woche kocht die Elfjährige selbst. «Sie macht Ofengemüse mit selbstgemachten Pommes oder Nudeln mit verschiedenen Saucen», sagt ihre Mutter. «Sie hat wirklich Freude daran und ernährt sich ziemlich ausgewogen.»
Viele können nicht mehr zwischen Hunger und Appetit unterscheiden
Silvia Schmidt, Präsidentin des Berufsverbands Ernährungs-Psychologische Beratung Schweiz, erklärt sich solche Wirkungen so: «Wenn der Druck raus ist, kann das Kind anfangen, auf sich zu hören. Indem es selbst entscheidet, übernimmt es Verantwortung für sich – das ist ein Ansporn.»
Sie begrüsst diesen entspannteren Umgang mit Ernährung. Aber das Konzept des intuitiven Essens findet sie zu extrem. «Ich glaube, wir können das nicht mehr.» Im Laden werde Ungesundes stets ansprechender präsentiert als die gesunden Sachen. Sie bezweifelt, dass Kinder in der Konsumgesellschaft solchen Reizen widerstehen und auf ihr echtes Bauchgefühl hören können.
Für die Auswahl zu sorgen, ist Aufgabe der Eltern. Sie setzen den Rahmen, innerhalb dessen die Kinder entscheiden.
«Man muss seinen Körper sehr gut wahrnehmen können. Das ist uns leider abhandengekommen», sagt Silvia Schmidt. In ihrer Praxis sieht sie täglich Menschen, die nicht unterscheiden können, ob sie Hunger haben oder Appetit, ob sie Süsses brauchen oder Salziges. «Ich glaube, wenn schon wir Erwachsenen das nicht schaffen, ist es für Kinder erst recht schwierig. Sie lernen vom Vorbild.»
Anna versucht, ihren Töchtern Achtsamkeit vorzuleben. Sie isst langsamer und macht Pausen, um zu spüren, ob sie satt ist. Sie beschreibt ihre Freude, wenn sie ein Stück Kuchen zum Kaffee geniesst. Apropos Kuchen: Das Suchtpotenzial von Zucker ist oft Thema, wenn es um intuitive Ernährung geht.
Der Drang von Kindern nach Süssem ist evolutionär bedingt. Kalorienbomben dienten dem Überleben, süsser Geschmack war ungefährlicher als Bitteres, das auf Giftstoffe hindeuten konnte. Kinderarzt Furlano sieht die Freiheit, die intuitives Essen den Kindern in Bezug auf Süssigkeiten bietet, entspannt. «Wenn die Kinder eine gewisse Auswahl zur Verfügung haben, werden sie sich nicht ausschliesslich von Zucker ernähren.»
Für diese Auswahl zu sorgen, ist Aufgabe der Eltern. Sie setzen den Rahmen, innerhalb dessen die Kinder entscheiden. Gibt es Kartoffeln mit Spinat und Fisch, sind das schon drei Komponenten, aus denen gewählt werden kann. Nadja aus Graz stellt am Abend Konfitüre auf den Tisch, genauso wie geschnittenes Gemüse. Milian rührt den süssen Aufstrich oft nicht an – weil er sowieso immer verfügbar ist. Anna aus Bern kauft ihren Töchtern die Süssigkeiten, die sie möchten, als Wochenvorrat. Die Mädchen entscheiden, wann sie davon essen.
Das Wichtigste ist für beide Mütter die Balance, in die ihre Familien zurückgefunden haben. Die Entspannung beim Essen. «Ich bin viel gelassener geworden», sagt Anna. «Ich habe mir Kommentare und prüfende Blicke abgewöhnt. Es geht bei uns am Tisch nicht mehr nur ums Essen. Wir haben Raum für andere Themen. Und von denen gibt es mit zwei Teenagern ja genug.»
- Viele Vorgaben zu gesunder Ernährung sind veraltet. Es gewinnt die Ansicht an Bedeutung: Gesund ist, was dem Körper guttut.
- Intuitive Ernährung hat einen positiven Effekt auf das Körperbild, Selbstwertgefühl und Wohlbefinden.
- Das Prinzip beruht auf der Annahme, dass wir eine Körperintelligenz besitzen, einen inneren Ernährungskompass. Studien bestätigen das. Menschen sind ursprünglich intuitive Esser.
- Statt Regeln und Mengenvorgaben zählen Achtsamkeit und Vertrauen. Eltern machen Angebote, keine Vorschriften.
- Damit intuitive Ernährung funktioniert, muss man den Körper sehr gut wahrnehmen. Das haben viele Erwachsene verlernt. Das ist eine grosse Hürde, denn Kinder lernen am Vorbild.
- Die Reizüberflutung der Konsumgesellschaft ist für Kinder eine grosse Herausforderung. Werbung und Alltagsstress erschweren es, ihre echten Bedürfnisse zu spüren.
- Intuitive Ernährung sorgt für Entspannung im Umgang mit Essen. Damit sie im Familienleben funktioniert, sollten alle gemeinsam üben.