Wie essen wir entspannt am Familientisch?
Merken
Drucken

Wie essen wir entspannt am Familientisch?

Lesedauer: 4 Minuten

Gemeinsame Mahlzeiten sind eine grosse Chance für Familien, sich im Alltag zu sehen und sich auszutauschen. Am besten ohne Streit, Stress, Kritik und Extrawürste.

Text: Sandra Markert
Bild: iStock

Eins, zwei, drei – hoch!» Bevor meine Familie mit dem Essen beginnt, heben wir alle zusammen kurz den Esstisch an. Zugegeben, das ist ein bisschen skurril. Die Kinder haben sich das aus Astrid Lindgrens Film «Ferien auf Saltkrokan» abgeschaut. Und lieben es.

Die Grossmutter ­hatte dafür kürzlich nur ein Stirnrunzeln übrig. Aber sie ist auch zu einer Zeit aufgewachsen, in der Kinder am Tisch vor allem ruhig sein sollten und aufessen, was auf den Teller kam.

«Seit den 80er-Jahren haben wir hier zum Glück einen Paradigmenwechsel in der Erziehung erlebt. Statt Gehorsam zu predigen, dürfen Eltern nun selbstverantwortlich entscheiden, welche Werte beim Essen gelten sollen», sagt Alexandra Heisenberg, Familienberaterin aus Luzern, die auch im Beratungsnetzwerk familylab Schweiz tätig ist.

Am Esstisch zeigt sich, wie es der Familie gerade geht.

Die Herausforderung an dieser neuen Freiheit: Es braucht weiterhin Grenzen, damit sich alle am Tisch wohlfühlen. «Mit der Geburt eines Kindes wird inzwischen aber oft der Hochstuhl zum Thron. Das Kind steht ständig im Mittelpunkt, die Eltern werden zu Bediensteten», so die Familienberaterin. 

Die Folge: Während die Eltern mit dem Kochen von dreierlei Kinder-Lieblingsgerichten beschäftigt sind, Kleckereien wegputzen und Gezänk am Tisch genauso ertragen wie den Dauerblick aufs Smartphone, vergeht ihnen oft selbst der Appetit. Manche essen dann später, ohne Kinder. Was schade ist. 

Denn gemeinsame Mahlzeiten halten Familien zusammen. Sie sind ein zentraler Ort, um zusammen zu lachen, zu streiten oder sich auch mal nur anzuschweigen. Am Esstisch zeigt sich, wie es der Familie gerade geht. Selbst Teenager tauchen hier regelmässig auf, weil Essen ein Grundbedürfnis ist – anders als die Eltern zum Spaziergang zu begleiten. 

Will man, dass Mahlzeiten gemeinsam begonnen werden, der Mund zum Reden leer ist oder das Smartphone ausser Reichweite, erfordert das eine klare Kommunikation.

Es lohnt sich als Familie also, eine entspannte, gemeinsame Tischkultur zu etablieren. Einige Denkanstösse, wie das gelingen könnte.

1. Tischregeln

Allgemeingültige Tischregeln – das war einmal. «Heute entwickelt sich in jeder Familie eine eigene Esskultur», sagt Familienberaterin Christine Ordnung vom Deutsch-Dänischen Institut für Familientherapie und Beratung. Eigentlich toll: Wer keinen Wert auf korrekte Besteckhaltung legt, lässt es eben bleiben. Und nutzt die knappe Zeit am Familientisch lieber für andere Themen. Will man aber, dass Mahlzeiten gemeinsam begonnen werden, der Mund zum Reden leer ist oder das Smartphone ausser Reichweite, erfordert das eine klare Kommunikation. 

Tipp: Die richtige Besteckhaltung mit einem vornehmen Prinz- und Prinzessinnen-Essen verbinden. Und danach auch mal einen Schweinetag einlegen.

Oft sind die Vorstellungen der Eltern sehr diffus. Oder die Ansprüche unrealistisch hoch. Also lieber kleine Schritte, die allen guttun. «Das Essen soll schliesslich weiterhin Spass machen», sagt Katrin Künzle, die seit 2005 Knigge-Kurse für Kinder zwischen 8 und 12 Jahren in der Schweiz anbietet. Ihre Anregungen: Die richtige Besteckhaltung mit einem vornehmen Prinz- und Prinzessinnen-Essen verbinden. Und danach auch mal einen Schweinetag einlegen, bei dem alle mit den Händen essen dürfen.

Hauptsache, die Kinder stehen beim Essen nicht ständig unter Beobachtung und werden für jedes kleine Fehlverhalten kritisiert. «Dass einem dabei schnell der Appetit vergeht, merken Eltern, wenn Kinder den Spiess mal umdrehen», so die Knigge-Expertin. 

2. Verschiedene Geschmäcker

Zu bitter, zu scharf, zu sauer: Für Kinder sind viele Lebensmittel ­wahre Geschmacksexplosionen, weil sie von Geburt an doppelt so viele Geschmacksknospen haben wie Erwachsene. Da scharfe Beeren oder bittere Pflanzenteile oft giftig sind, war das früher überlebenswichtig. Mit den Jahren lernen Kinder durch Nachahmung, was man essen kann und was nicht, der Geschmackssinn stumpft ab und der Speiseplan wird vielfältiger. Voraussetzung: Die Eltern lassen diese Entwicklung zu.

Das Ziel beim Essen ist es nicht, dass jedem jeden Tag alles schmeckt.

Alexandra Heisenberg

Häufig passiert aber Folgendes: Dem Kind schmeckt etwas nicht (Gemüse!), Vater oder Mutter kochen eine Alternative, das Kind gewöhnt sich an sein Kinderessen und fordert es ein, die Eltern beklagen sich: was für ein schnäderfrässiges Kind! «Dabei sind Kinder eigentlich nicht wählerisch, sie wollen das essen, was die Gemeinschaft isst. Aber wenn Eltern ihnen jeden Sonderwunsch erfüllen, nehmen sie das natürlich an», sagt Christine Ordnung.

Eltern haben auch beim Essen eine Vorbild- und Führungsfunktion. Sie entscheiden, was eingekauft und gekocht wird. «Das Ziel dabei ist es nicht, dass jedem jeden Tag alles schmeckt», sagt Alexandra Heisenberg.

Es reicht, wenn ein Gericht auf dem Tisch steht – das aber nicht jeder essen muss. «Dann holt sich das Kind eben ein Brot oder ein Müesli. Und für die nächste Mahlzeit kann man vielleicht eine gemein­same Einkaufsliste schreiben oder zusammen kochen», findet Familienberaterin Heisenberg.

Gut zu wissen
5 schnelle Tricks für ein ­entspannteres Essen

  1. Gemeinsam mit dem Essen anfangen ist schön. Stehen schon Brot, Rohkost oder Oliven zum Knabbern auf dem Tisch, schaffen das vielleicht alle ohne Proteste.
  2. Kindergarten- und Primarschulkinder haben einen enormen Bewegungsdrang. Stillsitzen am Tisch ist für sie eine echte Herausforderung – und muss vielleicht nicht ausgereizt werden, bis alle mit dem Essen fertig sind.
  3. Wer sein Essen selbst schöpft, bekommt ein Gefühl für die Menge. Dann schaffen es auch Kinder, den Teller leer zu essen.
  4. Gesunde, ausgewogene Mahlzeiten sind wichtig. Aber eine Woche nur Nudeln ohne Sauce essen macht noch keinen krank. Und auch Ausnahmen vom gesunden Lebensstil gehören hin und wieder zu guten Mahlzeiten dazu.
  5. Geschwister müssen täglich eine bestimmte Anzahl Konflikte austragen, um ihr Revier zu markieren und Hierarchien abzustecken. Wenn Familien nicht alle Tage voll verplanen und sich nur zu den Mahlzeiten sehen, kann dieses Gezanke auch abseits des Esstisches stattfinden.

3. Die Stimmung

Die Gespräche plätschern, hin und wieder wird leise gelacht und jedem schmeckt es: So läuft ein schönes Abendessen mit guten Freunden ab.

Die Verantwortung für eine gute Atmosphäre beim Essen tragen die Eltern.

Alexandra Heisenberg

Mit den eigenen Kindern klappt das häufig nicht. Weshalb sich Eltern durchaus die Frage gefallen lassen müssen: Sind sie ihren Kindern eigentlich gute Gastgeber? 

«Die Verantwortung für eine gute Atmosphäre beim Essen tragen die Eltern», sagt Alexandra Heisenberg. Die Zutaten dafür sind nicht anders, als wenn man Besuch erwartet: Für entspannte Stimmung sorgen kann nur, wer selbst entspannt ist.

Dazu gehört auch, genügend Zeit fürs Einkaufen, Kochen und Essen einzuplanen und dafür vielleicht die eine oder andere Freizeitaktivität zu streichen. Auch im Alltag mal eine Kerze auf dem Esstisch anzuzünden. Das Smartphone wegzulegen, weil die Aufmerksamkeit den Menschen am Esstisch gehört. Und Gesprächsthemen zu wählen, bei denen sich alle wohlfühlen. Fragen nach Schule oder den Hausaufgaben gehören da vielleicht eher nicht dazu.

Sandra Markert
ist freie Journalistin und Mutter von drei Kindern im Kindergarten- und Primarschulalter. Sie lebt mit ihrer Familie am Bodensee.

Alle Artikel von Sandra Markert