«Wer zum Essen gezwungen wird, vertraut seinen Körpersignalen nicht mehr»
Ernährungswissenschaftlerin Marianne Botta sagt im Interview, woran sich Eltern vor lauter Ernährungstrends noch orientieren können und wieso man sein Kind getrost auch mal den ganzen Schoggihasen essen lassen kann.
Frau Botta, ein Ernährungstrend jagt den nächsten. Was heute der letzte Schrei ist, gilt morgen schon wieder als überholt und ungesund. Wie sollen sich Eltern in diesem Dschungel an Tipps und Ratschlägen noch zurechtfinden?
Am besten überlegt man sich bei einem Lebensmittel, ob es die eigene Urgrossmutter gegessen hätte. Ganz nach dem Motto: Zurück zu den Wurzeln. Man sollte auf seine eigenen Körpersignale achten: Wie schmeckt es mir? Tut es mir gut? Wie fühle ich mich nach dem Essen? Bin ich satt?
Viele Jugendliche wissen nicht mehr, was Blumenkohl ist oder wie man eine Zitrone auspresst.
Vielen Jugendlichen fehlt heutzutage die Basis, um sich bewusst mit ihrer Ernährung auseinanderzusetzen. Das erlebe ich als Lehrerin im Hauswirtschaftsunterricht. Die Schülerinnen und Schüler wissen nicht mehr, was Blumenkohl ist oder wie man eine Zitrone auspresst.
Wie kann man dem entgegenwirken?
Indem man möglichst abwechslungsreich kocht und isst und die Kinder so früh wie möglich mit einbezieht. Kinder probieren deutlich mehr, wenn sie beim Einkaufen und Kochen mithelfen dürfen.
Woran können sich Eltern orientieren?
Was immer gilt, ist: Saisonal, regional, artgerechte Tierhaltung, und einen möglichst kurzen Weg vom Acker auf den Teller. Je stärker etwas verarbeitet ist, umso ungesünder ist es. Je länger die Zutatenliste eines Produktes ist, umso schlechter. Der Menüplan sollte ausserdem möglichst abwechslungsreich und farbig sein.
Kinder und Jugendliche durchleben verschiedene Phasen, die kommen und wieder vorübergehen. Wie stark sollen Eltern darauf reagieren, wenn das Kind beim Essen eine neue Angewohnheit hat?
Das hängt stark vom Alter ab. Bei kleinen Kindern kann man grundsätzlich ein paar Lebensmittel «abwählen», es soll aber alles probieren. Bei Teenagern muss man herausfinden, was das Kind damit bezwecken will.
Eltern von Teenagern sollten die Augen offen halten für allfällige Essstörungen.
Will es nur die Eltern ärgern? Fühlt es sich nicht wohl in seinem Körper? Hat es Akne? Hier ist es wichtig, dass man die Jugendlichen ernst nimmt und nach dem Warum fragt. Und dass man gemeinsam nach Lösungen sucht.
Mein Sohn hat vor drei Jahren beschlossen, sich vegan zu ernähren. Da habe ich gesagt: Das können wir machen, aber wie machen wir es? Wann kochst du? Wann koche ich? Wo nehmen wir die Rezepte her? Was bist du bereit, dazu beizutragen? Es ist nicht nur an uns, wir sind ja kein Hotel.
Ein weiterer Artikel zu veganer Ernährung bei Jugendlichen:
Wichtig ist in diesem Alter einfach, dass man die Augen offen hält für allfällige Essstörungen. Denn je früher man etwas diagnostiziert, umso früher kann man es behandeln. Eine Option ist auch, dass man dem Kind sagt: Wir probieren es mal drei Wochen und dann schauen wir weiter. Dann merkt man oft, wie ernst es dem Kind ist und ob es sich nur um eine Phase handelt.
Oft sind Eltern verunsichert, wenn ihr Kind etwas plötzlich gar nicht mehr essen will oder nur noch ein bestimmtes Lebensmittel. Zurecht?
Auch hier kommt es auf das Alter an. Bei kleinen Kindern unter sechs Jahren gibt es die Neophobie: Neue Lebensmittel sind ihnen suspekt, und wenn sie etwas jeden Tag essen, wollen sie es irgendwann gar nicht mehr. Wenn man für eine abwechslungsreiche Ernährung sorgt, passiert das mit dem Verleiden weniger. Kinder müssen ein neues Lebensmittel 15-mal probieren, bis sie es mögen. In den ersten zehn bis zwölf Lebensjahren sollten sie deshalb möglichst von allem probieren.
Wenn Kinder immer nur dasselbe essen, verleidet es ihnen irgendwann.
Natürlich kann man aber gemeinsam ein paar Lebensmittel festlegen, die das Kind nicht essen will und auch nicht probieren muss. Mit drei bis fünf Sachen, die man nicht isst, kommt man problemlos durchs Leben. Einer meiner Söhne mag zum Beispiel Bananen und Mayonnaise nicht, das geht gut. Wenn jemand Fenchel und Broccoli nicht isst, aber Gemüse sonst gerne hat, ist das auch kein Problem.
Wie schlimm ist es, wenn Kinder sich nur von Spaghetti mit Tomatensauce ernähren?
Das sind Phasen. Wenn Kinder immer nur dasselbe essen, verleidet es ihnen irgendwann. Sollen sie das doch machen, das geht keine drei Wochen – kein Kind zieht das auf Dauer durch. Wichtig ist, dass die Eltern dazu noch andere feine und gesunde Sachen kochen.
Irgendwann hat man zu viel von etwas gegessen, in dieser Hinsicht sind unsere Gene ziemlich gescheit. Gerade auch bei Schokolade zum Beispiel ist es besser, wenn man einmal so viel isst, dass es einem verleidet. Da kann man schon mal eine Süssigkeiten-Olympiade machen oder den ganzen Schoggihasen auf einmal essen.
Wie kann man Kindern eine neue Mahlzeit schmackhaft machen?
Man soll sie spielerisch zum Probieren animieren. Das ist ganz wichtig, dass es spielerisch passiert und kein Zwang ist. Als meine Kinder noch klein waren, habe ich mit ihnen immer gerne das Schlecken-Spucken-Schlucken-Spiel gemacht: In einem ersten Schritt schleckt das Kind ein Lebensmittel nur ab, es muss es nicht essen. Dafür wird es gelobt und das Abgeschleckte darf wieder weggelegt werden. Wenn das gut geht, kann es in einem weiteren Schritt darauf herumbeissen, muss es aber nicht runterschlucken. Und erst, wenn das auch geht, fängt es an, ein kleines Stückchen runterzuschlucken.
Eltern sollten sich keine Machtkämpfe mit den Kindern liefern, in keinem Alter.
Eine gute Idee ist es auch, Brücken zu bauen. Wenn das Kind ein neues Gemüse probieren soll, kann man beispielsweise die Lieblingspizza damit belegen. Wichtig ist, dass die Eltern mit gutem Vorbild vorangehen. Sie sollen selber alles probieren und sich abwechslungsreich ernähren.
Welches ist der häufigste Fehler, den Eltern in Bezug auf die Ernährung machen?
Sie lassen sich auf Machtkämpfe ein. Sie erzwingen etwas und machen Druck. Das geht aber nicht beim Essen. Wenn Kinder zum Essen gezwungen werden, vertrauen sie ihren eigenen Körpersignalen nicht mehr.
Viele Eltern geben viel zu schnell auf.
Ausserdem: Wenn sich ein Kind richtig doof verhält am Esstisch, hat es die gesamte ungeteilte Aufmerksamkeit der Eltern. Wieso sollte es also damit aufhören? Eltern sollten sich keine Machtkämpfe mit den Kindern liefern, in keinem Alter. Das bringt nichts. Man sollte einfach ein bisschen gelassener sein. Das heisst nicht, dass man keine Regeln hat oder kein gutes Vorbild sein muss.
Viele Eltern sind konsterniert, wenn ihr Kind, das jahrelang Broccoli gegessen hat, ihn plötzlich verschmäht. Wie verändert sich der Geschmackssinn von Kindern?
Der Geschmackssinn wird schon während der Schwangerschaft geprägt. Deshalb sollte eine Mutter schon da möglichst abwechslungsreich essen, damit sich das Kind an diese Geschmäcker gewöhnt. Wenn man während der Schwangerschaft Knoblauch isst und ihn gut verträgt, mag ihn das Kind während der Stillzeit auch gut verleiden. Wer stillt, sollte also möglichst abwechslungsreich essen.
Gemeinsames Essen am Familientisch kann zur Suchtprävention beitragen.
Viele Eltern geben auch viel zu schnell auf, nach zwei bis drei Versuchen sagen sie: Mein Kind isst das und das nicht. 15-mal ist viel. Da muss man dranbleiben.
Wie sorgt man für eine entspannte Atmosphäre am Familientisch?
Indem man sich überlegt, was man am Esstisch erreichen will. Welche Regeln gelten für die Erwachsenen? Welche für die Kinder? Das Essen mit einem Ritual zu beginnen, kann viel Positives bewirken. Oder wenn man dem Kind frühzeitig mitteilt, dass es bald Essen gibt und es dann mit dem Spielen aufhören soll.
Am besten ist es, wenn man das gewünschte Verhalten einfach vorlebt. Eltern sollen die Haltung vermitteln: Das ist fein, wir freuen uns auf das Essen.
Warum ist das gemeinsame Essen für eine Familie so wichtig?
Studien haben gezeigt, dass gemeinsames Essen am Familientisch sogar zur Suchtprävention beitragen kann. Unsere Esskultur ist ein sozialer Bestandteil und ein wichtiger Austausch. Man redet über den Tag, erzählt von Erlebnissen und Erfahrungen. Da trifft sich die Familie. Es ist nicht der Moment, um über schlechte Noten zu diskutieren.