Was tun, wenn die Tochter vegan durch die Pubertät will?

Immer mehr Menschen möchten nicht nur auf Fleisch, sondern auf alle tierischen Produkte verzichten. Oft äussern Mädchen im Teenageralter diesen Entschluss und stellen damit ihre Eltern vor Fragen – und die Familie vor Herausforderungen. Wie eine vegane Ernährung gelingen kann.
Neulich beim Znacht: «Übrigens, ich ernähre mich ab sofort vegan», sagt die 14-Jährige. «Was heisst das genau?», will ihr jüngerer Bruder wissen. «Dass ich nichts Tierisches mehr esse.» «Na, viel Spass, da bleibt ja nicht viel übrig!», grinst der 12-Jährige. Die Eltern schauen sich an: vegan? Als die Tochter vor drei Jahren verkündete, kein Fleisch mehr essen zu wollen, nahmen sie ihr Ansinnen zunächst nicht ernst. «Zwei Wochen maximal, länger hält sie das nicht aus», war der Vater überzeugt.
Doch das Kind blieb standhaft, «weil mir die Tiere leidtun», verkündete es. Und die Familie passte nach und nach den Speiseplan an. «Wir essen ohnehin nicht viel Fleisch», sagt die Mutter. «Ausserdem gibt es ja viele tolle Alternativen. Für uns als Familie war es somit die Chance, neue Dinge auszuprobieren.» Aber nun vegan?
Auf tierische Produkte komplett zu verzichten, ist mehr als ein Trend. Laut einer aktuellen Studie im Auftrag der Berliner Heinrich-Böll-Stiftung hinterfragen knapp 40 Prozent der jungen Erwachsenen ihren Fleischkonsum.
12,3 Prozent haben ihn komplett eingestellt, ernähren sich vegetarisch oder vegan – Tendenz steigend. Ethische Gründe wie Tierschutz und Tierhaltung sind unter Teenagern die häufigsten Motive bei der Entscheidung für einen veganen Lebensstil.
Ernährung ist ein Mittel, um sich abzugrenzen
Es ist kein Zufall, dass sich gerade in dieser Altersgruppe viele dafür entscheiden. Schliesslich ist die Adoleszenz die Zeit, in der sich Jugendliche selbst hinterfragen: Wer bin ich? Was will ich? Welchen Beitrag zu einer besseren Welt kann ich leisten? Gleichzeitig ist Ernährung mitunter auch ein Mittel, um sich abzugrenzen.
Jugendliche, die vegan essen, entwickeln sich ebenso gesund wie andere.
Ernährungsmediziner Pascal Müller
Vor 20 Jahren konnte man seine Eltern vielleicht noch mit der Mitteilung «ich esse kein Fleisch mehr» schocken. Heute ist vegetarisch eine Spielart, auf die sich Lebensmittelbranche und Restaurants, aber auch die Bevölkerung längst eingestellt haben. Wer ein Zeichen setzen will, muss schon vegan leben.
Doch ist die Pubertät – also wenn sich der kindliche zum erwachsenen Körper umbaut und entwickelt – eine gute Zeit für eine radikale Ernährungsumstellung? «Die deutsche Vechi-Youth-Studie – eine Untersuchung, zu der sich Teilnehmende freiwillig melden konnten – zeigt, dass sich vegan ernährte Kinder und Jugendliche ebenso gesund entwickeln wie andere», sagt Pascal Müller, Ernährungsmediziner am Kinderspital St. Gallen.
Repräsentative Studien zum Langzeitverlauf fehlen jedoch noch zu diesem Thema. Klar sei aber: Weil in der Adoleszenz viele körperliche und psychische Entwicklungsschübe stattfinden, könne es in dieser Phase generell eher zu Mangelerscheinungen kommen als etwa im stabileren Erwachsenenalter. Deshalb sei es wichtig, eine radikale Ernährungsumstellung in diesem Alter von Fachpersonen begleiten zu lassen – von Ernährungsberatenden etwa oder der Kinderärztin.
Das Kind ernst nehmen und nach den Gründen fragen
Zunächst sollten Eltern jedoch der Frage nachgehen, warum ihr Kind vegan leben will, findet Karolin Rose, Ernährungsberaterin am Kinderspital Zürich. Sie rät: «Als Elternteil würde ich das nicht als Phase abtun, die wieder vergeht.» Stattdessen gelte es herauszuspüren: Was steckt wirklich dahinter? Die Peergroup? Social Media und Influencer? Oder ökologische und ethische Aspekte? Kurz: das Kind ernst nehmen und mit ihm diskutieren. Gleichzeitig sei dies ein guter Anlass, eigene Essgewohnheiten zu überdenken.
Wichtig ist, nicht nur etwas wegzulassen, sondern sich auch zu überlegen: Was esse ich stattdessen? Wie ernähre ich mich künftig konkret?
In einem zweiten Schritt gelte es dann, den Nachwuchs zu fragen: Wie hast du dich bereits über vegane Ernährung informiert? Wie stellst du dir das vor? Und vor allem: Wie ernährst du dich in Zukunft konkret? «Vegan definiert sich ja zunächst als ‹ich esse dies und das nicht›», sagt Marianne Honegger, Ernährungsberaterin in Zürich.
Wichtig ist nun, sich zu überlegen: Was esse ich stattdessen? Wie sieht gutes Essen aus? «Einfach nur tierische Produkte wegzulassen, ist aus gesundheitlicher Sicht das grösste Risiko», findet sie. Hier brauche es ein gewisses Grundwissen, aber auch Planung.
- Nährstoffe, die zusätzlich eingenommen – supplementiert – werden müssen: Vitamin B12, Vitamin D, Omega-3-Fettsäuren (z. B. in Form von Algenölkapseln).
- Proteine: Wer keine tierischen Proteine isst, sollte jeden Tag pflanzliche zu sich nehmen z. B. in Form von Hülsenfrüchten.
- Kalzium: Einzig mit Kalzium angereicherte Sojamilch eignet sich als Ersatzprodukt bei veganer Ernährung. Reis-, Mandel- und Hafermilch hingegen sind nur kulinarischer Ersatz und liefern keine wichtigen Nährstoffe. Dies gilt auch für veganen Käse, der meist proteinfrei ist – besser: Cashewkäse, Käse aus Tofu oder auf Basis von Erbsen-/Linsenprotein.
- Allgemein vielseitig und abwechslungsreich essen, auf vollwertige Produkte achten, wenig raffinierte Produkte (wie etwa Industriezucker) zu sich nehmen, um alle Nährstoffe zu erhalten.
- Bewusst Öl zum Kochen verwenden, z. B. Rapsöl wegen der Omega-3-Fettsäuren sowie jodiertes Speisesalz
Teenager sollen beim Einkaufen und Kochen Verantwortung mittragen
Doch was heisst dies genau für den Familienalltag? «Generell können ja alle vegan essen», sagt Karolin Rose, «es gibt da sehr gute Rezepte. Zudem profitiert die ganze Familie, wenn der Speiseplan vielfältiger wird, weil nun verstärkt Hülsenfrüchte, Nüsse und Kerne zum Einsatz kommen.»

Entscheidend sei jedoch, Jugendliche miteinzubeziehen. «Teenager sollten bei den Mahlzeiten zu Hause Verantwortung mittragen», findet auch Marianne Honegger. Also auch mal selbst das Znacht zubereiten oder konkrete Menüvorschläge machen und diese auch umsetzen, sprich Zutaten selbst einkaufen und kochen.
«Es kann nicht sein, dass Eltern nun immer zwei verschiedene Gerichte auf den Tisch stellen – hier müssen auch die Jugendlichen mithelfen.» Deshalb brauche es die Diskussion: Was tragen wir als Familie bei? Was du selbst?
SGE Schweizerische Gesellschaft für Ernährung (mit Merkblättern zur vegetarischen und veganen Ernährung): www.sge-ssn.ch
SVDE ASDD Schweizerischer Verband der Ernährungsberater/innen (mit Adressen von Fachpersonen): www.svde-asdd.ch
Gleichzeitig sollten Mutter und Vater ein Auge darauf haben, dass der sich vegan ernährende Nachwuchs regelmässig die nötigen Nahrungsergänzungsmittel einnimmt – also jene Nährstoffe supplementiert, die bei einer veganen Ernährung in der Regel zu kurz kommen, wie etwa Vitamin B12. «Im Notfall gilt es hier Grenzen zu ziehen», findet Rose.
«So wie bei Kindern, die alles essen: Hier achtet man ja auch darauf, dass sie nicht nur Süssigkeiten und Energy-Drinks zu sich nehmen.» Ausserdem rät die Ernährungsberaterin zu einer Blutanalyse einmal jährlich, um die Versorgung mit den wichtigsten Nährstoffen zu überprüfen.
Ernährungsmediziner Pascal Müller gibt noch etwas anderes zu bedenken: «Sich vegan zu ernähren, kann auch eine sozial akzeptierte Form sein, um eine Essstörung zu kaschieren», sagt er. Deshalb gelte es bei der Motivation genau nachzuhaken. «Geht es dem Nachwuchs zum Beispiel vor allem darum, kalorienhaltige Lebensmittel zu ersetzen, würde ich hellhörig werden.»
- Eine vegetarische Ernährung, bei der gewisse tierische Lebensmittel wie Fleisch und Fisch gemieden werden, stellt mit entsprechendem Fachwissen und notwendiger Sorgfalt in jedem Alter eine adäquate Ernährung ohne Mangelversorgung dar.
- Eine vegane Ernährung – das heisst: keinerlei tierische Produkte werden konsumiert – sollte bei Kindern oder Jugendlichen nur unter ärztlicher Betreuung oder Kontrolle durch die Ernährungsberatung erfolgen und regelmässige medizinische Kontrollen beinhalten.
- Eine vegane Ernährung ist im Kindes- und Jugendalter ohne Supplemente nicht bedarfsdeckend: Mindestens Vitamin B12 muss ergänzt werden.