Picky Eating: Wenn Kinder nichts probieren wollen
Eltern liegt eine gesunde Ernährung ihrer Kinder am Herzen. Wenn die sich aber nur von Teigwaren mit Butter ernähren wollen, mutiert der Familientisch zur Nahkampfzone.
Wer kennt es nicht: «Wääh!», «Eklig!», «Das schmeckt mir nicht!», «Ich will was anderes!». Knapp die Hälfte aller Eltern durchlebt mit ihren Kindern eine Phase, in der der Nachwuchs sehr heikel ist. «Das gibt sich schon wieder», beruhigen dann andere Familien, bei denen die Kleinkinderzeit schon eine Weile her ist.
Und tatsächlich erweitert sich der Geschmackshorizont im Laufe der Primarschulzeit bei den meisten Kindern wieder. Aber nicht bei allen … Rund acht Prozent der Schulkinder sind und bleiben sogenannte Picky Eaters. Dieser Begriff beschreibt Menschen, die nur sehr wenige Lebensmittel mögen und neuen Speisen mit Skepsis oder sogar Angst begegnen. Sie wollen partout nichts Ungewohntes probieren und sind oft sehr empfindlich, was die Textur oder Konsistenz ihres Essens betrifft. Schmeckt etwas auch nur ein bisschen anders als gewohnt, weisen sie es angeekelt zurück.
Heikle Kinder – gestresste Eltern
Ein solch wählerisches Essverhalten entsteht nach aktuellem Forschungsstand aus einem Zusammenspiel zwischen Genen, vorgeburtlichen und kleinkindlichen Prägungen sowie späteren Erfahrungen rund um das Essen, wobei aber die genetische Veranlagung die grösste Rolle spielt. Dabei zeigen Studien auch, dass Picky Eating bei Kindern mit einer Autismus-Spektrum-Störung oder einer ADHS häufiger auftritt.
Wenn Kinder sich am liebsten ausschliesslich von Nudeln, Toastbrot, Chicken Nuggets und Pommes ernähren möchten und einen weiten Bogen um Gemüse machen, geraten Eltern unter Druck. Das gesellschaftliche Diktat, dass Kinder sich unbedingt gesund ernähren müssen und «gute Eltern» für eine ausgewogene Ernährung zu sorgen haben, ist allgegenwärtig. Von der «Fünf am Tag»-Regel für Früchte und Gemüse bis hin zu Vorgaben, was als Znüni in Kindergarten und Schule akzeptiert wird: Wir Eltern wissen heute sehr genau, was punkto Ernährung von uns erwartet wird.
Aber was, wenn das eigene Kind das alles nicht mitmacht? Dann springt das Kopfkino an: Was ist, wenn das Kind nicht richtig wächst, Mangelerscheinungen bekommt, über- oder untergewichtig wird oder sein Immunsystem unter der einseitigen Ernährung leidet?
Spätestens jetzt wird aus gemütlichen Familienmahlzeiten eine Kampfzone. Da ringen die Eltern bald um jede Erbse und jeden Apfelschnitz, indem sie ihrem Kind gut zureden, es zum Probieren drängen, ihm vorwerfen, dass sie sich beim Kochen doch solche Mühe gegeben hätten, oder mit den Folgen schlechter Ernährung drohen.
Druck befeuert Picky Eating
Bald entsteht ein Teufelskreis: Das Kind registriert die Spannungen, gerät selbst in Stress, was es noch vorsichtiger und ängstlicher werden lässt – vielleicht will es mit der Zeit gar nicht mehr an den Tisch kommen. Das zögerliche, vermeidende oder abwehrende Verhalten des Kindes beim Essen reizt die Eltern nur noch mehr und verführt sie dazu, zusätzlich Zwang, Kontrolle und Druck auszuüben.
Druck, Kontrolle, Belohnung mit Nachtisch oder Süssem, ständiges Auffordern zum Probieren oder Zwang, etwas aufzuessen, befeuert Picky Eating.
All das ist absolut verständlich, verstärkt aber oft das Problem. So zeigen verschiedene Studien, dass Druck, Kontrolle, Belohnung mit Nachtisch oder Süssem, ständiges Auffordern zum Probieren oder Zwang, etwas aufzuessen, Picky Eating befeuert und teilweise zu einer lebenslangen Abneigung gegen gewisse Speisen führt.
Leider existieren keine Tipps und Tricks, mithilfe derer sich das Essverhalten mäkeliger Kinder im Handumdrehen verändern liesse. Doch es gibt fünf wirksame Wege, die Picky Eating auf lange Sicht nachweislich reduzieren.
1. Eine entspannte Atmosphäre am Esstisch
Das wichtigste Ziel als Eltern heikler Kinder sollte darin bestehen, dass das Essen (wieder) zu einem gemütlichen, entspannten Moment wird, bei dem die Familie zusammenkommt. Damit uns das gelingt, kann es hilfreich sein, sich zuerst von ärztlicher Seite abzusichern, dass das Kind trotz seines aktuellen Essverhaltens keine Mangelerscheinungen hat, in keine Essstörung abrutscht und auch keine problematische Wachstums- oder Gewichtsentwicklung aufweist. Mit dieser Beruhigung im Hinterkopf fällt es oft leichter, selbst loszulassen.
Darüber hinaus können Sie auf das Konzept zur Verantwortungsaufteilung beim Essen zurückgreifen, das die Ernährungsspezialistin Ellyn Satter bereits 1986 entwickelt hat und das sich bei Picky Eating sehr bewährt hat: Die Eltern entscheiden, wann und wo gegessen wird und was gekocht wird; das Kind entscheidet, ob, wovon und wie viel es isst. Achten Sie darauf, dass Sie zu jeder Mahlzeit zumindest eine Zutat anbieten, die das Kind problemlos akzeptiert. Kochen Sie aber sonst so, dass es für die gesamte Familie stimmig ist.
2. Gewöhnung hilft
Kinder probieren eher, wenn sie bestimmte Speisen in einem kurzen Zeitraum sehr häufig sehen. Eltern können also ihrem Kind beispielsweise kommentarlos über zwei, drei Wochen hinweg zusätzlich zum gewohnten Zvieri ein kleines Schälchen mit einer Nussmischung hinstellen und für die Pause in der Schule einpacken. Jeden Tag wird es ein wenig wahrscheinlicher, dass das Kind neugieriger wird, sich an den Anblick der Nüsse gewöhnt und vielleicht sogar zugreift.
3. Gemeinsames Kochen baut Ängste ab
Mit verschiedenen Nahrungsmitteln zu hantieren, deren Konsistenz zu fühlen und sie zu riechen, baut nachweislich die für Picky Eaters typischen Ängste und ihre Skepsis ab. Wichtig: Drängen Sie Ihr Kind aber weder zum Kochen noch zum Probieren.
Wehe, die Sauce läuft über die Nudeln oder der Kartoffelstock berührt das Fleisch!
4. Zutaten einzeln anbieten
Die meisten Picky Eaters essen ihre Speisen gerne in Einzelkomponenten. Wehe, die Sauce läuft über die Nudeln oder der Kartoffelstock berührt das Fleisch! Einzelne Töpfe oder Schalen, aus denen sich das Kind selbst schöpfen kann, laden zum Probieren ein, ohne Druck aufzubauen. In manchen Familien haben sich auch Fondue-Chinoise-Teller mit verschiedenen Abteilen bewährt, damit sich Speisen nicht vermengen.
5. Kinder lernen am Modell
Oft schränken sich Eltern von heiklen Kindern mit der Zeit kulinarisch stark ein, man will ja nicht für den Kübel kochen! Sehen Kinder aber Geschwister oder Eltern, die bestimmte Speisen genüsslich essen, empfangen sie dadurch immer wieder die Botschaft: «Diese Nahrung ist sicher und kann gegessen werden.»
Fabian Grolimund und Stefanie Rietzler: «Willst du nicht wenigstens mal probieren?» Hogrefe 2024, 56 Seiten, 22 Fr., Altersempfehlung: 3 bis 6 Jahre