Essstörungen: Wenn Essen das Leben beherrscht
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Wenn Essen das Leben beherrscht

Lesedauer: 11 Minuten

Jugendliche fühlen sich oft zu dick oder zu schmächtig. Doch wann wird die Beschäftigung mit dem eigenen Körper problematisch? Was begünstigt Essstörungen? Wie können Eltern vorbeugen und bei Problemen rund ums Essen reagieren?

Text: Christine Amrhein
Bild: Adobe Stock

Mit 16 hört Nora auf, ihren Körper zu mögen. Oft steht sie vor dem Spiegel, starrt auf ihre Oberschenkel, ihren Bauch, ihre Arme. «Ich war mit meiner Figur und meinem Gewicht unzufrieden», erzählt die heute 21-Jährige, die anders heisst und nicht erkannt werden möchte. «Dabei habe ich mich mit anderen in meiner Familie und in der Schule verglichen – etwa mit einer Kollegin, die dünn war und essen konnte, was sie wollte. Ich wollte so schlank und sportlich sein wie sie. Das hat mich oft unter Druck gesetzt.»

Mit dem Gefühl, nicht zu genügen, ist Nora nicht allein. Dass Jugendliche Wert auf ihr Äusseres legen, komme sehr häufig vor und sei erst einmal normal, sagt Felicitas Forrer, Psychologin und Co-Leiterin der Psychotherapeutischen Praxisstelle der Universität Freiburg. «Ihr Selbstwert hängt stark von der Bewertung durch Gleichaltrige ab. Das Aussehen spielt für sie eine wichtige Rolle, um dazuzugehören. Daher vergleichen sie sich oft mit anderen und orientieren sich vor allem an Personen, die sie attraktiv finden», sagt sie.

Jugendliche mögen ihren Körper immer weniger und finden sich häufig zu dick – auch wegen Social Media.

Dieses Verhalten fällt ausgerechnet in eine Entwicklungsphase, in der sich der Körper stark verändert. «Bei Mädchen nehmen in der Pubertät durch die weiblichen Hormone die körperlichen Rundungen zu», sagt Dagmar Pauli. Sie ist Kinder- und Jugendpsychiaterin und Chefärztin an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich. «Das läuft dem Schönheitsideal des sehr schlanken weiblichen Körpers in unserer Gesellschaft entgegen. Für Jugendliche kann es daher schwierig sein, ihren Körper zu akzeptieren.»

Negativeres Körperbild als früher

Studien zeigen, dass das Körperbild von Jugendlichen in den letzten Jahrzehnten negativer geworden ist: Sie mögen ihren Körper immer weniger und finden sich oft zu dick. Eine grosse Rolle spielen dabei die Medien – insbesondere soziale Medien wie Instagram. Aber auch in vielen Familien und im sozialen Umfeld der Jugendlichen sind Themen wie Figur, Fitness und gesunde Ernährung allgegenwärtig.

«Schon die Mütter der heutigen Jugendlichen sind mit dem Schönheitsideal eines schlanken Körpers aufgewachsen und haben stark auf Gewicht und Figur geachtet», sagt Pauli. «Das geben sie – oft unbewusst – an ihre Kinder weiter.»

«Mädchen streben oft danach, sehr schlank zu sein», sagt Psychologin Felicitas Forrer. (Bild: Stocksy)

Die Kinder- und Jugendpsychiaterin hat aber auch eine gute Nachricht: «Trotz aller problematischen Einflüsse der Gesellschaft entwickeln die meisten Jugendlichen keine Essstörung», sagt sie. «Es ist auch normal, dass Teenager phasenweise viel oder weniger essen und nicht immer zufrieden mit ihrem Körper sind – vieles ist in dieser Entwicklungsphase im Umbruch.» Problematisch werde es, wenn sie sich ständig mit ihrem Aussehen beschäftigten und ihr Selbstwertgefühl stark darunter leide.

«Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper ist einer der wichtigsten Risikofaktoren für die Entwicklung einer Essstörung», betont auch Psychologin Felicitas Forrer. «Mädchen streben oft danach, sehr schlank zu sein. Daraus kann sich, wenn weitere Risikofaktoren hinzukommen, ein gestörtes Essverhalten entwickeln», so Forrer. «Doch auch Jungs machen sich zunehmend grosse Sorgen um ihr Aussehen. Ihr Ziel ist dabei eher, Muskeln aufzubauen. Manchmal entwickelt sich daraus eine Muskeldysmorphie, eine Muskelsucht.»

Doch warum entwickelt der eine Teenager – trotz temporärer Unzufriedenheit – über die Jahre eine gesunde Einstellung zu seinem Äusseren, während ein anderer in eine Essstörung rutscht? Welche Risikofaktoren führen zu einem ungesunden Essverhalten? Und welche Rolle spielen dabei die Eltern?

Häufigkeit von Essstörungen nimmt zu

Essstörungen sind in der westlichen Gesellschaft ein zunehmendes Problem. «Studien zeigen, dass sie in den letzten 20 Jahren zugenommen haben – das hat sich in der Corona-Pandemie noch einmal verstärkt», sagt Felicitas Forrer. «Das Gleiche gilt für Essstörungen bei Buben.» Einerseits werden Essstörungen heute besser erkannt, und vor allem jüngere Betroffene sind eher bereit, sich Hilfe zu suchen. Aber es gibt auch eine tatsächliche Zunahme. «Darüber hinaus beobachten wir Essstörungen bei immer jüngeren Kindern, bereits bei Zehn- bis Zwölfjährigen», so die Psychologin.

Weil Essstörungen als ‹Frauenkrankheit› gelten, ist das Thema für Buben sehr schambesetzt, so dass sie sich oft erst spät Hilfe suchen.

Dagmar Pauli, Kinder- und Jugendpsychiaterin

Etwa drei bis fünf Prozent der Menschen erkranken im Lauf ihres Lebens an einer Essstörung. «Am häufigsten beginnen diese im Alter von etwa 14 bis 20 Jahre, sind also eine typische Erkrankung des Jugend- und jungen Erwachsenenalters», sagt Forrer. «Ausserdem entwickeln weit mehr Jugendliche ein gestörtes Essverhalten, das nicht das Vollbild einer Essstörung erreicht.»

Zu den wichtigsten Essstörungen zählen die Magersucht oder Anorexie, die Bulimie und die Binge-Eating-Störung. Laut Studien sind etwa ein bis zwei Prozent der Mädchen und Buben sowie jungen Erwachsenen von einer Anorexie betroffen. Ein bis drei Prozent leiden an Bulimie und zwei bis vier Prozent entwickeln eine Binge-Eating-Störung. «Eine Anorexie beginnt am häufigsten mit etwa 14 bis 16 Jahren, eine Bulimie etwas später, mit etwa 17 bis 20 Jahren», sagt die Psychologin. Eine voll ausgeprägte Binge-Eating-Störung entwickle sich oft erst im jungen Erwachsenenalter.

Bei Buben kommen Essstörungen zwar seltener vor, aber sie können an den gleichen Formen erkranken wie Mädchen. «Weil Essstörungen als ‹Frauenkrankheit› gelten, ist das Thema für Buben sehr schambesetzt, so dass sie sich oft erst spät Hilfe suchen», sagt Dagmar Pauli. «Auch von Eltern oder Lehrpersonen wird die Essstörung oft nicht erkannt und daher häufig erst spät behandelt.»

Anorexie, Bulimie, Binge Eating

Magersüchtige Jugendliche empfinden sich als zu dick und kontrollieren permanent ihr Essverhalten. Manche treiben exzessiv Sport oder erbrechen, um Kalorien loszuwerden. Selbst bei sehr niedrigem Gewicht finden sie sich noch zu dick. Häufig kommt es zu körperlichen Folgen wie Haarausfall oder einem Ausbleiben der Periode. Ein sehr niedriges Gewicht kann lebensbedrohlich werden – dann gilt es schnell zu handeln. Eine Anorexie tritt bei Mädchen deutlich häufiger auf, nur etwa zehn Prozent der Betroffenen sind Buben.

Weil Nora mit ihrem Körper unzufrieden war, begann sie, intensiv Sport zu treiben. Die 16-Jährige setzte sich zum Ziel, sich gesund zu ernähren, wollte aber auch schlank sein und fing an, stark auf ihre Ernährung zu achten. Mit der Zeit entwickelte sie immer mehr Regeln, etwa, was und wann sie essen durfte und wie viel sie sich bewegen musste. Zugleich hatte sie panische Angst, zu viele Kalorien zu sich zu nehmen. Dadurch nahm sie in wenigen Monaten stark ab und entwickelte eine Anorexie.

Bis zu 80 Prozent der Jugendlichen mit einer Essstörung sind von einer weiteren psychischen Erkrankung betroffen.

Felicitas Forrer, Psychologin

Typisch für eine Bulimie sind Essattacken: Die Betroffenen verlieren die Kontrolle und essen extrem grosse Mengen auf einmal. Weil sie nicht zunehmen möchten, ergreifen sie Gegenmassnahmen: Sie erbrechen, nehmen Abführmittel oder treiben Sport bis zur Erschöpfung. «Häufig entsteht dann ein Teufelskreis», sagt Dagmar Pauli. «Die Jugendlichen essen eine Zeitlang bewusst wenig und entwickeln dann Heisshunger. Und der erhöht das Risiko für Essattacken.» Auch Buben können an einer Bulimie erkranken: Etwa 10 bis 20 Prozent der Betroffenen sind männlich.

Die Binge-Eating-Störung ist die häufigste Essstörung bei Jugendlichen. Auch hier treten Essanfälle auf, allerdings ohne Gegenmassnahmen. Daher nehmen die Betroffenen oft stark zu – und haben dadurch ein erhöhtes Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Diabetes. Von Binge Eating sind weibliche Jugendliche dreimal so häufig betroffen wie männliche.

In vielen Fällen treten die Symptome auch gemischt auf. Oder eine Essstörung geht in die andere über: So kann sich beispielsweise aus einer Magersucht eine Bulimie entwickeln. Was viele Eltern deutlich merken: Die Stimmung der Jugendlichen verschlechtert sich und sie ziehen sich immer mehr zurück. «Bis zu 80 Prozent der Jugendlichen mit einer Essstörung sind von einer weiteren psychischen Erkrankung betroffen», sagt Felicitas Forrer. «Am häufigsten sind dabei Ängste und Depressionen.»

Viele Betroffene haben Mühe, negative Gefühle auszuhalten und angemessen zu regulieren.

Felicitas Forrer, Psychologin

Vielschichtige Auslöser für Essstörungen

Damit eine Essstörung entsteht, müssen mehrere Faktoren zusammenkommen. «Dabei wirken gesellschaftliche Aspekte, individuelle Faktoren und Aspekte des sozialen Umfelds zusammen», sagt Psychotherapeutin Forrer. Neben dem Ideal, sehr schlank zu sein, spielt das Thema «gesunde Ernährung» in der Gesellschaft eine immer grössere Rolle. Gleichzeitig sind kalorienreiche, ungesunde Nahrungsmittel überall leicht verfügbar – ein Dilemma, das Stress erzeugt.

«Individuelle Merkmale, die eine Essstörung begünstigen können, sind ein geringes Selbstwertgefühl, eine starke Leistungsorientierung, zwanghaftes Verhalten und Perfektionismus», sagt Dagmar Pauli. «Starke psychische Belastungen, Mobbing oder sexueller Missbrauch erhöhen das Risiko, eine Essstörung zu entwickeln.»

Viele Betroffene haben Schwierigkeiten, negative Gefühle auszuhalten und angemessen zu regulieren. «Restriktives Essverhalten und Essanfälle können dann zu einer Strategie werden, um mit unangenehmen Gefühlen und Stress umzugehen», so Felicitas Forrer. Aber auch genetische Faktoren haben einen Einfluss. «Jugendliche, die früh in die Pubertät kommen oder eine biologische Veranlagung haben, schnell abzunehmen, sind stärker gefährdet», sagt Dagmar Pauli.

Auf Warnsignale achten

Welche konkreten Anzeichen deuten auf eine Essstörung hin? «Wenn ein Kind oder Jugendlicher Untergewicht hat oder schnell an Gewicht verliert, ohne bereits untergewichtig zu sein, ist das ein wichtiges Warnsignal», sagt Kinder- und Jugendpsychiaterin Dagmar Pauli. «Aufhorchen sollten Eltern auch, wenn ihr Kind Essattacken hat, bei denen es sehr grosse Mengen auf einmal isst, oder wenn es absichtlich erbricht. In diesen Fällen sollten sie sofort handeln.»

Wenn sich alles nur noch um Essen, Gewicht und Aussehen dreht, sollten Eltern genau hinschauen. (Bild: Deepol / Plainpicture)

Wenn ein Jugendlicher stark auf Kalorien achtet, gemeinsame Mahlzeiten auslässt, nur noch bestimmte Nahrungsmittel zu sich nimmt oder sehr langsam isst, kann das ebenfalls auf eine Essstörung hindeuten. «Charakteristisch ist, dass sich die Gedanken ständig um Essen, Gewicht und Aussehen drehen», sagt Dagmar Pauli. «Die Betroffenen fürchten nonstop, zu viel zu essen oder zu dick zu sein.» Ein weiteres Warnsignal ist, wenn ein Jugendlicher ständig und ohne Freude Sport macht oder überaktiv ist, um Gewicht zu verlieren.

«Eltern sollten daher bewusst hinschauen und auf ihr Bauchgefühl hören. Denn sie spüren oft genau, dass bei ihrem Kind etwas nicht stimmt», sagt Christine Jordi Bärtschi. Sie ist Ernährungsberaterin im Schweizerischen Verband der Ernährungsberater und -beraterinnen (SVDE) und in der Ernährungsberatung Oberaargau in Langenthal tätig.

Ernährungsberatung
Was passiert da?

«Bevor ein Jugendlicher eine Ernährungsberatung beginnt, ist immer eine Abklärung bei einem Arzt oder einer Ärztin notwendig», erläutert Ernährungsberaterin Christine Jordi Bärtschi. «Da wird das Gewicht erfasst und geprüft, ob körperliche Ursachen hinter den Gewichtsproblemen stecken.» Parallel zur Ernährungsberatung haben die Jugendlichen meist Termine bei einer Psychotherapeutin und beim Hausarzt – dabei stehen alle drei in engem Austausch.

«In der Ernährungsberatung geht es vor allem darum, das Angebot an Nahrungsmitteln wieder breiter zu machen, einen regelmässigen Essrhythmus zu etablieren und starre Regeln abzubauen», so Jordi Bärtschi. Wichtig sei dabei eine «Politik der kleinen Schritte» – denn zu grosse Veränderungen würden die Jugendlichen oft nicht durchhalten.

Wichtig sei auch, Informationen zu vermitteln, etwa, wie man von allen Nährstoffen genügend zu sich nehmen kann. Auch bei Buben mit Muskeldysmorphie geht es um Aufklärung. «Es muss klar sein, dass exzessives Training dem Körper nicht guttut und zu viele Proteine nichts bringen», so die Expertin.

Fachliche Unterstützung holen

Ist das Kind noch jünger, raten Experten Eltern, sich an eine Fachstelle, etwa einen Kinderarzt oder eine Kinderärztin, zu wenden. «Bis zum Alter von etwa 13 bis 14 Jahre können Mütter und Väter Regeln aufstellen und an ihnen festhalten, beispielsweise an gemeinsamen Mahlzeiten», sagt Dagmar Pauli.

Bei älteren Kindern sollten Eltern zunächst das Gespräch suchen und die Probleme, die sie wahrnehmen, offen ansprechen, sagt Christine Jordi Bärtschi. «Denn manche Eltern denken, das sei nur eine Phase, die wieder vorbeigehe. Andere scheuen sich, das Thema anzusprechen. Stattdessen sollten sie sagen, was sie beobachtet haben, und ihre Sorge zum Ausdruck bringen. Zugleich können sie ihr Kind fragen: ‹Wie geht es dir damit? Was sind die Gründe für dein Verhalten?›», so die Ernährungsberaterin.

Je früher professionelle Hilfe geholt wird, desto besser sind die Chancen, die Essstörung zu überwinden.

Dagmar Pauli, Kinder- und Jugendpsychiaterin

Es ist wichtig, die Hintergründe des Gewichtsverlusts rasch von einer Fachperson abklären zu lassen. Eltern können ihrem Sohn oder ihrer Tochter konkrete Anlaufstellen vorschlagen und anbieten, gemeinsam zu einem Arzt oder einer Beratungsstelle zu gehen. «Falls ein Jugendlicher sich weigert, sollten die Eltern darauf bestehen, dass er zumindest einmal eine Fachstelle aufsucht», betont Dagmar Pauli. «Damit lässt sich oft schon viel erreichen.»

Denn auch wenn manche Jugendliche oder ihre Eltern glauben, dass sie die Essstörung allein in den Griff bekommen – in Wirklichkeit ist das sehr schwer. «Je früher sie professionelle Unterstützung in Anspruch nehmen, desto besser sind die Chancen, die Essstörung zu überwinden», so die Expertin.

Adressen und Links

Ein langer Weg bis zur Behandlung

Bei vielen Jugendlichen dauert es lange, bis sie den Weg in eine Behandlung finden. Wie diese aussieht, hängt davon ab, welche Essstörung besteht und wie schwer sie ist. «Eine ambulante Behandlung ist sinnvoll, wenn die Essstörung eher leicht ausgeprägt ist. Häufig besteht sie aus einer Kombination von Psychotherapie, Ernährungs- und Gewichtsmanagement und ärztlichen Kontrollen», so Forrer. Bei schweren Essstörungen, die im ambulanten Setting nicht mehr aufgefangen werden können, sollte eine stationäre Behandlung in einer Fachklinik stattfinden. Das gelte zum Beispiel bei starkem Untergewicht, sagt die Expertin.

Ziel der Therapie bei einer Anorexie ist, dass die Jugendlichen wieder ein normales Gewicht erreichen und zu einem selbständigen Essverhalten zurückfinden, bei dem sie sich vielseitig und nach ihren Bedürfnissen ernähren. Jugendliche mit Bulimie oder Binge-Eating-Störung lernen, wie sie Heisshunger und Essanfälle, aber auch Gegenmassnahmen wie Erbrechen überwinden können. Dazu gehört, regelmässig und ausgewogen zu essen und konkrete Strategien zu lernen, um mit den Auslösern von Essanfällen umzugehen.

Bei der Behandlung sollten immer auch die Eltern in die Therapie einbezogen werden.

Felicitas Forrer, Psychologin

Felicitas Forrer rät, an den psychischen und sozialen Faktoren zu arbeiten, die zur Essstörung beigetragen haben, und das Selbstwertgefühl der Jugendlichen zu stärken. «Beispielsweise schauen wir in unserer psychotherapeutischen Praxis gemeinsam mit den Jugendlichen, wie sie den Einfluss von belastenden Gefühlen auf das Essverhalten vermindern können.» Voraussetzung dafür ist, dass sie sich eingestehen, dass sie eine Essstörung haben, und bereit sind, etwas zu verändern.

Die Rolle der Eltern bei Essstörungen

«Bei der Behandlung sollten immer auch die Eltern in die Therapie einbezogen werden. Sie sind bei einer Essstörung oft stark mitbelastet», sagt Forrer. «Wir laden sie zu Gesprächen ein und unterstützen sie dabei, auf geeignete Art mit der Essstörung umzugehen – und mit Konflikten, die daraus entstehen können.» So gebe es in den Familien oft viele Diskussionen ums Essen.

«Wir erarbeiten mit der Familie, wie sie aus solchen Konflikten und ungünstigen Verhaltensweisen aussteigen und wieder positive Beziehungsaspekte aufbauen können», sagt die Psychologin. Nicht zuletzt müsse auch sorgfältig abgeklärt werden, ob weitere Faktoren innerhalb der Familie zur Essstörung des Kindes beitragen.

Gesellschaft und Schule
Was müsste sich ändern, um Essstörungen früher zu erkennen?

Die Gesellschaft hat einen grossen Einfluss darauf, dass Essstörungen entstehen. Was müsste sich ändern, um krank machende Bedingungen zu verringern? «Aus meiner Sicht wären gesetzliche Regelungen wichtig, etwa ein Mindestgewicht für Models oder eine Kennzeichnung manipulierter Werbefotos», sagt die Medizinerin Dagmar Pauli. «Das hätte auch eine Signalwirkung, um das Schönheitsideal der Gesellschaft allmählich zu verändern.»

Massnahmen zum Thema «gesund leben» gibt es an Schulen bereits viele. «Der Fokus sollte aber nicht nur auf gesunder Ernährung liegen», betont die Expertin. «Vielmehr sollten ein entspannter, genussvoller Umgang mit Essen, ein positives Körperbild und Spass an der Bewegung vermittelt werden.»

Sinnvoll wäre auch, wenn alle, die viel mit Kindern und Jugendlichen zu tun haben, wie Lehrpersonen oder Sporttrainer, besser über das Thema Essstörungen informiert wären. «Sie sollten wissen, wie sie eine Essstörung früh erkennen und wie sie dann rechtzeitig reagieren können», erläutert Pauli. «Wichtig wäre, dass sie die Jugendlichen darauf ansprechen und auf geeignete Anlaufstellen hinweisen.»

Bei einer Anorexie werden die Eltern an der Psychotherapeutischen Praxisstelle auch in das Ernährungsmanagement einbezogen. Zu Beginn ist es wichtig, zu klären, wer in der Familie welche Aufgaben übernimmt. «In der ersten Therapiephase geben die Jugendlichen ihren Eltern den Auftrag, sie bei der Gewichtszunahme zu unterstützen. Die Eltern übernehmen in Absprache mit dem Behandlungsteam die Verantwortung für die Mahlzeitenplanung», betont Forrer. «Mit der Zeit lernen die Jugendlichen dann, wieder selbständiger Mahlzeiten zuzubereiten und zu essen.»

Für Nora war die Anorexie ein langer Weg durch verschiedene Behandlungen. Inzwischen hat sie wieder Normalgewicht und unternimmt Dinge, die ihr Spass machen. «Andere sagen, dass ich fröhlicher und lebhafter geworden bin», sagt sie. «Es wird sicher noch einige Zeit brauchen. Aber ich habe die Hoffnung, dass ich wieder ganz gesund werde.»

Christine Amrhein
ist Psychologin. Sie lebt und arbeitet als freie Wissenschaftsjournalistin in München.

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