«Unsere Tochter ist krank. Magersüchtig»

Lea* ist 14, als sie anfängt, ihr Gewicht zu kontrollieren. Mit 15 kann sie kaum noch essen, mit 16 fürchten die Eltern ihren Tod. Ihre Mutter erzählt von Leas Weg in die Magersucht, ihrem Kampf gegen die Krankheit und davon, was ihr letztlich in ein glückliches Leben zurückgeholfen hat.
Das Wichtigste zum Thema
Leas Mutter findet unter dem Bett ihrer Tochter Listen mit Kalorienangaben von verschiedenen Lebensmitteln. Doch das ist nur ein Anzeichen für die kommende Essstörung ihrer Tochter. «Die Portionen wurden immer kleiner, die Mahlzeiten zur Qual», so die Mutter. Der Weg zum Hungern als Sucht ist ein schleichender Prozess.
Die Mutter beschreibt mit bedrückenden Worten, wie die ganze Familie versucht, Lea aus ihrer Magersucht zu befreien. Auch die Lehrerin und Klassenkameraden machen sich Sorgen, versuchen Lea zum Essen zu animieren. Doch die Krankheit wird immer schlimmer und die Mutter fürchtet, dass ihr Kind vor ihren Augen stirbt. Schliesslich wird Lea stationär in einer Klinik aufgenommen.
Im vollständigen Text erzählt Leas Mutter, wie sie mit der Magersucht ihrer Tochter umgegangen ist, wie Lea schlussendlich wieder Lebensmut gefasst hat und was sie anderen Eltern als Tipp mitgeben möchte.
«Mama, ich möchte ein bisschen aufs Essen schauen», sagt sie. In der Biologie wird gerade die «Ernährungslehre» durchgenommen. Wir Eltern finden das gut – bewusst essen schadet nicht. Zuerst lässt Lea die Schokolade weg. Dann fängt sie an, Dinkelbrötchen für die Pause zu backen. Ganze Listen von Kalorientabellen finde ich später in ihrem Bett unter der Matratze.
Lea hat Liebeskummer. Sie möchte aber nicht darüber sprechen. Schliesslich ist es normal, dass sich ein Kind in diesem Alter langsam von den Eltern zurückzieht, sich ins Zimmer verzieht, weg vom Familientisch. Eine enge Freundin hat Lea nicht mehr. Nach dem Übertritt in die Bezirksschule ist für sie vieles nicht mehr so wie in der Primarschule. Dort hatte sie zwei Freundinnen, die auch in der Nachbarschaft wohnten. Alles war überschaubar, nicht so in der Bezirksschule mit über 700 Schülern.
WINTER 2009/2010
FRÜHLING 2010
Die Portionen werden immer kleiner, die Mahlzeiten zur Qual.
SOMMER 2010
Kurz vor den Sommerferien nehmen wir mit dem Schulsozialarbeiter Kontakt auf. «Ich will mir Mühe geben», verspricht sie uns und packt zu meiner Beruhigung ein extragrosses Pausenbrot ein – essen tut sie es nicht.
In den Sommerferien fährt sie zwei Wochen ins Blauringlager. Dort eskaliert die Situation. Lea isst nichts mehr, nimmt in dieser Zeit vier Kilo ab. Als ich auf der Lager-Homepage meine Tochter abgebildet sehe – abgemagert, mit ihren dünnen Armen und Beinen –, komme ich endlich zur Einsicht: Unsere Tochter ist krank. Magersüchtig. Nach ihrer Rückkehr vereinbare ich einen Termin bei der Gynäkologin. Die Ärztin spricht Klartext mit Lea. Sie weist sie auf die schweren Folgen einer Magersucht hin und warnt sie, dass sie sich die Zukunft verbaue, falls sie ihr Essverhalten nicht ändere. Es sieht so aus, als ob Lea verstanden hat. Wir sind erleichtert. Um unsere Tochter nicht nur körperlich, sondern auch psychologisch zu betreuen, erhalten wir beim Kinder- und Jugendpsychologischen Dienst (KJPD) einen Termin für ein Gespräch mit einer Psychologin. Auch das entlastet uns.

HERBST 2010
Die Psychologin stellt uns eine Spital-Wohngruppe für junge Frauen mit Essstörungen vor. Doch wenige Tage später wird Lea notfallmässig in dieses Spital eingeliefert. Ihr körperlicher Zustand hat sich noch einmal dramatisch verschlechtert. Sie möchte essen, kann aber nicht mehr. Sie wiegt 36 Kilo, wird schwächer und schwächer. Unsere Tochter wird mit Geräten überwacht. Es folgen Gespräche mit Psychologen und einem erfahrenen Arzt. Endlich können wir mit einem Profi sprechen, der uns versteht. Er erklärt uns, dass es sich bei Anorexie (Magersucht) um eine sehr ernst zu nehmende Krankheit handle. Rund ein Drittel der Betroffenen sterbe daran, ein Drittel lebe mit der Essstörung und nur ein Drittel werde geheilt.
Lea unterschreibt einen Vertrag, in welchem sie sich bereit erklärt, eine vorgeschriebene wöchentliche Gewichtszunahme anzustreben. Der abrupte Eintritt in die Klinik ist für uns als Familie sehr einschneidend. Ohne Vorbereitungszeit müssen wir unsere Tochter von heute auf morgen loslassen, Kathrin hat ebenfalls plötzlich ihre Schwester «verloren». Trotzdem sind wir froh, dass die Verantwortung nicht mehr in erster Linie bei uns liegt. Uns ist bewusst, dass wir unserer Tochter zu nahe stehen – ohne professionelle Hilfe geht es nicht mehr. Zu Hause kehrt etwas Ruhe ein. Endlich kann ich kochen, was ich will, und es gibt keine Diskussionen mehr.
Endlich komme ich zur Einsicht: Unsere Tochter ist krank. Magersüchtig.
WINTER 2010/11
Gleichzeitig geht sie in die Klinik zur Gesprächstherapie und fängt wieder mit der Schule an, eine Klasse tiefer, zu viel Stoff hat sie verpasst. Die Verantwortung rund ums Essen liegt nun wieder bei mir. Die Szenen am Tisch sind ähnlich wie vor Leas Klinikeintritt. Wieder kommen Gefühle der Ohnmacht, Wut, ja sogar Hass in mir hoch. «Sie müsste nur essen, dann wäre das Problem gelöst!» Davon bin ich überzeugt.
Lea geht wöchentlich zum Wiegen. Sie trinkt vor dem Arztbesuch bis zu 4 Liter Wasser und zieht trotz wärmeren Temperaturen viele Kleider an, um ihren Gewichtsverlust wettzumachen. Wir Eltern und die Ärztin stellen Lea zur Rede. Sie verspricht und lügt uns im selben Satz an. Es gibt Momente, da kennen wir unsere Tochter nicht mehr. Nein, sie ist nicht mehr unsere Tochter – dieses Mädchen tickt so komplett anders, hat nicht mehr das sanfte Wesen, die geerdete Art.
Glücklicherweise darf Lea noch im Spital bleiben, bis wir für sie einen geeigneten Platz gefunden haben. Nach zahlreichen Besprechungen mit Ärzten und Fachleuten finden wir für unsere Tochter einen Therapieplatz in einer psychiatrischen Klinik, etwa eine halbe Stunde von zu Hause entfernt. Einmal mehr heisst es Abschied nehmen. Zeitweise ist sie in der geschlossenen Abteilung.
WINTER 2011/12
Deshalb muss sie nach einem halben Jahr die Klinik verlassen. «Die Magersucht ist nach wie vor voll präsent», sagt mir die Psychiaterin am Telefon. Ab Januar 2012 wohnt sie wieder bei uns und geht in die Schule. Erneut muss sie die Klasse wechseln, wird dort aber gut aufgenommen. Sie beginnt mit einer ambulanten Therapie im Kompetenzzentrum für Essstörungen (KEA) in Zofingen.
Wir mussten Lea loslassen. Wir haben ihr gesagt, dass es nun an ihr liege, ob sie leben wolle oder nicht.
Wir sagen Lea, dass es nun an ihr liege, ob sie leben wolle oder nicht. Dass wir mit unseren Kräften am Ende seien und kaputt gehen würden, wenn wir uns nicht abgrenzten von ihr. Es ist knallhart, das alles umzusetzen. Es ist ein langer Weg. Heute weiss ich, dass es diesen Leidensweg brauchte. Wir Eltern mussten an unsere Grenzen kommen, sonst hätten wir Lea nicht loslassen können.

WINTER 2012/13
Winter 2015/16
Rückblickend habe ich das Gefühl, dass viele verschiedene Faktoren zu Leas Magersucht geführt haben. Sie fühlte sich in ihrer Klasse nicht integriert. Sie hatte keine richtige Freundin. Sie «hungerte» regelrecht nach Aufmerksamkeit, wollte doch auch zu den Schönen und Schlanken gehören, bei den Jungs gut ankommen. Ihr fehlte es vor allem in der Oberstufe an einem gesunden und guten Selbstbewusstsein, Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen. Die Angst vor der Zukunft machte sich breit, all die Fragen rund um die Berufswahl. Sie verglich sich auch ständig mit ihrer Schwester, die nach aussen alles viel lockerer nimmt und nicht so introvertiert ist wie Lea.
Es gab eine Zeit, in der ich mich als Mutter schuldig fühlte und mir Vorwürfe machte, dass es zu dieser schlimmen Krankheit kam und sich meine Tochter sozusagen fast zu Tode hungerte. Insbesondere fühlte ich mich schuldig, weil es seine Zeit dauerte, bis ich es wahrhaben wollte, dass meine Tochter magersüchtig ist. Fachpersonen sind sich einig und Studien belegen: Je früher man eine Magersucht behandelt, desto grösser sind die Heilungschancen. Rückblickend ist es einfacher, gewisse Feststellungen zu machen: Heute würde ich früher mit meiner Tochter den Arzt aufsuchen und die Essstörung thematisieren. Ich würde mir auch früher Hilfe bei einer Fachstelle holen.
Als Mutter fühlte ich mich hilflos, auch schuldig, dass sich meine Tochter fast zu Tode hungerte.
Wer mir in dieser schweren Zeit die grösste Stütze war? Mein Mann. Hand in Hand sind wir diesen Weg gegangen und haben uns gegenseitig unterstützt. Wenn es mir schlecht ging, hat er mich wieder aufgebaut. Wir durften auch auf liebe Menschen im Familien- und Freundeskreis zählen, die uns mit guten Gesprächen und viel Einfühlungsvermögen begleiteten, die ein offenes Ohr hatten und einfach da waren. Geblieben ist mir nach dieser Zeit eine grosse Dankbarkeit, dass Lea in ein normales Leben zurückgefunden hat und mit Freude den Alltag meistern kann.
* Alle Namen wurden von der Redaktion geändert.
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