«Wir haben verlernt, normale Körperformen schön zu finden»
Die Kinder- und Jugendpsychiaterin Dagmar Pauli warnt davor, mit Präventionskampagnen ausschliesslich auf die Vorbeugung von Übergewicht bei jungen Menschen zu setzen. Wichtiger wäre es, diesen generell ein gesundes Körperbild zu vermitteln. Die Chefärztin an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich über falsche Ideale, schlechte Vorbilder auf Instagram und Anzeichen, an denen Eltern eine beginnende Essstörung bei ihren Kindern erkennen.
Es ist der 24. April, wir sind mit Dagmar Pauli zum Interview verabredet. Das Gespräch ist seit Längerem geplant, dann kam der Lockdown. Auch die meisten Patientengespräche finden seitdem nicht mehr persönlich, sondern per Video statt, erzählt die Psychiaterin. Sie selbst habe sich damit am Anfang schwerergetan. Inzwischen habe sie aber viel dazugelernt und nutze jetzt häufiger Videotools, auch für Gespräche mit Kollegen. Das Interview findet zwar klassisch per Telefon statt. Doch unabhängig vom Medium wird dabei spürbar, dass der Psychiaterin das Thema Essstörungen wirklich am Herzen liegt.
Frau Pauli, wie viele Teenager sind hierzulande an einer Essstörung erkrankt?
Das ist schwer zu sagen, da wir von einer hohen Dunkelziffer ausgehen müssen. Belegt ist, dass etwa 5 Prozent der Menschen im Laufe ihres Lebens eine Essstörung entwickeln. Etwa 1 Prozent der jungen Frauen erkrankt an einer Magersucht, etwa 2 Prozent an einer Bulimie. Am häufigsten beginnen Essstörungen im Alter von 14 bis 16 Jahren, eine Bulimie meist im Alter von 17 bis 20 Jahren. Allerdings haben Essstörungen bei jüngeren Kindern in den letzten Jahren zugenommen.
Wie entsteht eine Essstörung?
Aus meiner Sicht kommt dem Umfeld eine wichtige Rolle zu. Dazu gehören übertriebene Schönheitsideale der Gesellschaft und Darstellungen extrem schlanker Models, die durch die Werbe- und Modebranche in den Medien verbreitet werden. Oder Fitness-Influencerinnen, die regelmässig berichten, wie viel Sport sie machen, was sie essen, und dabei Fotos posten, auf denen sie untergewichtig sind.
Und solche Bilder setzen sich in den Köpfen fest?
Genau. Dadurch haben wir verlernt, normale Körperformen schön zu finden. Bei vielen jungen Menschen löst das starke Selbstzweifel aus, weil sie sich ständig mit den unerreichbaren Idealen vergleichen. Eine Essstörung entsteht einerseits auf dem Nährboden gesellschaftlicher Bedingungen, andererseits hat sie immer auch mit der betroffenen Person selbst zu tun. Ein geringes Selbstwertgefühl oder sehr hohe Ansprüche an sich selbst, aber auch eine genetische Veranlagung sind zum Beispiel Faktoren, die zur Entstehung einer Essstörung beitragen können.
Welche Bedeutung haben die sozialen Medien?
Jugendliche sind in sozialen Medien wie Instagram ständig präsent und vergleichen sich dort mit anderen. Sie inszenieren sich auf Selfies und manipulieren diese oft mit Bildbearbeitungstools, um besonders schlank auszusehen oder die gewünschte Figur zu haben. Studien haben gezeigt, dass junge Frauen, die sich viel in sozialen Medien aufhalten und sich dort mit den Bildern extrem schlanker Vorbilder vergleichen, ihre eigene Figur weniger gut akzeptieren und sich weniger selbstbewusst fühlen als junge Frauen, die das nicht tun.
Warum sind Jugendliche anfällig für Ideale, die zu Essstörungen führen können?
Jugendliche orientieren sich stark an anderen, vor allem an Gleichaltrigen. Der Selbstwert wird oft am Aussehen festgemacht. Und häufig ist das Selbstwertgefühl in diesem Alter noch nicht so gefestigt. Berücksichtigt man den Einfluss der vorher genannten Aspekte, überrascht es nicht, dass Jugendliche heute ein negativeres Körperbild haben als noch die Generation vor ihnen. Viele finden sich «falsch» oder «zu dick». Die Folge sind oft Probleme mit dem Selbstwert – und die machen anfälliger für Essstörungen.
Beim Thema Essstörungen denkt man zunächst an die Mädchen.
Mädchen erkranken etwa zehn Mal so häufig an einer Essstörung als Buben, bei den Essstörungen mit Essattacken sind es etwa fünf Mal so viele. Dieses Verhältnis bleibt bis ins Erwachsenenalter etwa gleich. Die Symptome sind bei Jungen und Mädchen ähnlich. Allerdings wird eine Essstörung bei Buben oft nicht bemerkt, weil man sie eher bei Mädchen vermutet. Buben wollen oft durch Training Muskeln aufbauen und möglichst wenig Körperfett haben. Werden sie darüber aufgeklärt, dass sie bei einem Training ohne ausreichende Kalorienzufuhr eher Muskeln ab- statt aufbauen, ist das für sie oft ein Aha-Erlebnis. Ob sie dann ihr Verhalten ändern können, hängt aber davon ab, wie tief sie schon in die Essstörung gerutscht sind.
Besorgniserregend ist, dass Essstörungen in immer jüngerem Alter auftreten.
Tatsächlich kommen häufiger als früher schon 11- oder 12-jährige Kinder zu uns in die Klinik. Einige sind sogar erst 8 oder 9 Jahre alt. Das hängt möglicherweise damit zusammen, dass die sozialen Medien immer früher genutzt werden. Und damit, dass die Kinder früher in die Pubertät kommen und sich dann stärker mit dem eigenen Körper beschäftigen.
Drei Formen von Essstörungen
- Bei der Anorexie oder Magersucht nehmen die Betroffenen stark ab, indem sie bewusst wenig essen und kalorienreiche Nahrungsmittel meiden. Manche treiben zudem exzessiv Sport oder erbrechen. Ausserdem haben die Betroffenen ein gestörtes Körperbild: Sie nehmen sich als dick wahr, auch wenn sie bereits sehr dünn sind. Typisch sind auch körperliche Symptome wie das Ausbleiben der Menstruation oder Haarausfall.
- Bei einer Bulimie kommt es zu Essattacken: Die Betroffenen verlieren die Kontrolle über die Nahrungsaufnahme und essen extrem grosse Mengen auf einmal. Anschliessend ergreifen sie «Gegenmassnahmen», um die Kalorien wieder loszuwerden: Sie erbrechen, nehmen Abführmittel oder treiben exzessiv Sport.
- Beim Binge Eating kommt es ebenfalls zu Essattacken, aber ohne Gegenmassnahmen wie Erbrechen oder exzessiven Sport.
Typisch ist, dass sich die Symptome der verschiedenen Formen häufig mischen oder abwechselnd auftreten. Am Anfang steht oft eine Magersucht, die später in eine Bulimie übergeht.