Nichts gehört mir mehr!
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Nichts gehört mir mehr!

Lesedauer: 4 Minuten

Das Leben mit Teenagern kommt bisweilen einer Enteignung gleich: Persönliches Eigentum – Fehlanzeige. Existiert im Leben einer Mutter nicht mehr. Ob Headset, Ladekabel, Fahrräder oder Pralinen, alles wird einem genommen.

Text: Andrea Müller
Bild: Adobe Stock

Jetzt kannst du ja auch dein Billo-Headset wiederhaben», sagt Ben. Denn er hat neue AirPods zu Weihnachten bekommen. Und so lange dieses sinnlos überteuerte Teenager-Must-Have, das ich ignorant weiterhin «EarPods» nenne, nicht wie das davor und das davor unter irgendwelchen S-Bahn-Sitzen oder in der endlosen Weite eines Ferienlagers verschwindet, gehört mein Billo-Headset also wieder mir. Hurra!

Alle sind froh darüber, dass Ben jetzt AirPods und ich meine Kopfhörer zurück habe: Passanten im Park müssen keinen französischen Hip-Hop mehr hören, wenn ich an ihnen vorbei walke, und meinen Kindern bleiben Laurie Pennys feministische Ausführungen erspart, während ich ihre Wäsche aufhänge.

Bei vielen Müttern tritt dieser Enteignungs-Effekt unmittelbar nach dem Geburt der Kinder ein. Zuerst nehmen sie uns das Sozialleben weg, dann das Durchstarten im Job, später unsere Freiheit und unsere Figur. Wenn sie grösser werden, nehmen sie sich unsere Headsets, Ladekabel und Fahrräder, Pralinen aus dem Wäscheschrank und unsere letzte Rücklage für angesagte Turnschuhe und Klassenfahrten. Spätestens als Teenager bedienen sie sich zuhause, frei nach Tina Turners Motto: «What you see ist what you get!»

Falls ihre Handschuhe gerade irgendwo unter der Schulbank gammeln: Da sind ja immer noch meine, die ich später einzeln oder wahlweise mit Loch zurückbekomme. Das gleiche gilt für Schals und Mützen, auf denen keine Blumen, nichts Rosa- oder Pinkfarbenes drauf ist, was implizieren könnte, dass es sich um «Mädchensachen» handelt. Meine neue Kaschmirmütze hatte ich rund fünfmal auf, ehe sie in den ewigen Jagdgründen des wilden Westens unserer Stadt verschwand. Leider war sie blau.

Badezimmerutensilien werden gerne als Allgemeingut betrachtet.

Bevor ich Kinder hatte gab es Dinge, die mir gehörten. In meiner TV-Fernbedienung und meinen Weihnachts-Lichterketten waren Batterien drin, ehe sie für ferngesteuerte Autos oder X-Box-Kontroller benötigt wurden. Ich hatte geheime Passwörter für mein PayPal-Konto, Apple-ID, Streaming-Anbieter, meine Zweit- und Dritt-Mail-Adressen.

Wenn ich heute in Folge eines Wutanfalls mal ein Passwort ändere, um eine bislang unbemerkte Abbuchung für ein laufendes Gaming-Abbo zu stoppen, vergesse ich natürlich das Neue, direkt nachdem ich es gesetzt habe! In solchen Situationen muss ich dann Caspar bitten, meinen verkorksten Account irgendwie wieder freizukriegen.

Menschenunwürdige Umstände

Vor ein paar Tagen lag eine leere Packung Wattepads auf der Badematte, neben der Toilette. «Was soll ich denn machen, wenn da kein Klopapier mehr ist!», meckert Ben, vorwurfsvoll. Als wäre dieser menschenunwürdige Umstand, den andere Kinder höchstens aus Fastfood-Restaurants oder von Flughafentoiletten kennen, ausgerechnet bei ihm zu Hause rein mütterlich bedingtes Versagen. Um eine neue Rolle Toiletten-Papier vom Badezimmer-Regal in die dafür vorgesehene Halterung zu bewegen, hätte er sich immerhin bücken müssen. Und zwar vor Erledigung seines grossen Geschäftes. Meine Makeup-Remover-Pads waren dagegen bequem im Sitzen erreichbar.

Überhaupt werden Badezimmerutensilien gerne als Allgemeingut betrachtet. Meine Marlies-Möller-Haarkur musste ich gerade voll verwässert vom Badewannenrand entsorgen, das Töpfchen stand dort ohne Deckel, die Kur war hinüber. Meine Frage: «Wer von Euch Kurzhaar-Tigern benutzt hier eigentlich meine teure Anti-Spliss-Kur?» Die Antwort beider, unisono: «Mein Bruder!»

Bin ich als Mutter also doch irgendwie Schuld, wenn ich die Unterschiede zwischen Dein und Mein nicht so richtig vermitteln konnte?

Nun besagt eine gesicherte, wissenschaftliche Erkenntnis, dass Eltern Lügen und anderes Fehlverhalten ihrer Kinder auf eigenes, pädagogisches Versagen zurückführen müssen. Bin ich als Mutter also doch irgendwie Schuld, wenn ich die Unterschiede zwischen Dein und Mein nicht so richtig vermitteln konnte?  

Neulich, als ich zum Brötchen holen Caspars coolen Daunenparka ausborgte, sagte er: «Also Mama, alle wissen doch, dass das meine Jacke ist…!»  Meint er mit alle jetzt die knapp zwei Millionen Einwohner unserer Stadt, alle seine Kumpels aus der Nachbarschaft, die mich beim Einkaufen sehen, oder alle drei Mitglieder unseres Haushalts? Vieles spricht jedenfalls dafür, dass in diesem Fall die Besitzverhältnisse klar definiert sind. Seins ist Seins. 

Das ist nicht etwa wie in einer sozialistischen Kolchose, wo allen alles gehört, sondern eher wie in einer Art Willkürherrschaft ohne Gemeinwohlorientierung, ja einer leicht abgewandelten Monarchie, worin zwei Monarchen das Souverän bilden. Ihnen gehört, was ihnen gehört. Und was mein ist, gehört ihnen auch. 

Eine Zeitlang führte mein Unmut darüber sogar so weit, dass ich Milchtüten mit einem letzten Schlückchen darin auf meiner Fensterbank hinter dem Vorhang bunkerte, um nicht schon wieder am nächsten Morgen eine leere Milchtüte im Kühlschrank vorzufinden. Ich mag keinen schwarzen Kaffee. Aber soll ich als Mutter jetzt Post-Its mit meinem Namen auf Lebensmittel kleben, so wie früher zu WG-Zeiten?

Als Teenagerin wusste ich genau, dass mein Zuhause kein All-Inclusive-Arrangement mit  Selbstbedienung war. Wenn ich eine Mozartkugel meiner Mutter aus der Packung im Nachttisch klaute (ich wusste, sie waren abgezählt!), habe ich sie einzeln vom Taschengeld nachgekauft und dann wieder in der leeren Kuhle drapiert. Eine Kugel kostete damals fast zwei Mark, so viel wie zwei Tafeln Schokolade oder 20 Brausestäbchen, man musste dafür extra in den nächsten Ort!

Dass geklaute Mozartkugeln oder Zigaretten absolut vertretbar sind, wurde mir erst Jahre später, an einem Abend bei einem gut betuchten Freund am Feenteich bewusst. Aus Angst vor Einbrechern bewahrte er Wertsachen und Bargeld in einem Safe in der Küche auf. In seinem unbeschädigten Safe fehlten 1000 Euro. Uhren, Schmuck, sowie der Grossteil des Geldes waren noch da. Sein 15-Jähriger schob die Tat auf Einbrecher, was er angesichts der Ängste seines Vaters total plausibel fand. Mein Freund war traurig: sein eigener Sohn, ein Dieb!

Ein paar Sekunden glaube ich an Diebstahl. Dann piept es, Ben hat eine WhatsApp geschrieben.

Ich wollte ihn trösten und sagte, der Bub habe lediglich einen Bruchteil des Geldes genommen, das er später sicher zurückgeben wollte! Dachte aber für mich, dass ich niemals Teenager haben werde, und wenn, dann sicher keine, die dein und mein nicht unterscheiden können. 

Kurz vor Weihnachten will ich trotz strömenden Regens auf mein E-Bike steigen, weil ich Bier und ein paar Nüsse für den Abend brauche. Aber wo ist mein Regencape? Und auch die Batterie, sonst immer an derselben Stelle, fehlt!

Mama soll chillen

Mist, denk ich noch, jetzt muss ich ohne Motor fahren, während ich im Hof nach meinem Fahrrad suche.  

Ein paar Sekunden glaube ich an Diebstahl. Dann piept es, Ben hat eine WhatsApp geschrieben: «Hab dein Fahrrad kurz ausgeliehen. Brauche jetzt dringend Süssigkeiten. Kannst aber chillen, Mama, habe deine EC-Karte…»

Okay, denk ich, solange er noch Possesivpronomen verwendet – und schreibe ihm  zurück: «Alles klar! Dann nehm ich halt deinen Roller und dein Taschengeld aus deinem Sparschwein. Ich brauch jetzt nämlich dringend Alkohol!»

Andrea Müller
ist Journalistin, lebt in Hamburg und hat zwei Teenager-Söhne, die sie (oft vergeblich) zu Nicht-Mackern zu erziehen versucht. In Bezug auf den Alltag mit ihren Kindern denkt sie nicht selten: Absurder könnte kein Hollywood-Autor das Leben einer Single-Mom erfinden.

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